Ein Mann liest Zeitung

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Nein. Zum Gauführer wird Hermann Hutt nicht gehen. Aus diesen und jenen Gründen nicht. Damit ginge auch viel zu viel Zeit verloren. Wer weiß, was die Diplomaten inzwischen in Berlin treiben. Haben die Diplomaten nicht immer verdorben, was das Schwert erkämpfte?

Dann wird Hermann Hutt nach Berlin fahren. (Den Mann muss er haben und das Geld.) Er wird zu diesem amerikanischen Gesandten sagen: Herr, lassen Sie gefälligst Ihre dreckigen Hände aus dem Spiel. Hier stehe ich. Ein deutscher Mann. Und ich sage Ihnen, kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten und nicht um unsere. – Vielleicht ist der Gesandte ein Jude. Die Amerikaner sollen ja alle Juden sein. (So wie dieser Bürgermeister von New York, der Saujud.)

»Mann, sind Sie blödsinnig geworden?«, haut der Sturmbannführer mit der Hand auf den Tisch. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Na, ja. Im Grunde haben sie ja recht. Aber wir wollen doch von den Amerikanern eine Anleihe haben. Wissen Sie das nicht? (Der Jakob Goldschmidt, diese gottverdammte Judensau, soll die Verhandlungen führen, weil Schacht überall abgeblitzt ist. So ist das.) Hier heißt es: Maul halten und parieren. Verstanden? Und nun gehen Sie gefälligst ganz ruhig wieder nach Hause.«

Hermann Hutt geht wieder nach Hause. Aber nicht ruhig. Er hat schrecklichen Hunger. Wie immer, wenn er aufgeregt ist. Er isst Schweinskotelett mit grünen Bohnen. Das ist ihm nicht genug. Er lässt sich ein Beefsteak braten. Das isst er, ohne etwas dazu, nur mit sehr viel Senf. Er kann nicht begreifen, dass er wehrlos sein soll. Ein deutscher Mann gegen einen Amerikaner.

Dieser Helmut Hirsch soll erst 21 Jahre alt sein, sagen sie. Beinahe noch ein Junge. Das ist eine besondere Art. Hermann Hutt hat da die Vision, dass ihr Blut heller sei, als bei den älteren, völlig Erwachsenen. Als Fachmann würde er das bestätigen und er ist doch wahrscheinlich der Fachmann mit der größten Erfahrung auf der Welt. (Außer vielleicht in China, wo sie mit dem Schwert enthaupten. Gleich, wo sie einen erwischen. Manchmal mitten auf der Straße. Das ist nicht gut. Das ist gemeines Handwerk. Das ist keine Feier. Kein Rausch und keine Hochzeit.)

Und da will ihn dieser Fremde, dieser jüdische Indianer, um sein Fest bringen? Aber der Führer wird solche Eingriffe nicht dulden. Er aber, Hermann Hutt, kann garnichts machen, als nur in dem Sessel sitzen und in sich hinein giften. Ihm ist zu Mute wie einem, der langsam am Rost gebraten wird.

»Draußen ist die Frau vom Standartenführer Künneke und will ein halbes Kilo Fett haben«, kommt der Geselle in die Stube.

»Na, was geht das mich an?«

»Sie hatte nach der Fettkarte aber nur noch ein Viertel Kilo zu kriegen.«

»Wenn es aber die Frau Künneke ist?«

»Das habe ich auch gedacht. Aber es kann durchaus sein, dass das eine Falle ist. Und dann kommt eine Anzeige. Was weiß man denn heutzutage?«

Ja, was weiß man heutzutage? Da hängt die Existenz vielleicht davon ab, ob man einer Frau Standartenführerin ein Viertel Kilo Fett gibt, oder nicht. Und wenn man es ihr nicht gibt und beruft sich auf das allgemeine Wohl, dann beschwert sie sich vielleicht bei ihrem Mann und später bekommt man irgendeinen Stunk. Solche Sachen auch noch.

(»Ja, was stehen Sie denn da, sagen Sie doch lieber, was man machen soll«, herrscht er den Gesellen an. Aber der weiß doch nicht. Darum fragte er gerade.)

