Truth & Betrayal

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Z serii: Southern Boys #1
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»Warum?« Jake hatte den grauen Stein ungläubig angestarrt. Es war nur ein Felsbrocken.

Caleb hatte ihn hochgehoben und ihn beinahe ehrfürchtig auf die abgewetzte Stelle gesetzt. »Du sitzt auf dem Wishin‘ Seat. Alles, was du tun musst, ist, die Augen schließen und dir etwas wünschen und es geht in Erfüllung. Aber du musst daran glauben, wirklich daran glauben, denn wenn du es nicht tust, bekommst du nur einen tauben Arsch, weil du zu lange auf einem Fleck gesessen hast.« Jake hatte ihn mit offenem Mund angestarrt und Caleb hatte die Augen zusammengekniffen. »Und du wirst Mama oder Daddy nicht verraten, dass ich Arsch gesagt hab. Kapiert?«

Als hätte Jake Caleb verpfiffen. Er verehrte seinen Bruder. Jake legte sich eine Hand aufs Herz. »Ich schwöre, ich werde nichts verraten.«

Caleb hatte gelächelt. »Tja, na dann. Ich denke, es ist Zeit für deinen ersten Wunsch.«

Jake hatte die Augen geschlossen und mit der völligen Sicherheit eines siebenjährigen Jungen ganz genau gewusst, was er sich wünschen würde. »Sage ich dir, was ich mir gewünscht habe?«

»Oh Gott, nein. Das ist eine todsichere Art, einen Wunsch zu verschwenden. Du verrätst es niemandem, Murmelchen. Es ist dein Wunsch.«

Jake öffnete die Augen und warf Caleb einen bösen Blick zu. »Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht so nennen.«

Caleb lachte leise. »Awww, aber du bist mein kleines Murmeltier. Du bist so niedlich, wie du im Dreck unter der Veranda buddelst.«

Jake störte der Spitzname nicht wirklich. Er gab ihm das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

»Jetzt mach die Augen zu und wünsch dir was.«

Wieder schloss Jake die Augen, fest entschlossen zu glauben und seinen Wunsch in die Welt hinauszuschicken.

Ich möchte wie mein Bruder Caleb sein, wenn ich groß bin.

Und mir nichts, dir nichts, befand sich wieder Jake in der Gegenwart, seine Hand ruhte auf dem vertrauten Felsen. Tränen stiegen ihm in die Augen und er sah nur verschwommen, als er hinaufkletterte. Er saß auf dem kalten, harten Stein und schloss die Augen.

»Ich wünschte, du wärst hier, Caleb.«

Kaum hatte er den Wunsch geflüstert, brach die Realität über ihn herein und er stöhnte laut, als er diese innere, monotone Stimme hörte, die so unglaublich hoffnungslos war.

Es ist völlig egal, wie sehr du daran glaubst, das ist dir schon klar, oder? Caleb kommt nicht zurück.

Jake zog die Beine an, legte den Kopf auf die Arme und weinte hemmungslos, ließ sich von seinem Kummer überwältigen. Als seine Tränen schließlich versiegten, fühlte er sich schwach und ausgelaugt. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die Augen, dann hob er den Kopf und sah auf den Bach hinaus.

Was ihm in der Stille in den Sinn kam, war jedoch nicht sein Bruder, sondern Liam.

»Ich weiß nicht, wo du bist, Cal, und ich hab verdammt noch mal keine Ahnung, ob du mich hören kannst, aber ich hab heute versucht, das Richtige für dich zu tun. Ich schwöre, als ich ihn da gesehen hab – der Kerl hat vielleicht Nerven –, da wollte ich ihn plattmachen, ihn zu Brei schlagen.« Er schluckte. »Ich schätze, ich hab mir nicht genug Mühe gegeben.« Sein Versagen fühlte sich wie Verrat an und Jakes Brust zog sich zusammen. »Es tut mir leid. Ich hab dich enttäuscht. Ich verspreche, wenn ich jemals wieder die Chance bekomme, wird er nicht ohne Schläge davonkommen.«

Es fühlte sich wie ein Gelübde an, und das war für Jake in Ordnung.

Liam hatte ihm seinen Bruder gestohlen, und zwar, als Jake ihn am meisten brauchte. So oft war er in den letzten zwei, drei Jahren kurz davor gewesen, Caleb anzurufen, aber er hatte jedes Mal den Mut verloren. Die wenigen Male, als Caleb zu Besuch kam, hatte Jake sich danach gesehnt, ihn hierher mitzunehmen, zu ihrem geheimen Platz, mit der Absicht, ihm sein Herz auszuschütten…

Er hatte Calebs Rat so dringend gebraucht, und jetzt war es zu spät.

