Truth & Betrayal

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Z serii: Southern Boys #1
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Kapitel 3

»Wie spät isses?«, fragte Dan und sah in den Nachthimmel hinauf.

Jake kümmerte das längst nicht mehr. Sie hatten den Wodka ausgetrunken, dann noch zwei Sixpacks, die Dan mitgebracht hatte, und den Rest von Petes Gras geraucht. Er befand sich in dem Stadium, in dem sich die Welt etwa zwei Meter bewegte, wenn er den Kopf zwei Zentimeter drehte. Es war ein sonderbares Gefühl, aber Jake war es lieber als das, was er bei seiner Ankunft gefühlt hatte.

Pete kicherte. »Weißt du, wofür ich jetzt einen Mord begehen würde? Für Mamas buttertriefendes Maisbrot.«

Jake lachte schrill. »Himmel, das sagst du jedes Mal, wenn du high bist.« Er stupste Mikes Arm an. »Hast du Chips? Du weißt, wie er ist, wenn er Kohldampf kriegt.«

Mike schnaubte. »Er hat vor einer halben Stunde die letzte Tüte gefuttert.«

»Jake?« Dan starrte ihn über die ersterbenden Flammen des Lagerfeuers hinweg an. »Versprichst du, mir nicht den Kopf abzureißen, wenn ich dich was frage?«

Jake zuckte die Schultern. »Kommt drauf an. Probier's aus.«

»Gab es einen Grund, warum Cal nicht so oft nach Hause kommen wollte? Ich meine, sobald er aufs College ging, war er kaum mehr hier.« Dans Brauen zogen sich zusammen. »Ich frag, weil du nie über ihn sprichst. Fuck, ihr beide wart wie… wie…« Sein Stirnrunzeln wurde noch ausgeprägter.

»Wie Brüder, du besoffener Arsch?«, schlug Pete vor. »Und was fängst du jetzt von Caleb an? Bist du bescheuert? Sie begraben ihn morgen, um Himmels willen. Da hat Jake sicher keinen Bock, über ihn zu reden, gottverdammt.«

»Er hat sich verändert, okay?«, platzte Jake heraus.

Seine Freunde verstummten und das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Knistern des Feuers.

Jake nahm sich kurz Zeit, um tief durchzuatmen. »Er hat nich' mehr viel geredet. Ist mir die ersten paar Mal aufgefallen, als er uns besucht hat. Früher haben wir stundenlang über so ziemlich alles gequatscht, aber nachdem er erst mal weg war…« Caleb hatte keine Lust mehr gehabt, sich zu unterhalten. Wann immer Jake versucht hatte, mit ihm zu reden, schien Caleb unweigerlich eine Aufgabe für sie beide zu finden, die erledigt werden musste. Und nach Calebs Abschluss war es noch schlimmer geworden, als er verkündet hatte, dass er einen Job in Atlanta bekommen hatte. Jake hatte bei diesen seltenen Besuchen so verdammt dringend mit ihm reden wollen, aber jedes Mal hatte er das Gefühl, dass Caleb ihm aus dem Weg ging, und das hatte verdammt wehgetan.

Er wollte nicht an Caleb denken, geschweige denn über ihn reden.

Jake kam taumelnd auf die Füße und tastete in seiner Tasche nach den Schlüsseln. »Wisst ihr was? Ich geh heim.«

Pete blinzelte. »Willst du vielleicht jemanden anrufen, damit er dich abholt? Jemanden, der nüchtern ist?«

Jake schüttelte den Kopf und bereute das sofort, als der Hinterhof vor seinen Augen ins Schlingern geriet. »Ich pass auf.«

Mike stand ebenfalls auf. »Halt dich bloß ans Tempolimit. Du willst sicher nicht, dass ausgerechnet jetzt die Cops bei deinen Eltern anrufen.«

Das war ein äußerst ernüchternder Gedanke.

»Ich schaff das schon«, versicherte er ihnen. »Hab ja nur zehn Minuten zu fahren.« Zu seiner Überraschung umarmte Mike ihn fest.

»Wir kommen morgen, okay?« Seine Stimme wurde sanfter. »Wir sind für dich da, Jake.«

Jake wurde die Kehle eng. Er schaffte es, ein »Danke« zu krächzen. Bevor die anderen etwas sagen konnten, das die drohenden Tränen zum Überlaufen brachte, torkelte er über den Hof zum Tor, das zur Vorderseite des Hauses führte. Sobald er im Pick-up saß, fuhr er rückwärts aus der Einfahrt auf die ruhige, verlassene Straße.