»Geben Sie es ihr. Geben Sie es ihr nicht. Machen Sie, was Sie wollen.«

»Aber auf Ihre Verantwortung.«

Natürlich auf seine Verantwortung. Alle haben es auf ihn abgesehen. (Da liegt auch noch die blödsinnige Zeitung, mit der das ganze Elend anfing. Die Menschen trampeln auf ihm herum. Und er trampelt auf der Zeitung herum.) Das ist ja nicht zum Aushalten. Am liebsten möchte er weinen. Draußen geht gerade die Frau Künneke aus dem Laden. Sie bedankt sich beim Gesellen und gibt ihm sogar die Hand. Vielleicht wird doch noch alles gut. Der Führer wird diesem Amerikaner sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Und Hermann Hutt erhält sein Recht. Den Mann unterm Beil für das Herz und das Geld für den Hass und die Rache.

Wirklich, das ist auch des Führers Ansicht, dass sich dieser Amerikaner zum Teufel scheren möge. Erstens, dieser Mann hat die Hand gegen ihn, den Führer erheben wollen. Zweitens, dieser Mann ist ein Judenlümmel und kein Amerikaner. Ebenso wenig, wie ein Jude Deutscher sein kann, kann er Amerikaner oder sonstwas sein, sondern nur ein Jude. Wenn das die Welt noch nicht begriffen hat, so ist es höchste Zeit, dass dieselbe es begreifen zu lernen alsbald in den Stand gesetzt werde. Drittens kann eine derartige provokatorische Einmischung weder in das deutsche Recht, das hier gesprochen hat, noch in die deutsche Souveränität, die innerhalb der Reichsgrenzen von jedermann, sei er wer er sei oder auch nicht sei, zu respektieren, geduldet werden …

So ist des Führers Meinung. Der sich der Ministerpräsident und General Göring vollinhaltlich anschließt. Der General begreift überhaupt nicht, warum man um ein solches Arschloch so viel Worte macht.

Der Minister und Doktor Goebbels kann nicht umhin, auf die öffentliche Meinung des Auslandes hinzuweisen. Der deutschen Presse hat er in dieser Sache weise Zurückhaltung auferlegt. Im Ausland hat sich einmal wieder die Ansicht gebildet: »Sie werden es nicht wagen.« Worauf man nur mit einem Lacher erwidern kann. Das ist schon oft die Meinung des Auslandes gewesen. Dann haben sie es gewagt. Und nichts ist geschehen. (Wer wagt, gewinnt zwar nicht immer, denn was ist mit so einem jüdischen Kopp denn schon zu gewinnen. Aber zu verlieren ist schließlich auch nichts.)

Nur der Reichsbankpräsident und Finanzchef Dr. Hjalmar Schacht hat Bedenken. Eine amerikanische Anleihe bekäme man im Augenblick so und so nicht. Nicht, weil Wallstreet nicht wolle, sondern weil sie im Augenblick garnicht könne. (Aber man habe drüben die öffentliche Meinung mit der Sache des Kardinals und mit dem La Guardia genugsam belastet.) Die heute abgelehnte Anleihe kann aber zu einer zugesagten von morgen werden.

(Wenn die Sache in Spanien jetzt richtig klappt, brauchen wir die Amerikaner überhaupt nicht mehr. Dann kriegen wir genug Erz, Eisen, Kupfer und alles, was wir wollen. Ist die Meinung des Generals. Werden wir bekommen?, bedenkt der Finanzmann. Hat nicht die London-City in Rio Tinto und anderweitig die Hand drin? Und kann sich die Hand von London-City nicht eines Tages da stärker erweisen, als die Abmachung mit der Deutschen Metall Aktiengesellschaft? Und wenn Herr von Schröder und Schröder-London die Sache dann nicht biegen können?)

So wird die Sache doch wohl zu kompliziert. Wegen eines Judenlümmels (der den Führer ermorden wollte) wird ja nicht die (ganze) internationale haute-finance (und Industrie) mobilgemacht. So bläst man keine Luftballons auf. Der Fall steht nicht weiter zur Erörterung. Der Amerikaner bekommt eine höfliche, eine sehr höfliche, aber bestimmte Ablehnung. Und fertig.