Und das war nur Liams Schuld. Es war Jake egal, dass er auf dem Friedhof vielleicht ein klitzekleines bisschen überreagiert hatte. Im Nachhinein war klar, dass er nicht logisch gedacht hatte. Aber jetzt? Zum Teufel, hinterher war man immer klüger.

Je mehr er über Liams plötzliches Erscheinen nachdachte, desto mehr trat sein Kummer in den Hintergrund, wurde durch die vertraute Wut ersetzt, die seit Calebs Tod allgegenwärtig war.

Damit konnte Jake umgehen. Wut war besser als Trauer. Und anders als zuvor hatte er jetzt ein Ziel für diese Wut.

Liam.

Kapitel 5

Es wurde Juni und die Temperaturen stiegen. Die helleren Abende wirkten sich allerdings nicht auf Jakes Stimmung aus. Er hatte sich noch nie so verloren gefühlt.

Alles hatte sich geändert.

Die Kirche war inzwischen beinahe Mamas neues Zuhause, so oft war sie dort. Mittlerweile kümmerte sie sich um den Blumenschmuck, besuchte diejenigen, die das Haus nicht verlassen konnten, und nahm an den zweimal in der Woche stattfindenden Gebetskreisen teil. Jake hatte das Gefühl, dass das weniger an einer neu entdeckten Hingabe an den Herrn lag, sondern eher daran, dass sie dadurch dem eigenen Haus fernbleiben konnte.

Dort lauerten zu viele Erinnerungen.

Sein Daddy verhielt sich genauso. Er und Jake waren am Montag nach der Beerdigung wieder zur Arbeit gegangen und was Jake betraf, war das okay. Sich zu beschäftigen, war das beste Mittel gegen seinen Kummer. Aber Daddy arbeitete länger. Er ließ Jake zur üblichen Zeit nach Hause gehen, während er blieb, um nur noch ein bisschen mehr zu tun.

Daraus wurden normalerweise mehrere Stunden.

Zuerst hatte Mama sich beschwert, aber aufgegeben, nachdem er das ein paar Tage durchgezogen hatte. Jake vermutete, dass sie wusste, was vor sich ging. Was ihn beunruhigte, war die Distanz zwischen den beiden.

Warum helfen sie sich nicht gegenseitig? Er hatte angenommen, dass sie sich mehr aufeinander stützen würden, aber sie schienen eher in zwei getrennten Blasen zu existieren. Diese Erkenntnis traf Jake mit der Wucht eines Vorschlaghammers an dem Abend, als Mama ihn zu Daddys Holzschuppen geschickt hatte, um ihn zum Essen zu rufen. Er war bis zu der verwitterten Tür gekommen, als er von drinnen ein Schluchzen gehört hatte.

Kein Kind sollte diese Laute von einem Elternteil hören. Jake hatte sich ins Haus zurückgezogen und seiner Mama eine vage Entschuldigung darüber aufgetischt, dass Daddy noch beschäftigt war. Sie hatte ihn angesehen, bis er überzeugt war, dass sie genau wusste, was los war, und schließlich genickt. Als Daddy eine halbe Stunde später auftauchte, wurde nicht darüber gesprochen.

Jake war sich nicht sicher, wie viel länger er das aushalten konnte. Seine Familie löste sich auf und er konnte es verdammt noch mal nicht aufhalten. Jake tat das Einzige, was ihm möglich war, um den Schmerz in seinem Herzen zu lindern. Er schaltete auf Autopilot und gab sein Bestes, um nicht zu denken, nicht zu fühlen. Er schleppte sich durch die Tage, konzentrierte sich darauf… zu existieren.

Langeweile wurde zu seinem Alltag, und das war völlig in Ordnung. Aus Tagen wurden Wochen und ehe er sich's versah stand der Juli vor der Tür.

Es war das Maßband seines Vaters, das alles veränderte.

»Jake, haben wir irgendwo ein Ersatzmaßband?«, rief Daddy, als er zur Tür hereinkam. »Ich hab meins gerade kaputt gemacht und keine Zeit, morgen vor der Arbeit im Laden vorbeizugehen.«

Von ihrem Sessel neben dem Kamin aus schaute Mama auf die Uhr und presste die Lippen zusammen. Dann stand sie auf und ging in die Küche. Sie und Jake hatten bereits gegessen, als klar wurde, dass Daddy nicht zu einer vernünftigen Uhrzeit nach Hause kommen würde.