Jake versuchte, sich auf die dunklen Straßen zu konzentrieren, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu Dans Frage zurück. Gab es einen Grund für Calebs ständige Abwesenheit? Es hatte keinen Streit zwischen ihm und ihren Eltern gegeben, zumindest keinen, von dem Jake wusste. Herrgott, Jake hatte sich hundertmal gefragt, ob er vielleicht etwas getan hatte, womit er seinen Bruder verärgert hatte, aber ihm war nichts eingefallen.

Was auch immer Calebs Gründe waren, er würde sie nie erfahren. Sie waren mit ihm gestorben.

Er dauerte eine oder zwei Sekunden, bis er erkannte, dass die blinkenden blauen Lichter im Rückspiegel ihm galten.

Oh fuck.

Jake fuhr auf der leeren Straße an den Bordstein und wartete dort, während der Streifenwagen hinter ihm anhielt. Diesmal bringt Daddy mich um. Eine Autotür wurde geöffnet und wieder geschlossen, dann ertönte das Geräusch von Stiefelabsätzen auf Asphalt, langsam und stetig. Seufzend kurbelte Jake das Fenster hinunter. »'n Abend, Officer.« Er atmete langsam und gleichmäßig, entschlossen, wenn irgend möglich einen Weg zu finden, sich aus diesem Schlamassel herauszumogeln.

Das Licht einer Taschenlampe blendete ihn kurz. »Führerschein, Ausweis und Versicherungsnachweis, bitte.« Die Stimme klang jung und vage vertraut.

Jake streckte die Hand zur Sonnenblende aus, wo er die Papiere aufbewahrte, und reichte sie hinaus. »Ich war nicht zu schnell, oder?« Er war sicher, dass er die fünfzig nicht überschritten hatte. Natürlich konnte er sich in seinem gegenwärtigen Zustand über nichts sicher sein. Er hätte ein Reh überfahren können und hätte es nicht bemerkt.

»Sie sind ein wenig unsicher gefahren.« Es folgte eine Pause. »Jacob?« Die Taschenlampe wurde gesenkt und der Polizist lehnte sich gegen den Türrahmen.

Jake starrte ihn an und dann fiel es ihm wieder ein. »Officer… Cox?« Warum musste ihn von allen Polizisten ausgerechnet einer der beiden anhalten, die bei ihnen zu Hause gewesen waren?

Der Polizist nickte. »Steig bitte aus.« Er öffnete die Tür für Jake, der vorsichtig ausstieg. Officer Cox musterte ihn. »Hast du getrunken?«

Jake biss sich auf die Lippe. »Ich hatte 'n paar Bier.«

Officer Cox zog die Augenbrauen hoch. »Ein paar?«

Ja, er glaubte ihm kein einziges verdammtes Wort.

Jakes Herz hämmerte. »Schauen Sie, wenn Sie mich festnehmen wollen, bitte, sagen Sie meiner Mama und meinem Daddy nix, okay? Sie haben schon genug um die Ohren.«

Officer Cox legte den Kopf schräg. »Morgen ist die Beerdigung, oder?«, fragte er leise.

Was zum Henker? Jake schluckte schwer. »Jepp.«

Cox nickte. »Ja. An deiner Stelle würde ich mich auch besaufen wollen.« Er hielt inne. »Caleb war an der Highschool ein paar Jahrgänge über mir. Ich erinnere mich an ihn.« Er seufzte. »Ich konnte an dem Tag, als wir zu euch gekommen sind, nichts sagen, aber…« Cox schaltete die Taschenlampe aus. »Okay, das wird jetzt so laufen: Sperr den Pick-up ab und ich bring dich nach Hause. Du kannst ihn morgen abholen. Er steht hier sicher genug.«

Panik stieg in ihm auf. »Aber –«

Cox hob eine Hand. »Entspann dich. Ich bringe dich nicht bis zur Haustür. Ich sorge nur dafür, dass du dort ankommst. Ich komme nicht mit rein.« Er sah Jake durchdringend an. »Aber wenn ich dich noch mal dabei erwische, dass du in diesem Zustand fährst, werde ich nicht so nachsichtig sein. Und lass deine Eltern dich nicht so sehen. Denn ja, das brauchen sie grad nicht.«

»Danke.« Jake wollte noch etwas sagen. Worte, die die Tiefe seiner Dankbarkeit ausdrückten, aber zu seinem Entsetzen liefen ihm stattdessen heiße Tränen über die Wangen.