Der Schlächtermeister und Scharfrichter Hermann Hutt wird seinen Mann bekommen. Er hat es garnicht nötig, sich so aufzuregen, dass er so viel essen und Natron nehmen muss. Dass er nachts nicht schlafen kann und lotterig angezogen, mit offenem Kragen und ohne Schlips, mit Paletot und ohne Hut, durch die Straßen strolcht, durch Bordelle tost, dort baumwollene Handlungsgehilfen frei hält, damit sie seinem heiseren Grölen als Gesang applaudieren, und in spätester Nachtstunde vor einem Zeitungsgebäude herumlungert, um das erste Exemplar zu erstehen und nachzusehen, ob da etwas zum Fall Helmut Hirsch steht. Um Häuserblocks kreist er, so, wie seine Gedanken lustmörderisch kreisen. Könnte er sie aussprechen, welche grässliche Qual täte sich auf. Gespenstischer noch, als seine aschfahle, verlotterte Erscheinung, aus der ein aufgedunsenes Gesicht manchmal grinst und manchmal schamlos weint. Da steht er, im Schein der Laterne, an den eisernen Pfahl gelehnt, mit flatterndem Blick und fiebernden Händen die nassen, nach Petroleum riechenden Zeitungsseiten durchsuchend (eine Parodie des heiligen Sebastian). Und auch das ist, auch so ist ein Mensch, wenn die Schändlichkeit der Welt ihn dazu macht. Und nun kommt da ein humpelnder Verlumpter und bettelt ihn an. Dabei ballt er die Hand zur eisernen Faust und schlägt sie dem Bettler mitten ins Gesicht. Der fällt um und bleibt liegen. Hermann Hutts Gespenst aber trollt sich stolpernd nach Hause. Denn wieder stand nichts in der Zeitung.

Den Mann und das Geld, das Geld und den Mann, das Geld den Mann, den Mann, den Mann, das Geld.

Mal kriechen die Stunden, mal stolpern sie, mal sind sie weg (hast du nicht gesehen). Eines Nachts kommt Hutt nach Hause, Hass im Hirn und mörderische Vorstellungen und Dunst vom Alkoholfusel. Eine Salamiwurst nimmt er aus dem Laden mit. Schneidet mit dem Taschenmesser grobe Klötze ab und schlingt die schmatzend herunter. Dabei fängt er an, sich im Wohnzimmer auszukleiden. Erst das Jackett und dann die Weste, die mitten im Zimmer auf dem Boden liegen bleiben. Dann den einen Stiefel, den hält er in der Hand und weiß nicht, was er will. Soll er den Stiefel in die Lampe schmeißen? Da fällt sein Blick auf einen Fleck auf dem Schreibtisch. Ein viereckiger Fleck. Ein geschlossenes Telegramm. Er kann es nicht aufmachen, der Stiefel ist dazwischen. Verdammter Stiefel. Jetzt reißt er’s auf. Das Telegramm. Das Telegramm. Er fängt an zu tanzen, rund um den Ledersessel. Mit einem gestiefelten Fuß und einem in der wollenen Socke mit einem Loch an der Hacke. Morgen früh muss er fahren. Nein, es ist ja schon morgen. Heute früh muss er reisen. Und am nächsten früh um sechs Uhr wird Helmut Hirschs Hinrichtung sein. Ein Bär tanzt um den Sessel, immer ein harter und ein dumpfer Tritt. Ein Bär, mit einem Beil in den Tatzen. Er hat seinen Mann und er kriegt sein Geld. Und der Tanzbär frisst das letzte, große Stück Salamiwurst auch noch auf

 

*

Den einfachen, durchschnittlichen Mann Leonhard Glanz ging freilich das Schicksal des einundzwanzigjährigen, zum Tode verurteilten Mannes auch an. Es ging ihn an, oder eigentlich kroch es ihn an. Er hatte in diesen Tagen mit diesen und jenen darüber gesprochen. Mit Leuten, die auch Emigranten waren. Er kannte sie von früher her nicht und sie nicht ihn. Seltsam, dass man einander gefunden hatte. Da war einer und der andere, der ihm erzählte, dass er jetzt hier mit Papierwaren und Bleistiften zu handeln versuchte, oder mit Krawatten. Ja, was soll man machen. Was man von Emigrantenkomitee bekommt, das reicht so eben für die Miete. Dann sei da der Pastor von den amerikanischen Quäkern, von dem man gelegentlich etwas bekommen könne. Aber das sei unregelmäßig und die Anderen kämen einem oft zuvor, die es früher wüssten, und man ginge leer aus. Da sei auch das Bankhaus Taschermak, zu dem man gehen könne, da bekäme jeder einen einmaligen Betrag. Aber nur einmal. Sie führen genau Liste. Und der Krawattenverkauf ist schlecht. Vom Büro zu Büro. Die Chefs lassen sich meist nicht sprechen und mit den Angestellten lohnt es sich nicht. Die Börse muss erst wieder besser werden. Was sind das für Leute, solche Emigranten. Jeder betont, dass es ihm früher besser gegangen sei. Sehr viel besser. Der Fall Helmut Hirsch? Ach so. Der. Ja. Warum war der so dumm? Das mit den Höllenmaschinen? Nein, das glaube ich nicht. Aber warum war der so dumm und ist freiwillig nach Deutschland gegangen?