Als Daddy das Wohnzimmer betrat, schaltete Jake den Fernseher aus, ohne seine Verärgerung zu verbergen. »Mehr hast du nicht zu sagen? Daddy, es ist neun Uhr. Du hast nicht mal angerufen und Mama gesagt, dass du später kommst.«

Daddy hatte immerhin den Anstand, rot zu werden. »Mist.« Er seufzte schwer. »Schätze, ich gehe besser da rein.« Er neigte den Kopf Richtung Tür. »Hat sie getobt?«

Jake sah ihn ungläubig an. »Überrascht dich das?« Es war eine seltsame Situation. Einen Moment lang waren ihre Rollen vertauscht und Jake kam es vor, als wäre er der Erwachsenere von ihnen beiden. »Vielleicht wäre ein Strauß von Mamas Lieblingsblumen eine gute Idee? Du weißt schon, um die Wogen zu glätten?«

Daddy nickte. »Ja, klingt gut. Ich besorge ihr morgen einen.« Seine Augen funkelten. »Na ja, du wirst die Blumen besorgen. Ich werde arbeiten.« Er hielt einen Finger hoch. »Lass dir das eine Lehre sein, Sohn. Stell dich mit Frauen immer gut. Macht auf lange Sicht alles einfacher. So was musst du wissen, denn eines Tages wirst du, so Gott will, selbst eine Frau haben.«

Jake wechselte das Thema. »Ja, irgendwo liegt noch ein Maßband rum. Warte kurz, ich find es schon.« Er stand vom Sofa auf und ging zur Kommode hinüber. In der oberen, mittleren Schublade sammelte Mama all den Kram, den sie im Haus so fand. Dort wurde alles aufbewahrt, was keinen eigenen Platz hatte, aber eines Tages nützlich sein könnte.

Er zog die Schublade auf und fand schnell das Maßband. Als Jake die Lade wieder schließen wollte, fiel ihm etwas ins Auge und sein Magen zog sich zusammen.

Es war Calebs Schlüsselring. Er stand stocksteif da, konnte den Blick nicht davon losreißen. Scheiße… Wie konnten wir das einfach… vergessen?

Er wusste natürlich, wie. Sich um solch praktische Dinge zu kümmern, bedeutete, an Caleb zu denken, und der Schmerz lag immer noch zu dicht unter der Oberfläche. Aber es war eindeutig an der Zeit, dass sich jemand mit diesen praktischen Aspekten beschäftigte.

Irgendwo in Atlanta hatte Caleb eine Wohnung gemietet, die keiner von ihnen je zu Gesicht bekommen hatte. Eine Wohnung, in der sich seine Kleidung und all seine Besitztümer befanden. Und diese Erkenntnis warf weitere Fragen auf. Ist die Miete überfällig? Denn das hatte Folgen. War sein Vermieter über seinen Tod informiert worden? Seine Bank? Warum hatte sich niemand gemeldet?

 

Jake schätze, es war Zeit, dass sie sich mit der Realität auseinandersetzten. Er nahm den Schlüsselring und schloss die Schublade.

Als er in die Küche kam, saß Daddy am Tisch und verputzte das Hühnchen mit Kohl, das Mama für ihn aufgehoben hatte. Mama saß neben ihm und nippte an einem Glas Tee. Jake zog einen Stuhl heraus und setzte sich zu ihnen.

»Es gibt was, über das wir reden müssen.« Bevor einer von ihnen antworten konnte, legte er den Schlüsselring vorsichtig vor sich auf den Tisch.

Mama stockte der Atem. »Ah ja.«

Daddy sah die Schlüssel resigniert an. »Ja, du hast recht. Ich hatte vor, mich um Calebs Wohnung zu kümmern, aber es kam immer was dazwischen.« Er legte Messer und Gabel hin und trank einen großen Schluck Tee. »Es hat keinen Sinn, es hinauszuzögern. Du musst mit deinem Pick-up hinfahren und seine Sachen holen.«

»Ich?«

Daddy zog die Augenbrauen hoch. »Tja, ich kann ja schlecht fahren, oder? Ich muss arbeiten. Abgesehen davon kannst du es an einem Tag schaffen. Nach Atlanta brauchst du nur vier Stunden. Ich komm einen Tag ohne dich zurecht.« Er lehnte sich zurück und riss das kleine Blatt vom Kalender an der Wand hinter ihm ab, dann streckte er sich noch ein bisschen nach dem Stift, der in einem Halter daneben befestigt war.