»Hey.« Cox' Stimme war sanft. »Es ist okay, Jacob. Ich kann mir nur vorstellen, was du gerade durchmachst. Aber du musst morgen stark sein, um deiner Eltern willen.«

Jake wischte sich heftig mit dem Ärmel seiner Jacke über die Augen. Da weinte er wie ein gottverdammtes, rotznäsiges Kleinkind. »Ja.« Er hickste. »Und sagen Sie Jake. Nur meine Leute nennen mich Jacob. Danke noch mal.«

Cox tätschelte seinen Arm. »Wie ich schon sagte. Ich versteh's.« Er zögerte. »Schau, ich weiß, du kennst mich nicht, aber… die Trinkerei macht die Dinge ein bisschen leichter, das werde ich nicht leugnen. Ohne harten Alkohol hätte ich einige wirklich schreckliche Zeiten nicht überstanden. Aber… lass ihn nicht zu einer Krücke werden, das ist alles, was ich dazu sage. Und damit habe ich noch nicht mal erwähnt, dass du zu jung bist, um offiziell trinken zu dürfen. Ich versprech dir, es wird leichter.« Er griff in seine Brusttasche, zog einen Notizblock und einen Stift heraus, dann kritzelte er etwas auf ein Blatt. Cox riss es ab und reichte es Jake. »Hier ist meine Handynummer. Wenn du irgendwann jemanden zum Reden brauchst, nur um mal alles rauszulassen, dann bitte, ruf mich an, okay? Ich kann nicht versprechen, es weniger schlimm machen zu können, aber ich bin ein verdammt guter Zuhörer.« Er steckte den Notizblock und den Stift wieder in seine Tasche.

Jake schluckte und kämpfte gegen die Tränen an, die in den letzten drei Wochen so allgegenwärtig geworden waren.

Cox' Blick war voller Mitgefühl. »Ich weiß. Du musst nichts sagen, okay? Es ist nur für den Fall, dass du einen Freund brauchst. Jetzt bring ich dich heim – Jake.« Er klopfte ihm auf die Schulter.

Jake folgte ihm zum Streifenwagen und Cox deutete auf den Beifahrersitz. Sie fuhren ein paar Minuten schweigend dahin, dann hielt Cox an der Abzweigung zur Einfahrt. Jake zögerte einen Moment, bevor er ausstieg, sein Herz schlug wieder langsamer.

Cox räusperte sich. »Ich werde morgen übrigens auch da sein. Ich hab gefragt, ob ich hingehen kann.«

Das war genug, dass sich erneut Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten. »Danke.« Jake konnte es keine Sekunde länger ertragen. Er stieg aus und hastete die Einfahrt entlang, stolperte über den Schotter. Ihm war dunkel bewusst, dass der Streifenwagen wegfuhr, aber er schaute sich nicht um. Im Haus war alles dunkel, nur das Licht auf der Veranda brannte noch.

 

Sie haben das Licht für mich angelassen. Bei dem Gedanken wurde ihm warm. So verstohlen und leise er konnte, öffnete Jake die Tür und nahm sich die Zeit, sie ebenso behutsam wieder zu schließen. Er zog seine Sneakers aus und schlich durchs Haus, wobei er sich im Flur besonders vorsichtig bewegte und auf die eine Diele achtgab, die immer knarrte. Mama hatte einen leichten Schlaf.

Als er ohne Zwischenfälle in seinem Zimmer ankam, schloss Jake die Tür hinter sich, ließ sich bäuchlings auf das Bett fallen und vergrub das Gesicht in seinem Kissen.

Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass der nächste Tag der schlimmste aller Zeiten sein würde.

***

Reverend Hubberts Hände ruhten auf der Kanzel und er sprach mit leiser Stimme über Caleb, den Sohn und Bruder, Caleb, den Studenten, Caleb, den Sportler…

Jake wollte schreien. Aber du hast ihn nicht mal gekannt!

Die Kirche hinter ihm war voll. Abgesehen von den üblichen Gemeindemitgliedern waren viele Leute gekommen, die ungefähr in Calebs Alter waren, daher vermutete Jake, dass sie ihn von der Highschool kannten. Die meisten Absolventen aus LaFollette blieben in der Regel in der Gegend, arbeiteten in lokalen Betrieben oder Geschäften, oder – in manchen Fällen – wenig bis gar nicht. Manche gingen tatsächlich auch aufs College, aber das war eine verschwindend kleine Minderheit. Mama und Daddy waren so stolz auf Caleb gewesen, als er sein Stipendium bekam. Sein Abschlussfoto hatte einen Ehrenplatz auf dem Kaminsims und Mama staubte es jede Woche gewissenhaft ab.