Nein. Zu dieser Art von Emigranten fühlte sich Leonhard Glanz nicht hingezogen. Im Gegenteil. Gewiss, früher mögen sie anders gewesen sein. Wer weiß denn, wie rasch man abrutscht.

Dann sind da andere Emigranten. Zu denen hat Leonhard Glanz keine rechten Beziehungen. Sie sind so einsilbig. Von ihren wirtschaftlichen Bedingungen reden sie nicht. Obwohl man es ihnen ansieht, dass es ihnen hart ergeht. Wovon reden sie? Sie lassen ihn, Leonhard Glanz, erzählen. Seiner üblen und existenzvernichtenden Geschichte messen sie keine besondere Bedeutung bei, bringen nur ein karges Bedauern auf, tun es mit einem Witz ab. Humor in Ehren, aber für diese Art von Witz bringt Leonhard Glanz kein rechtes Verständnis auf. Manchmal stellen sie Fragen an ihn, auf die er garnicht zu antworten weiß. Wie die Stimmung der Werftarbeiter in Hamburg sei, da er doch aus Hamburg komme. Ja, da weiß er nichts. Er erzählt lieber von den neuesten Erpressungen an Juden, das aber wollen sie nicht wissen. Sie meinen, darauf allein käme es nicht an. Aber das Hemd ist einem doch näher als die Hose. Eben darum, meinen sie. Und was die Arbeiter gesagt hätten, dass die Vertrauensrat-Wahlen einfach suspendiert worden sein? Wieso? Sind sie das? Leonhard Glanz weiß garnicht, wie das mit den Vertrauensräten überhaupt ist.

Helmut Hirsch? Ja. Den werden sie drüben wohl hinrichten. Glauben Sie, wo man doch international … Ja, ich glaube trotzdem. Kannten Sie diesen Helmut Hirsch, er soll doch zuletzt hier gewesen sein? Nein – Wissen Sie da sonst etwas Näheres? Nein, garnichts.

Leonhard Glanz glaubt nicht, dass dieser Mann garnichts Näheres wisse. Gestern Abend hat er gehört, wie dieser Mann sich mit jemandem am Nebentisch unterhielt, und da schien er über alles sehr informiert zu sein, nach den wenigen Worten zu schließen, die Leonhard Glanz aufschnappen konnte. Und so ist er nicht gewillt, sich so abspeisen zu lassen.

»Sagen Sie, werter Herr, warum sind Sie so misstrauisch zu mir?«

»Ich kenne sie ja garnicht.«

»Aber ich habe Ihnen ja erzählt, wer ich bin.«

»Haben Sie? Na, dann habe ich es wieder vergessen. Man muss nicht alles wissen. Sehen Sie, ich sehe ihnen an der Nasenspitze an, dass Sie ein anständiger Mensch sind. Aber ich kann mich auch irren. Nicht wahr? Vielleicht sind Sie auch ganz etwas anderes. Vielleicht sind Sie ein Gestapo-Spitzel.«

Jetzt ist Leonhard Glanz hart daran, die Fassung zu verlieren: »Aber ich bitte Sie, mein Herr.«

»Ich sage ja nicht, dass Sie das sind. Ich sage nur vielleicht. Vielleicht auch nicht, na, dann umso besser. Und dann nehmen Sie es als praktischen Anschauungsunterricht, wie Sie selbst in Zukunft sich zu hüten haben.«

»Solche Methoden sollten die anwenden? Sich in das Vertrauen eines Menschen schleichen und dann von der Gestapo sein.«

»Mann, sind Sie aber naiv. Die legen ihnen sogar ein hundertprozentig deutschblütiges, blondes Mädchen ins Bett und fragen ’nen Dreck nach der Rassenschande, wenn sie eine Spitzelprämie damit verdienen können. Kopfgeld, mein Herr. Kopfgeld. Die alten florentinischen Bravos waren Waisenknaben dagegen.«