»Du musst seine Bankdaten herausfinden. Irgendwo werden Kontoauszüge rumliegen. Ich weiß, dass er ein Konto bei einer Bank in Atlanta hatte. Wir können bei der Firma anrufen, bei der er gearbeitet hat, und uns nach seinem Gehalt erkundigen. Wenn du Kisten brauchst, geh in den nächsten Supermarkt oder Schnapsladen, die haben hinten draußen immer welche aufgestapelt.« Daddy runzelte die Stirn und kritzelte etwas auf das Blatt Papier. »Ich hab das viel zu lange schleifen lassen. Hätt mich schon vor Wochen drum kümmern sollen, aber du weißt ja, wie es ist.«

Jake wusste es nur zu gut. Sich damit zu befassen, bedeutete, an Caleb zu denken und er konnte problemlos verstehen, warum keiner von ihnen darauf scharf gewesen war.

Mama legte ihm eine Hand auf den Arm. »Vielleicht ist es zu viel, um es an einem Tag zu erledigen. Wenn es nötig ist, kann Jacob sich für eine Nacht ein Hotel oder so suchen. Ich will nicht, dass er fährt, wenn er müde ist.« Sie sah Jacob in die Augen. »Hörst du, Jacob?« Sie presste die Lippen zusammen.

Man musste kein Genie sein, um zu wissen, was ihr durch den Kopf ging.

»Ja, Ma'am. Ich werde vorsichtig sein.«

»Das bist du besser.« Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. »In diesem Fall solltest du vielleicht jetzt ins Bett gehen. Du musst furchtbar früh aufstehen, wenn du möglichst viel erledigen willst. Ich packe dir ein paar Sandwiches und eine Flasche Eistee ein.«

Jake atmete erleichtert auf. Das war die Mama, die er vermisst hatte. »Danke, Mama.« Er stand auf, ging um den Tisch herum und küsste sie auf die Wange. »Nacht.«

Sie hob die Hand und umfasste sein Gesicht. »Unterhalt dich nicht die ganze Nacht am Handy mit deinen Freunden. Ich komm dich früh wecken.«

Jake war nicht in der Stimmung, mit jemandem zu chatten.

Nachdem er seinem Daddy gute Nacht gesagt hatte, verließ er die Küche und machte sich auf den Weg zu seinem Zimmer, blieb aber vor Calebs Tür stehen. Er war seit dessen Tod nicht mehr dort drin gewesen. Irgendwie fühlte es sich… falsch an. Jake war sicher, dass sich das ändern würde, aber im Moment würde die Tür geschlossen bleiben und seine Erinnerungen am Leben halten.

Jake trat sich mental in den Hintern. Reiß dich zusammen. Zumindest würde ihm der nächste Tag die Möglichkeit geben, ein bisschen mit der ganzen Sache abzuschließen. Vielleicht bestand sogar die Chance, dass es ihm dann besser gehen würde. Denn es ließ sich nicht leugnen.

Seit Calebs Tod fühlte Jake sich völlig leer.

Er putzte die Zähne, stieg ins Bett und lauschte im Dunkeln dem Zirpen der Grillen. Jake drehte sich auf die Seite und starrte die Wand an, die sein Zimmer von Calebs trennte.

Was würde ich dafür geben, noch einmal Calebs Stimme zu hören? Sein unterdrücktes Prusten, weil er mit Freunden gesprochen hat, wenn er eigentlich hätte schlafen sollen? Wie er dann verstummte, weil diese knarrende Bodendiele besser als ein Alarmsignal war. Oder wie er an der Wand kratzte und versuchte, mich davon zu überzeugen, dass es Mäuse sind, als ich noch klein war?

So viele Erinnerungen.

Jake umarmte sein Kissen, schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

***

Jake warf einen Blick auf sein Handy, das in der Konsole lag und am Ladekabel hing. Gott sei Dank, er war fast da. Normalerweise fuhr er nicht weiter als bis nach Knoxville, und das war nur fünfundvierzig Minuten von LaFollette entfernt. Er lachte leise.

»Nur vier Stunden, Daddy?« Er schätzte, für seinen Daddy war das nicht der Rede wert. Natürlich hatte Mama ihn um Viertel vor fünf geweckt, noch vor Sonnenaufgang, und er hatte immer noch gegähnt, als er um sechs in seinen Pick-up gestiegen war. Glücklicherweise konnte er die Fahrt überwiegend auf einem Highway hinter sich bringen, die I-75 S hatte ihn praktisch direkt bis Atlanta geführt. Er hatte einmal angehalten, weil er auf die Toilette musste, ansonsten war er durchgefahren, die Klimaanlage auf Frier dir die Eier ab-Einstellung, um gegen die Außentemperatur anzukämpfen. Er hatte, als er ein Publix entdeckte, beschlossen anzuhalten, alle Kisten einzuladen, die er finden konnte, und sie auf die Ladefläche des Pick-ups geworfen.