»Caleb war ein beliebter junger Mann, mit Sinn für Humor«, setzte Reverend Hubbert an. »Ein junger Mann, der den Herrn liebte. Und jetzt hat der Herr Caleb zu sich genommen. Lasst uns hoffen, dass auch wir eines Tages den Herrn sehen werden, soweit auch wir errettet wurden.«

Das war's. Jake hatte so viel Gesülze des Pfarrers über sich ergehen lassen, wie er ertragen konnte. Er hob die Hand und wartete, bis der Reverend ihn bemerkte und ihn erstaunt ansah. »Ja, Jacob?«

Er stand auf. »Ich möchte ein paar Worte über… über Caleb sagen.« Neben ihm schnappte seine Mama nach Luft, sagte aber nichts. Daddy schwieg, seine Blicke hingen an dem Sarg vor ihnen, der mit weißen Nelken, weißem Wintergrün und viel Grünzeug bedeckt war. Auf beiden Seiten des Sarges standen weitere Gestecke, eine Mischung aus weißen Rosen, Löwenmäulchen und blauem Rittersporn.

Der Priester räusperte sich und nickte dann. »Selbstverständlich«, sagte er in ehrerbietigem Tonfall.

Jake schob sich an seinen Eltern vorbei und ging nach vorne, seine Kehle zog sich zusammen, als er am Sarg vorbeikam. Er versuchte nicht daran zu denken, dass Caleb da drin lag. Caleb, den er nie wiedersehen würde.

Reverend Hubbert machte ihm Platz und Jake trat auf das hölzerne Podest. Er schaute auf die vielen Menschen hinunter und einen Moment lang verließ ihn der Mut.

Dann fiel sein Blick auf ein paar vertraute Gesichter. Pete, Dan und Mike saßen auf halber Höhe der rechten Seite des Kirchenschiffs, ihre Blicke waren auf ihn gerichtet. Pete nickte ihm ermutigend zu. Zwei Reihen hinter ihnen saß Officer Cox, der einen schwarzen Anzug trug. Auch er sah Jake an, voller Mitgefühl und Anteilnahme.

Ich schaffe das.

Jake holte tief Luft und umklammerte die Seiten der Kanzel. »Caleb war… großartig. Und ich bin mir sicher, ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Er konnte wirklich gut mit Menschen und wusste, wie er sie zum Lachen bringen konnte.« Als einige der jüngeren Trauernden nickten, löste sich die Enge in seiner Brust und das Atmen fiel Jake leichter. »Er war urkomisch, wenn er betrunken war.« Jake ignorierte das Keuchen seiner Mama. »Erinnert sich hier jemand daran, wie er sich ein Paar Flügel basteln wollte, damit er vom Dach der Schulturnhalle springen konnte?« Unterdrücktes Gelächter und Kichern drangen an seine Ohren und irgendjemand lachte laut auf. Jake lächelte. »Oder daran, wie er mit ein paar Freunden nackt im Ollis Creek baden ging?«

Der erstickte Laut, mit dem seine Mama darauf reagierte, war nicht zu überhören, aber Jake scherte sich nicht darum.

Er musterte die Kirchengemeinde und sah Lächeln, wo zuvor nur Kummer gewesen war.

»Ich weiß, wir trauern, aber wir müssen uns an die guten Zeiten erinnern.« Sein Magen zog sich zusammen. »Caleb war der beste Bruder, den man sich vorstellen kann, und solange er hier drin ist…« Er legte eine Hand auf sein Herz und die andere an seine Schläfe. »... solange ist er nicht wirklich weg. Klar, es wird Zeiten geben, wo ich mir wünschen werde, ich könnte mit meinem Bruder reden.« Stechender Schmerz schoss durch ihn hindurch. »Es gibt Dinge, die ungesagt bleiben, Dinge, die ich nie mit ihm teilen kann. Aber ich werde immer dankbar sein, dass ich ihn in meinem Leben haben durfte, auch wenn unsere gemeinsame Zeit abrupt beendet wurde.« Er unterdrückte gewaltsam die Tränen, die ihn zu überwältigen drohten. »Die Welt ist ein traurigerer Ort ohne ihn.«

Die Wahrheit in dieser letzten Aussage ließ ihn schließlich die Fassung verlieren und er seinen Gefühlen, die er so lange unterdrückt hatte, freien Lauf. »Das ist alles, was ich sagen möchte«, sagte er erstickt, bevor er von dem Podest taumelte. Er blieb beim Sarg stehen und legte seine Hand auf die lackierte Oberfläche. »Ich lieb dich, Bro«, flüsterte er.