»Und Helmut Hirsch?«

»Ja, da müssen Sie mal bei der schwarzen Front anfragen.«

»Schwarze Front? Das waren doch die Leute, die so 1932 bei uns oben Bomben geworfen haben.«

»Eben die. Aber damals waren es noch nationale Bomben, ganz patriotische Bomben. Ja, sehen Sie, da ändert sich manchmal Manches, bei Leuten, die mit der Politik Karussell fahren. Fragen Sie nur bei der schwarzen Front an, vielleicht haben sie Glück und treffen Herrn Otto Strasser höchst persönlich.«

»Aber ich bitte Sie. Das ist doch nicht möglich. Helmut Hirsch ist doch Jude. Und Otto Strasser.«

»Ich sagte Ihnen doch, dass manche Karussell fahren.«

Wie ist so etwas möglich? Hatte nicht Leonhard Glanz die Brüder Strasser, Gregor und Otto, an der Spitze von Demonstrationszügen das »Juda verrecke«, durch die Straßen von Berlin schreien hören? Gregor Strasser ist tot. Vom Toten soll man nichts Schlechtes reden. Aber Otto Strasser und der junge, jüdische Idealist Helmut Hirsch? Leonhard Glanz meint, die Welt nicht mehr zu verstehen. Immer, wenn er ein wenig zu Verstand kommt, glaubt er, er verstünde die Welt nicht mehr.

Ist das alles gemein, niederträchtig, infam, böse, teuflisch, verhext und satanisch, verlogen und frech, aufgeplustert und innen verlumpt, blechern heroisiert und im Grunde erbärmlich. Weil ein Gewissenloser sich in der Rolle des Hirten gefällt, muss ein Lamm sterben.

Leonhard Glanz sieht wieder über das Zeitungsblatt hinweg in die weite Ewigkeit. Wie traurig ist das alles. Wie traurig ist das alles. Wie hundeelend traurig. Das Große und das Kleine. Dieser Fall Helmut Hirsch. Wie erbärmlich traurig.

Ein trauriger Mann in mäßigem Milieu blickt in die Ewigkeit und möchte seufzen nach seinem Gott. Aber er starrt nur in die Leere und kein Seufzer ringt sich los. Denn in diesem Augenblick wird der traurige Mann sich dessen bewusst, dass er an Gott nicht mehr glaubt. Das ist ihm auf einmal ganz klar. Und es ist gar keine erschütternde Erkenntnis. Es ist ganz einfach. Fragte ihn jetzt jemand: Glauben Sie an Gott? Er würde antworten: Nein. Ich glaube nicht an Gott. So wie einer sagt: Ich habe Hutnummer 58.

*

Von der Ewigkeit in die Endlichkeit rasch zurückgekehrt, flüchten die Augen durch die Zeitungsspalten. »Lansbury bei Hitler.« Lansbury ist doch der Führer der britischen Labour-Party. Hier steht der ehemalige Führer und er ist siebzig Jahre alt. Leonhard Glanz erinnert sich seiner Jugend. Damals gab es in Deutschland einen Führer der Sozialdemokratischen Partei, der hieß August Bebel. Er war zugleich Abgeordneter von Hamburg – im Deutschen Reichstag – und darum erinnert sich Leonhard Glanz. Denn in jener Zeit, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, galt es für höhere Schüler nicht für angemessen, zu wissen, dass es so etwas wie Sozialdemokratie in Deutschland gäbe. Der Kaiser hatte gesagt, die Sozialdemokraten seien »vaterlandslose Gesellen« und er »werde sie zerschmettern.« (Später, in den ersten Novembertagen 1918, als ihn seine Generäle im Stich ließen, sagte er: Ich werde mir mit der Sozialdemokratie ein neues Reich gründen.) August Bebel hatte jedenfalls einmal gesagt, nur wusste Leonhard Glanz nicht mehr, bei welcher Gelegenheit, aber das war ja nicht entscheidend: »Wir gehen nicht zu Hofe.«

Inzwischen sind ja mancherlei Sozialdemokraten zu Hofe gegangen und der alte Bebel, wie sie ihn nannten, lebt schon lange nicht mehr. So viel Gestriges hängt dem Leben an, von dem man kaum glauben sollte, dass man es selbst erlebte, und man ist doch ein Mensch, noch in den sogenannten besten Jahren. Wenn Bebel heute lebte … Aber es ist müßig, dergleichen zu denken, denn jener August Bebel wäre ja heute wohl kein Sozialdemokrat. Er wäre wahrscheinlich Kommunist. Denkt der einfältige Mann Leonhard Glanz.