Piedmont Ave NE bedeutete, dass er nur noch fünf Minuten von seinem Ziel entfernt war, und er hatte noch den ganzen Tag zur Verfügung. Er spähte durch die Windschutzscheibe und seufzte erleichtert, als er das Straßenschild mit der Aufschrift Myrtle St. NE sah.

Geschafft.

Jake fuhr auf einen Parkplatz und stellte den Motor ab. Es war eine ruhige, von Bäumen gesäumte Straße. Er nahm das Handy vom Ladekabel, stieg aus und sperrte den Pick-up ab.

Schwarze Eisengeländer umgaben das zweistöckige Wohnhaus mit acht Einheiten, von denen jedes eine dunkelgrüne Tür hatte. Caleb hatte in Appartement acht gewohnt, vor dessen Eingang, mit Blick auf die Straße, zwei grüne Segeltuchstühle standen. Davor befand sich ein kleiner Vorgarten, ein breiter Streifen an der Seite war mit Blumen und Büschen bepflanzt.

Jake wünschte sich sehr, er hätte den Ort schon früher besuchen können.

Er stieg die schmiedeeiserne Treppe hinauf und ging den Gehweg entlang zur Tür mit der Nummer acht. Jakes Hände zitterten ein wenig, als er den Schlüssel aus der Tasche seiner Jeans zog, den passenden Schlüssel heraussuchte und ihn ins Schloss schob. Er hakte ein bisschen, also rüttelte Jake daran, bis er sich drehen ließ, dann stieß er die Tür auf und betrat die überraschend kühle Wohnung.

Er war kaum drinnen, als ihm klar wurde, dass er nicht allein war. Irgendwoher kamen Geräusche.

»Hallo?«, sagte er zögerlich. »Wer ist da?«

Eine Tür schwang auf, und –

Jake erstarrte. »Was zum Teufel machst du hier?«

Mit dem Telefon in der Hand starrte Liam ihn an. Nach einem Moment seufzte er. »Ich schätze, ich kann den Notruf abbrechen. Allerdings hätte mir klar sein müssen, dass jemand, der was klauen will, keinen Schlüssel hat.«

»Natürlich hab ich einen Schlüssel. Calebs Schlüssel. Und du hast mir immer noch nicht gesagt, was du hier tust.«

Jakes Herz raste.

Liam musterte ihn zurückhaltend. »Ich wohne hier. Caleb war mein Mitbewohner.« Seine Augen wurden groß. »Oh mein Gott, du hast es nicht gewusst.«

»Natürlich wusste ich es nicht. Keiner von uns wusste es, weil Caleb nie erwähnte, dass er einen Mitbewohner hat. Was genau war der Grund dafür?« Jake war immer noch durcheinander. Von allen Menschen…

Liam verzog das Gesicht. »Ja, das sieht ihm ähnlich«, murmelte er und legte das Telefon auf einen in der Nähe stehenden Tisch.

»Wie lange wohnst du schon hier?« Er musste erst vor Kurzem eingezogen sein, denn Jake konnte nicht glauben, dass Caleb das für sich behalten hätte.

Liam musterte ihn einen Moment, bevor er ins Innere der Wohnung deutete. »Wie wär's, wenn ich uns Tee einschenke und dann setzen wir uns hin und reden?«

Jake biss kurz die Zähne zusammen. »Na schön, aber du wirst derjenige sein, der den Großteil des Redens übernimmt.«

Denn Jake hatte definitiv jede Menge Fragen.

Kapitel 6

Jake folgte Liam in ein kleines Wohnzimmer. Eine Wand wurde von einer großen Couch eingenommen, der zwei Sessel gegenüberstanden, dazwischen ein Couchtisch. Das Zimmer machte einen eher spartanischen Eindruck. Nicht wirklich anheimelnd. Es gab noch ein hohes, schmales Bücherregal ohne Bücher und abgesehen vom Fernseher keine weiteren Möbel.

Das alles verbreitete die Atmosphäre einer eben erst bezogenen Wohnung, in der noch alles auszupacken war.