Daddy stand von seinem Platz auf, kam zu ihm und legte den Arm um ihn. »Gut gemacht, Jacob«, sagte er leise. »Zeit, ihn gehen zu lassen, Sohn.« Er ließ ihn los und trat beiseite, damit Jake sich hinsetzen konnte. Mama weinte in ihr Taschentuch, aber sie streckte die Hand aus und griff nach Jakes.

Reverend Hubbert räusperte sich. »Danke, Jacob, für diese… von Herzen kommenden Worte. Und jetzt ist es an der Zeit, Caleb zu seinem letzten Ruheplatz zu begleiten, im sicheren Wissen, dass wir ihn an einem weitaus besseren Ort wiedersehen werden.« Alle standen auf und Daddy schloss sich den Sargträgern an, die den Sarg vorsichtig auf ihre Schultern hoben.

Jake folgte ihnen, Mamas Hand auf seinem Arm, als sie feierlich die Kirche verließen, um zuzusehen, wie der Sarg in den Leichenwagen geschoben wurde, der für Calebs letzte Reise bereitstand.

Sein Blick hing an dem mit Blumen bedeckten Sarg, bis sich die Türen schlossen und er ihn nicht mehr sehen konnte. Daddy kam zu ihnen, als sie in ein anderes Auto stiegen, um dem Leichenwagen zum Friedhof auf der anderen Seite der Stadt zu folgen.

Zeit, seinen Bruder gehen zu lassen.

Kapitel 4

Jake hielt die Hand seiner Mama fest umklammert, als der Sarg vorsichtig in das gähnende Loch in der Erde gesenkt wurde, dessen Ränder mit Rasenteppich verkleidet waren, wie er auch unter ihren Füßen und denen der anderen Trauernden ausgelegt war. Daddy stand neben ihnen, die Zähne zusammengebissen, als würde er sein Bestes geben, nicht in Tränen auszubrechen. Reverend Hubbert sprach erneut, aber dieses Mal blendete Jake ihn aus, richtete seine Aufmerksamkeit auf den Sarg, der aus seinem Blickfeld verschwand.

Sein kummervolles Herz war von Bedauern erfüllt.

Ich wollte dir so vieles sagen, Bro. Der Zeitpunkt war nie der richtige gewesen und in den seltenen Fällen, in denen er die Gelegenheit hätte nutzen können, hatte ihn der Mut verlassen. Als er zusah, wie sein Bruder langsam hinabgelassen wurde, fielen ihm die weisen Worte seines Grandpas ein.

Du bereust immer, etwas nicht getan zu haben.

Ja, Grandpa hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

Jake sah verstohlen zu seinen Eltern hinüber. Er konnte schwören, dass Mamas lockige Haare, die unter dem Hut herausschauten, grauer geworden waren. Sie hatte auch mehr Falten im Gesicht. Sein Daddy starrte in das Grab, seine Augen waren Calebs so ähnlich, aber es war, als würde er irgendwie ins Leere schauen.

Dann bemerkte er, dass Reverend Hubbert aufgehört hatte zu reden. Und noch viel wichtiger, etwas passierte. Jake musterte die Menschen, die am Grab standen, um herauszufinden, warum die Stille schlagartig beklemmend geworden war. Dann erklang Flüstern, wurde lauter, als die älteren Bürger ungeniert auf den äußeren Rand der Trauergemeinde deuteten.

Die Erklärung für dieses Verhalten war schockierend offensichtlich.

Ein Fremder stand ganz hinten in der Menge. Er trug ein schwarzes Jackett über einem am Hals offen stehenden weißen Hemd und eine schwarze Jeans. Was ihn hervorstechen ließ, war die Tatsache, dass er schwarz war. Ein einziges dunkles Gesicht in einem Meer von Weiß.

Jake hörte zu, während die Menschen um ihn herum ihre Vermutungen über das plötzliche Erscheinen des Fremden äußerten. Er konnte die Reaktionen nicht ganz verstehen, aber ihm war klar, warum seine Ankunft Aufsehen erregte. Mehr als achtundneunzig Prozent der Einwohner LaFollettes waren Weiße. Sein Blick fiel auf Pete, Dan und ein paar seiner anderen Freunde, die von den entschieden unchristlichen Kommentaren und dem Flüstern um sie herum unbeeindruckt zu sein schienen.