Zu Hofe gehen wir nicht. Der alte Lansbury aber geht zu Hitler. Zum Kanzler des Dritten Reiches, das seine Parteigenossen umbringt, in Kerker und Konzentrationslager wirft, sie foltert, mit Terror verfolgt. Endlose Listen ermordeter und zu Grunde gerichteter Sozialdemokraten liegen vor und Lansbury geht zu Hitler.

Daily Herald, die englische Zeitung der Labour Party glaubt, dem Manne Leonhard Glanz hierzu eine Erklärung schuldig zu sein und diese Erklärung steht da abgedruckt:

»Wir können die Welt nicht nach unseren Wünschen zimmern. Faschistische Diktaturen sind Tatsachen, die vorhanden sind. Wenn man nicht alle Hoffnung auf Frieden und Zusammenarbeit aufgeben und den Krieg für unvermeidbar halten will, dann müssen Verhandlungen und Beziehungen mit Diktaturen als unvermeidbar acceptiert werden.«

Während die Flugzeuge des Dritten Reiches – hörst du, Daily Herald – Bomben werfen, auf Frauen und Kinder. In Spanien, meint der Daily Herald.

Als Herr von Ribbentrop, Fachmann für deutschen Schaumwein und zur Zeit Gesandter des Dritten Reiches, bei der Regierung seiner britischen Majestät, den Passus im Daily Herald las, hat er sich halb krank gelacht, erzählt man.

Leonhard Glanz aber meint einmal wieder, er verstünde die Welt nicht mehr, wie jedesmal, wenn er hinter die Geheimnisse kommt, die keine sind.

*

Der traurige Mann Leonhard Glanz in mäßigem Milieu schweift weiter durch die Zeitungsspalten. Er sucht und weiß nicht was. Denn er sucht, was ihn die Traurigkeit – es ist ihm eine große Traurigkeit – überwinden ließe und findet es nicht.

Telegramm aus Buenos Aires. Das ist ihm ein Begriff: Buenos Aires. Das ist Gerste, Weizen, Leinsaat und Mais. Mais. La Plata Mais. Gesunde, trockene Durchschnittsqualität der diesjährigen Ernte. Leichter Käfer- und Madenstich darf nicht präjudizieren. Buenos Aires ist ein freundnachbarlicher Begriff für einen, der aus dem Hamburger Trade kommt. Buenos Aires, das liegt gleich nebenan. Nur eben über das Wasser. Das liegt viel näher als etwa Breslau. Von Hamburg nach Breslau? In Berlin umsteigen. Da hinten wo. Aber Buenos Aires? Da geht man in Hamburg, St. Pauli Landungsbrücke an Bord. Und drüben steigt man wieder aus und da ist auch schon die Calle de Correos. Und man spricht Spanisch. Was besser und verständlicher ist, als etwa Schlesisch. An Sächsisch gar nicht zu denken. Oder gar Württembergisch. Der junge Schiller – das zu denken – sprach Würschtelbergerisch.

Aber Buenos Aires, was ist da also aus Buenos Aires? »Zum Tode des Blockleiters der NSDAP Josef Riedle wird mitgeteilt: Riedle war mit einer Geldsammlung beauftragt, die offiziell für die deutsche Winterhilfe, in Wirklichkeit jedoch für die nationalsozialistische Propaganda in Argentinien bestimmt war. Eine Gruppe nationalsozialistischer Deutscher Arbeiter – (in Buenos Aires, bitte, der Hauptstadt Argentiniens) – hatte sich mit Riedle verabredet, der ihnen über die Verwendung der von ihm einkassierten Beträge Rechenschaft geben sollte. Dabei kam es zu einer erregten Auseinandersetzung, in deren Verlauf Riedle einen Revolver zog. Die anderen versuchten ihm die Waffe zu entreißen, die dabei losging und Riedle in den Unterleib traf.«