Liam deutete auf die Couch. »Bitte, setz dich. Ich hole den Tee. Gesüßt oder ungesüßt?«

»Süß, bitte.« Er wartete, bis Liam den Raum verlassen hatte, dann sah er sich um und nahm die Umgebung in sich auf. Es schien keine große Wohnung zu sein, aber er schätzte, dass der Platz für zwei Personen ausreichend war. Sein Blick fiel auf den Couchtisch und er hielt den Atem an. Dort lag ein Laptop, dessen dunkelgraue Farbe unter zahlreichen Aufklebern aller Art kaum zu erkennen war.

Oh mein Gott. Er hat das Ding immer noch benutzt? Jake hatte vermutet, dass der Laptop schon vor langer Zeit kaputtgegangen war.

Er zuckte zusammen, als Liam ein hohes Glas vor ihm abstellte. »Lieber Himmel!«

»Entschuldige. Ich hätte mich bemerkbar machen sollen. Du hast ausgesehen, als wärst du meilenweit entfernt.« Liam setzte sich Jake gegenüber auf einen der Sessel. Die Beine hatte er überkreuzt, sein rechter Arm ruhte auf seinem Oberschenkel, der linke auf der Sessellehne, in der Hand hielt er sein Glas.

Unbehagliches Schweigen breitete sich aus, was Jake nicht störte. Er war immer noch durcheinander, weil er beim Hereinkommen Liam vorgefunden hatte. Jake trank einen Schluck Tee und musterte den ihm gegenübersitzenden Mann verstohlen. Liams Augen waren von so dunklem Braun, dass sie beinahe schwarz erschienen, seine dunkelbraune Haut hatte einen kühlen Unterton. Über der vollen Oberlippe war die Andeutung eines Schnurrbarts zu erkennen, der zu den Stoppeln auf seinem Kinn passte. Sein kurz geschnittenes, an den Seiten nahezu rasiertes Haar war kraus, sah aber dennoch weich aus.

Er trug ein weißes T-Shirt mit einem tiefen Halsausschnitt, das an seinem schmalen Oberkörper klebte und breite Schultern und leicht definierte Oberarme enthüllte. Der violette Gips umschloss seinen rechten Unterarm vom Ellbogen bis über das Handgelenk hinaus. Die Finger seiner linken Hand, die er um das Glas geschlungen hatte, waren lang und schlank.

»Also, warst du schon mal in Atlanta?«

Jake blinzelte, dann errötete er und hoffte sehr, dass Liam nicht aufgefallen war, dass er ihn abgecheckt hatte. Dann wurden ihm Liams Worte bewusst und er starrte ihn ungläubig an. »Echt jetzt? Damit willst du anfangen? Na schön. Nein, ich bin zum ersten Mal hier. Ja, nach dem zu urteilen, was ich auf dem Weg hierher gesehen habe, ist es beeindruckend. Ja, das ist die größte Stadt, in der ich jemals war. Jetzt weißt du's. Sind wir jetzt durch mit dem Small Talk? Können wir uns auf die wichtigen Dinge konzentrieren?«

Liam nippte an seinem Tee, dann stellte er mit ungerührter Miene das Glas ab. »Wie wär's mit einem etwas höflicheren Verhalten? Denn ich finde, ich war bemerkenswert höflich, als du hier reingekommen bist, wenn man bedenkt, wie du mit mir gesprochen hast. Vergiss nicht, du bist gerade in mein Zuhause reinmarschiert.«

Jake verspannte sich bei der leichten Zurechtweisung, aber er wusste, dass Liam im Recht war. »Es tut mir leid.«

Liams Gesichtsausdruck wurde weicher. »Okay. Ich hatte angenommen, du wüsstest, dass Caleb einen Mitbewohner hatte. Es gab keinen Grund für ihn, das zu verschweigen.«

»Wie lange habt du und Caleb euch schon eine Wohnung geteilt?« Jake konnte es auch nicht verstehen. Dann dachte er darüber nach, dass Caleb nie darüber gesprochen hatte, wo er wohnte. Über seinen Job wussten sie nur, dass er für eine große Versicherungsgesellschaft arbeitete.

 

»Seit wir unseren Abschluss gemacht haben. Wir haben uns auf dem College kennengelernt. Als wir feststellten, dass wir beide hier einen Job suchen, machte es Sinn zusammenzuziehen.«

Vier Jahre? Jake runzelte die Stirn. Das ist verrückt. »Du bist nicht von hier?«

Liam schüttelte den Kopf. »Meine Familie lebt in Wilmington, in North Carolina.« Er beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien, seine linke Hand stützte die im Gips steckende rechte. »Schau, Jake… Ist es okay, wenn ich Jake sage? So hat Caleb dich immer genannt. Na ja, meistens.«