»Wer sind Sie?«, rief Mrs. Talbot, ihre nicht für ihren Feinsinn bekannte, unmittelbare Nachbarin, dem Fremden zu. »Dies ist eine private Zeremonie. Sie können hier nicht einfach reinspazieren.« Die Stimme der alten Dame brach.

Der Mann blieb stehen. »Es tut mir leid. Ich bin gekommen, um meinen Respekt zu erweisen, wie Sie alle sicherlich auch.« Seine volle, tiefe Stimme übertönte das Murmeln der Trauernden. Zögernd kam er näher, durchquerte vorsichtig die Menge, bis er beim Grab ankam. »Mein Name ist Liam Miller. Mein aufrichtiges Beileid. Ich wollte nicht stören. Ich bin hier, weil ich Caleb kannte«, erklärte er an Jake und seine Eltern gewandt.

Erst da bemerkte Jake, dass der rechte Arm des Mannes in einer schwarzen Schlinge steckte. Ein Gips, der einen Teil der Hand bedeckte, war sichtbar. Jake musterte ihn von Kopf bis Fuß. Liam sah gut aus, hatte hohe Wangenknochen und dunkelbraune Augen. Dann sah Jake genauer hin. Liam hatte ein paar Narben im Gesicht, die allem Anschein nach neueren Datums waren.

Gesichtsverletzungen. Möglicherweise ein gebrochener Arm.

Jake mochte nicht wie sein Bruder das College besucht haben, aber das hieß nicht, dass er dumm war. Ein eisiger Schauer überlief ihn, als ihm bewusst wurde, wer genau da vor ihm stand.

Scheiße, nein.

»Oh mein Gott. Sie… Sie sind der Fahrer.«

Liam blinzelte und seine Augen wurden groß. Dann fing er sich wieder. »Ja, ich hab das Auto gefahren. Ich wollte –«

Weiter war Jake nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Er konnte nur daran denken, dass der Mensch, der für Calebs Tod verantwortlich war, direkt vor ihm stand. Er ballte die Hände zu Fäusten, die Arme dicht an seine Seiten gepresst.

»Du hast ja vielleicht Nerven, hier aufzutauchen.« Die Worte kamen angespannt heraus, da er darum kämpfte, seine Wut im Zaum zu halten. »Hast du nicht schon genug getan? Warum zum Teufel sollten wir dich hier haben wollen? Es ist allein deine Schuld, dass Caleb tot ist, du Hurensohn!«

»Ich verstehe nicht.« Mamas Stimme zitterte. »Warum schreist du diesen Mann an? Was hat er getan?« Es war, als hätten Jakes wütende Worte sie aus den unergründlichen Tiefen ihrer Trauer aufgeschreckt.

»Er hat das Auto gefahren, das Caleb umgebracht hat, Mama.« Während er die Worte aussprach, wusste ein Teil von Jake, dass sie nicht wirklich der Wahrheit entsprachen, aber er hatte sich zu sehr hineingesteigert, um sich noch um Logik zu scheren. Alles, was er wusste, war, dass direkt vor ihm jemand stand, dem er die Schuld dafür geben konnte, dass Caleb nicht mehr da war und er war drauf und dran, seine Wut, seine Verzweiflung und seinen Kummer herauszulassen, alles, was sich während der vergangenen drei Wochen in ihm angestaut hatte.

Jake hatte endlich ein Ziel dafür und wollte jedes bisschen Zorn und Gehässigkeit, das er in sich hatte, daran auslassen.

Liam richtete sich auf. »Du weißt, dass das nicht wahr ist«, sagte er mit fester Stimme. »Es hätte an diesem Tag genauso gut ich sterben können. Caleb war zufällig in der Flugbahn dieses Reifens. Es gab nichts, was ich hätte tun können, um auszuweichen. Er kam direkt auf uns zu.«

»Aber du bist immer noch hier, und Caleb ist tot! Warum solltest du derjenige sein, der am Leben ist, und nicht er?«, schrie Jake, sich kaum bewusst, dass sein Daddy auf Liam zuging.

»Ich denke, du musst gehen, Junge«, sagte Daddy mit tiefer Stimme. »Denn es ist eindeutig, dass du hier nicht willkommen bist.« Zustimmendes Murmeln ging durch die Menge und mehrere Männer rückten näher, als die Stimmung bedrohlicher wurde.

 

Liam öffnete den Mund, offensichtlich, um zu protestieren, aber dann sah er sich um und seine Miene spannte sich an, als das Flüstern lauter wurde. Schließlich seufzte er tief. »Es tut mir leid, dass Sie so denken. Ich wollte mich nur von Caleb verabschieden, genau wie Sie. Aber ich schätze, ich kann Ihre Gefühle verstehen.«

»Es ist uns scheißegal, ob du das verstehst«, gab Jake zurück. »Wir wollen nur, dass du verschwindest. Sofort.« Es kümmerte ihn nicht mehr, dass er in Gegenwart seiner Mama fluchte. Er wollte nur, dass Liam aus seinem Blickfeld verschwand.

Liam nickte. »Dann… gehe ich.« Er drehte sich um und ging langsam durch die Menge, die ihm Platz machte. Jake konnte den Blick nicht von der sich entfernenden Gestalt lösen und erst als der Mann in ein wartendes Taxi stieg und davonfuhr, löste sich die Anspannung in Jakes verkrampfter Muskulatur. Er sackte zusammen, taumelte gegen seinen Daddy, der einen Arm um ihn legte und ihn stützte.

»Es ist okay, Sohn. Er ist weg. Es war richtig, ihm das zu sagen.« Daddy drückte ihm einen Kuss auf das Haar. »Und er hatte kein Recht, hier zu sein.«

Allmählich verstummten das Geschwätz und das Gemurmel und Reverend Hubbert übernahm einmal mehr die Kontrolle über das Geschehen. Nicht, dass noch viel zu tun blieb. Letzte Worte und ein Gebet wurden gesprochen und dann war es endlich vorbei und Caleb unter der Erde. Jake stand neben seinen Eltern, als die Trauernden an ihnen vorbeigingen und ihr Beileid aussprachen. Er bekam kaum ein Wort mit. Er konnte nur an Liam denken.

Ich hätte ihn nicht wegschicken sollen. Ich hätte ihn hierbehalten sollen, bis ich ihm jedes bisschen Kummer und Leid um die Ohren gehauen habe. Ich hätte ihn hierbehalten sollen, bis er endlich den Schmerz und die Qualen verstanden hat, die wir durchgemacht haben.

Aber es war zu spät. Jake hatte Liam entkommen lassen und das war wahrscheinlich die letzte Gelegenheit gewesen, die er je bekommen würde.

Sein Glück. Denn wenn ich Liam je wiedersehen sollte, wird er derjenige sein, der es bereut.

***

»Mama, hast du einen Moment Zeit?« Jake schloss die Küchentür hinter sich und die Stimmen aus dem Wohnzimmer wurden leiser. Mehrere Mitglieder der Kirchengemeinde und einige Nachbarn waren noch da, unterhielten sich, tranken Tee und aßen die Snacks, die nicht weniger zu werden schienen.

Sie sah von ihrer Beschäftigung auf; sie war dabei, noch mehr Sandwiches zu machen. »Brauchst du was?« Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, aber sie machte einen etwas lebendigeren Eindruck als noch am Morgen.

Er schmunzelte. »Ja. Ich muss hier raus. Ich wünschte, jemand würde deine Damen aus der Kirchengemeinde daran erinnern, dass ich neunzehn bin und es nicht angemessen ist, mich in die Wange zu kneifen.«

Seine humorvolle Bemerkung fand Anklang und sie lächelte. »So sind sie halt.«

Fast alle Besucher, die nach der Beerdigung zu ihnen nach Hause gekommen waren, waren im gleichen Alter wie seine Eltern oder älter. Seine und Calebs Freunde waren weggeblieben, wofür Jake vollstes Verständnis hatte. Es entsprach auch nicht seiner Vorstellung einer angenehmen Zeit, aber er hatte keine Wahl gehabt. Er hatte so lange er konnte durchgehalten, bevor er sich schließlich entschied, an die Güte seiner Mama zu appellieren.

»Also… Darf ich bitte gehen?«

Mama seufzte. »Du willst jetzt ausgehen?«

»Ist ja nicht so, als könnte ich hier irgendwas tun. Ich brauche einfach ein bisschen Zeit für mich.«

Sie sah ihn aus schmalen Augen an. »Wo willst du denn hin? Und wie lange? Denn wenn du wieder so spät hier angekrochen kommst wie vergangene Nacht, dann werden wir uns unterhalten müssen, Jacob John Greenwood. Und mach dir gar nicht erst die Mühe, mich darüber anzulügen, dein Daddy hat dich gehört, als du reingekommen bist.« Sie verzog das Gesicht. »Er war nur etwas nachsichtiger wegen… heute.«

Oh Scheiße. »Es tut mir leid, Mama. Ich hatte einfach die Zeit aus den Augen verloren, das ist alles. Und ich wollte nur eine Weile runter zum Bach. Nicht für lange, ich versprech's.« Er brauchte ein wenig Ruhe und die würde er zu Hause garantiert nicht bekommen.