Jake starrte ihn an. »Und wie hat er mich sonst genannt?«

Liams Lippen zuckten. »Murmelchen. Er sagte, es ist die Abkürzung für –«

»Ja, ich weiß, wofür das die Abkürzung ist.« Als er den vertrauten Kosenamen hörte, wurde ihm die Brust eng, aber er war entschlossen, sich davon nicht aus der Bahn werfen zu lassen. »Du hast dich angehört, als hättest du etwas zu sagen.«

»Ja… Es geht um das, was du auf der Beerdigung zu mir gesagt hast.«

Jake verkrampfte sich. »Was ist damit?«

Liam saß ganz still da. »Gibst du mir wirklich die Schuld an dem, was passiert ist?«

Fuck. Jakes Kopfhaut prickelte und ihm drehte sich der Magen um. »Schau. Ich –«

Liam sprang auf und rieb sich mit der Hand über den Kopf. »Okay. Ich kann verstehen, dass du gerade eine Zielscheibe brauchst, aber vertrau mir, du zielst auf den Falschen. Ich hätte absolut nichts tun können, was den Ausgang der Ereignisse verändert hätte. Ich bin nicht unberechenbar gefahren, ich war aufmerksam… Und lass uns das Ganze mal einen Moment logisch betrachten. Wenn die Polizei gedacht hätte, dass ich in irgendeiner Weise verantwortlich wäre, dann hätten sie mich angeklagt, oder? Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann dem Kerl, der den Sattelzug beladen hat, denn er muss irgendwas getan oder unterlassen haben, dass die Ladung nicht ordentlich gesichert war.« Er schauderte. »Dieser Reifen kam geradewegs auf uns zu und wir konnten nicht ausweichen.« Liam ging zum Fenster hinüber und lehnte sich dagegen, presste die Stirn gegen das Glas.

Der Schmerz in Liams Stimme drang durch Jakes köchelnde Wut. Jake gab es nicht gerne zu, aber seine Worte ergaben Sinn, vor allem der Hinweis auf die Polizei. »Okay. Okay. Du hast recht.« Hatte er das tief in seinem Inneren nicht immer gewusst? Aber es war einfacher gewesen, die Logik zu ignorieren und sich auf den Vorwurf zu konzentrieren.

Erst als Jake versuchte, über seine eigene Wut hinauszusehen, erkannte er, dass er Liam gegenüber nicht fair gewesen war. Was lediglich dazu führte, dass er sich schämte.

Er musste das Richtige tun.

»Es tut mir leid. Ich hätte all diese Dinge nicht sagen sollen.« Jake rieb sich über die Nase. »Caleb sagte immer, dass ich sofort schieße und erst später Fragen stelle.«

Liam ging zu seinem Sessel zurück und setzte sich wieder. »Ich kann verstehen, warum du das alles gesagt hast. Wäre es mein Bruder gewesen? Zum Teufel, ich hätte genau das Gleiche getan.« Er streckte die linke Hand aus. »Sollen wir noch mal von vorn anfangen?«

Angesichts des Gifts, das Jake in seine Richtung verspritzt hatte, war es eine großherzige Geste. Er ergriff Liams ausgestreckte Hand und schüttelte sie unbeholfen. »Hallo. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Jake, und ich bin ein Arschloch. Manchmal.«

Liam lächelte. »Das darfst du sein. Du bist neunzehn. Und ich hatte durchaus ähnliche Momente.« Er räusperte sich, seine Miene wurde ernster. »Einer davon war, bei der Beerdigung aufzutauchen, ohne euch wissen zu lassen, dass ich komme. Andererseits hattet ihr keine Ahnung, wer ich überhaupt bin, also hätte das nur mehr Verwirrung verursacht.«

»Und das ist genau das, was ich nicht kapiere.« Jake runzelte die Stirn. »Wenn du und Caleb euch seit dem College kanntet, warum hat er dich nie erwähnt? Soll heißen, nicht ein einziges Mal.«

Liams Lippen wurden schmal. »Keine Ahnung. Also lass mich dich was fragen. Hat er jemals irgendjemanden aus Atlanta erwähnt, wenn er zu Besuch nach Hause kam? Hat er über irgendeinen Teil seines Lebens hier gesprochen?«

Jake drehte sich der Magen um. »Um ehrlich zu sein, hat er überhaupt nicht viel geredet. Und wenn er es tat, dann nie über persönliche Dinge.« Da war der vertraute Schmerz in seiner Brust und seine Glieder fühlten sich an wie Blei. »Ich denke, die Antwort ist nein. Es war, als wäre sein Leben hier ein einziges großes Geheimnis.« Seine Augen brannten. Seit wann hatte Caleb ihm etwas verheimlicht? Sicher, Jake hatte Geheimnisse, aber…

Jake hatte sich danach gesehnt, das eine, das ihn innerlich auffraß, mit ihm zu teilen, aber er hatte nie die Chance dazu bekommen. Er würde sein Herz sicher keinem seiner Freunde ausschütten. Caleb war der Einzige gewesen, dem er vertraut hätte, so zu reagieren, wie Jake es brauchte.