Sie legte das Buttermesser weg und breitete die Arme aus. »Komm her.« Jake trat zu ihr, sie umarmte ihn und drückte ihre Wange gegen seine. »Ich weiß, dass das heute für keinen von uns leicht war. Abschied zu nehmen, ist nie leicht. Aber ich wollte dir sagen, was du während dem Gottesdienst gesagt hast… also, das war… wunderschön.« Sie ließ ihn los, ihre Lippen zuckten. »Abgesehen davon, dass du allen erzählt hast, dass Caleb nackt gebadet hat.«

»Glaub mir, Mama, das wussten sie schon.« LaFollette war eine kleine Stadt.

Sie warf ihm einen gespielt bösen Blick zu. »Nicht alle. Aber jetzt ganz bestimmt.« Mama küsste ihn auf die Wange. »Mach schon, verschwinde. Aber sei rechtzeitig zum Abendessen zurück.«

Jake biss sich auf die Lippe. »Wenn sie uns denn was übrig lassen.«

Das entlockte ihr ein Lachen. »Ich hab noch Makkaroni mit Käse in der Gefriertruhe. Ich denke, wir haben genug, um bis zur Endzeit durchzuhalten.« Sie nahm das Buttermesser in die Hand und machte sich wieder an die Arbeit. »Denk dran, was ich dir über spätes Nachhausekommen gesagt hab.«

Er wartete nicht darauf, dass sie ihre Meinung änderte, sondern schnappte sich seine Jacke vom Haken neben der Hintertür. Dann trat er auf die Veranda hinaus und atmete die frische, kühle Luft tief ein.

Gott sei Dank. In den letzten Stunden hatte er nur die Düfte verschiedener Parfüms eingeatmet, manche hatten stark nach Blumen gerochen, andere einfach nur intensiv. Dazu kam noch der berauschende Duft der Blumen, die Mama aus der Kirche mitgebracht hatte, daher hatte Jake es kaum gewagt, Luft zu holen.

Er ging zum Ende des Hofs, bückte sich und kroch durch die Lücke im Zaun, dann bahnte er sich seinen Weg durch das dichte, bis zu seinen Oberschenkeln reichende Gebüsch, das auf beiden Seiten des Baches wuchs. Er erinnerte sich, dass er sechs oder sieben gewesen war, als Caleb ihn zum ersten Mal hierhergebracht hatte.

Caleb, sein großer Bruder, der offiziell ein Teenager geworden war. Caleb, der vorangegangen war und Jake zum Lachen gebracht hatte, weil er mit einem imaginären Schwert auf das Gebüsch eingehackt hatte, als wären sie auf großer Abenteuerreise mitten in einem Dschungel.

Gott, es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen.

Jake kletterte über die Stämme der Bäume, die im Frühjahr umgestürzt waren, und blieb stehen, als er beim Bach ankam. Das Wasser vor ihm floss langsam, hatte sich an manchen Stellen zurückgezogen und dort, wo der Bach ausgetrocknet war, hart gewordenen Schlamm hinterlassen. Der Bach lag im Schatten, die Bäume bildeten einen Baldachin darüber, durch den nur hin und wieder Sonnenlicht fiel, das auf dem Wasser glitzerte. Wenn er nach links ging, würde der Weg an der Kläranlage von LaFollette vorbei verlaufen und schließlich zum Ollis Creek Trail werden, der zum Stausee führte. Rechts käme er zum Wishing Seat.

Über die Entscheidung musste Jake nicht weiter nachdenken. Er wandte sich nach rechts.

Er dachte an das erste Mal, als Caleb ihm den großen Felsen neben dem Bach gezeigt hatte. Es war nur ein gewöhnlicher Felsbrocken, aber so hatte Jake ihn nicht gesehen. Oh nein. Caleb hatte auf eine Stelle in der Nähe der Spitze gezeigt, wo der Stein verwittert war und eine Delle formte, die gerade groß genug war, um darin zu sitzen. Er hatte Jake mit gedämpfter Stimme gesagt, dass das ein magischer Ort war.

Jake konnte noch immer seine Stimme hören.

»Denk dran, du darfst Mama und Daddy nicht sagen, dass ich dir das gezeigt hab, klar? Das ist ein geheimer Platz.«