»Ich nehm an, du bist wegen Calebs Sachen gekommen?«

Jake begrüßte den Themenwechsel. »Ja. Ich hab Kisten im Pickup.« Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeug Caleb in der Wohnung hatte, aber er wollte alles so schnell wie möglich zusammenpacken und lange vor Einbruch der Dunkelheit auf dem Heimweg sein.

Liam stand auf. »Die wirst du nicht brauchen.« Als Jake ihn fragend ansah, bedeutete er ihm mit der linken Hand, ihm zu folgen. »Komm mit, ich zeig's dir.«

Jake folgte ihm durch die Wohnung und bemerkte die winzige Küche. Es gab kaum Arbeitsfläche und das bisschen, was vorhanden war, wurde von der Mikrowelle und der Kaffeemaschine in Anspruch genommen. In der Ecke stand ein Herd, dessen Edelstahloberflächen glänzten.

Liam folgte seinem Blick. »Keiner von uns war ein Ass in der Küche. Abgesehen vom Frühstück haben wir meistens auswärts gegessen.«

Jake musste lachen. »Das überrascht mich kein bisschen. Mama hat Caleb nicht in die Nähe ihrer Töpfe und Pfannen gelassen, nachdem er in einer irgendwas derart hatte anbrennen lassen, dass sie sie in den Müll werfen musste.« Hinter der Küche gab es nur drei Türen.

Liam deutete auf die offen stehende, die ihnen am nächsten war. »Das ist das Badezimmer, wenn man es so bezeichnen kann. Es ist winzig.« Die Tür daneben war geschlossen. »Mein Zimmer.« Er führte Jake zu der Tür, die noch übrig war, und stieß sie auf. »Das war Calebs Zimmer.«

Jake blinzelte. »Du hast seine Sachen schon eingepackt.« Unter dem Fenster stand ein Doppelbett ohne Bettzeug, darauf mehrere beschriftete Kisten. Die Wände waren kahl, der Tisch leer, darunter befanden sich weitere Boxen.

»Ja, ich wusste, irgendwann würde jemand auftauchen, um alles abzuholen. Aber ganz ehrlich, als ich Mitte Juni immer noch keinen Ton gehört hatte, beschloss ich, alles zusammenzupacken und nach Tennessee zu schicken.« Liam sah sich mit abwesendem Blick im Raum um. »Das hätte für das Wochenende auf meiner To-do-Liste gestanden.«

Er sah einen Moment lang so verloren aus, dass Jakes Herz ihm zuflog. Jake hatte seinen Bruder verloren und Liam einen Freund. Dann drehte sich Liam zu ihm um. »Brauchst du sonst noch was?«

Jake fiel die Liste seines Daddys wieder ein. Er zog sie aus der Tasche und schaute darauf. »Kontoauszüge. Mietunterlagen. Details über seinen Job.«

Liam deutete auf eine Box. »Da drin ist ein Ordner mit all seinen Kontoauszügen. Ich geh davon aus, dass sein letztes Gehalt und alles, was ihm eventuell sonst noch zustand, überwiesen wurde. Mach dir keine Gedanken wegen der Miete. Das ist erledigt. Im Grunde genommen ist alles, was ihn an Atlanta gebunden hat, beendet.« Er seufzte resigniert. »Soll ich dir helfen, den ganzen Kram zu deinem Pick-up zu bringen?«

»Das wär nett.« Jake lächelte. »Nachdem ich meinen Tee ausgetrunken hab.«

Liam schmunzelte. »Ja, entschuldige. Ehrlich, ich wollte dich nicht loswerden. Ich dachte nur, du hast noch eine lange Heimfahrt vor dir.« Er verließ das Schlafzimmer und Jake folgte ihm zurück ins Wohnzimmer. Als sie durch den Flur gingen, nahm Liam sein Handy vom Tisch. »Nur so ein Gedanke«, sagte er, als sie sich setzten. »Wie wäre es, wenn wir Nummern tauschen? Dann können wir uns miteinander in Verbindung setzen, wenn ihr etwas nicht finden könnt oder hier was auftaucht, das ich übersehen hab.«