So, trauriger Mann in mäßigem Milieu. Nun weißt du, was eine ganz gewöhnliche Zeitung an einem ganz gewöhnlichen Tage dir aus Buenos Aires zu berichten hat. Die Pest ist ausgebrochen? Wer wird denn so übertreiben. Etwas Terror. Etwas Schwindel. Etwas Korruption. Geklautes oder verschobenes Geld? Die Ehre, Herr Pg. Die nationale Ehre des Deutschtums im Ausland, meine Herren Pgs. Noch nicht begriffen? Bin ich hier Blockleiter oder nicht? Wie? Schnauze, oder ich hau dem Kerl in die Fresse, verflucht und zugenäht. Was – Rebellion? Peng! Geht ein Revolver los. Wer hat da geschossen? Einerlei. Der Tote ist jedenfalls ein Held! Das wird das Propagandaministerium schon frisieren. Wäre ja gelacht. Jeder arische Deutsche im Ausland ist ein Held, wenn er erst tot ist. Verstanden!

Leonhard Glanz meint, dass das doch die Pest sei.

*

O Röslein rot … Hier müsste eigentlich ein lyrisches Gedicht sein. Von der Not und der Treue. Und der Trauer der Menschheit. Aber wie fände unser einfacher, durchschnittlicher, wenn auch gewiss nicht amusische Mann zu einem Gedicht? Er reagiert sehr viel einfacher auf alle die arge Pein. Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Nicht eben heftig, da er ja ein Mensch von Disziplin ist, der weiß, wie er sich in einem zuvorkommenden Kaffeehaus zu benehmen hat, aber doch so, dass er mit dieser Handgreiflichkeiten seine eigene, etwas durcheinandergeratene Persönlichkeit wieder zurechtgerückt zu haben vermeint. Wieder schaut er ein wenig vor sich hin, durch die Luft, aber jetzt nicht in die unsichtbare Endlosigkeit, sondern mit Bewusstheit bis zur nächsten Wand, an der er eine radierte Landschaft hängen sieht, vielleicht ist es auch nur ein Druck, nach einer Radierung. Jedenfalls in einem Barock-Rahmen. Die Wand entlangstreifend findet er noch mehr solcher Bilder, immer in barock geschweiften Rahmen, wie überhaupt die Wand mit mancherlei bronziertem Stuck, barocker Formen, beklebt ist. Leonhard Glanz stellt mit gewisser Genugtuung fest, dass das Barock sei, ohne sich des Gegensatzes dieser Imitation zu den kantigen Stühlen, den seelenlos kalten Marmortischen bewusst zu werden und zu den schmalen Sofas an der Wand, bei denen man sich wundern muss, dass sie so aus aller Form gegangen, wo sie doch nie eine richtige Form gehabt hatten und auf deren einem er nun nicht allzu bequem, aber doch hinlänglich behaglich, die Zeit versaß, die schon nach Stunden zählen mochte. Er erteilte sich insgeheim für sein Wissen um das Barock eine gute Zensur. Bedenkt, dass er in dieser Stadt der Gegensätze, in der so viel Altes mit so vielem Neuen übergangslos aufeinanderprallt, mancherlei Kirchen, Palais, bürgerliche Häuser, Giebel, Tore, Fenster und Gitterwerk des Barock gesehen, und er empfindet das als etwas Sanftes, Weiches, Beruhigendes. Im Gegensatz zu der starren Kantigkeit der nordischen Ziegelbauten, aus gebrannten Klinkersteinen, die des Feuers Spur an und in sich haben. War er nicht einmal stolz gewesen, als die riesigen Klinkerklötze entstanden, die Blocks mit fünfhundert oder tausend Kontoren. Größe und Würde der Kaufmannschaft. Der freien Kaufmannschaft. Und man fühlt sich als einen Teil, einen kleinen Teil und man war stolz in aller Bescheidenheit. Und auf einmal war das alles nicht mehr wahr? Kein Teil des großen Ganzen, sondern ein Artfremder und ein Dreck. Da war auch keine Freiheit der Kaufmannschaft, sondern eine Knechtseligkeit, angetreten in Viererreihen und Abteilung marsch, mit dem linken Bein zuerst. Keine Würde, wenn das herauskroch, vor belitzten Hemdenträgern mit Blechbehang. Die sie verachtet hatten und die sie unverändert, tiefinnerst verachteten und krochen doch und scharwenzelten und lachten über zotige, schlotige, kotige, knotige Kasernenwitze arrivierter Rohlinge. Keine Größe, gar keine, denn Arschkriecher müssen sich klein und schmal machen. Der Kasernenmief war in die stolzen Kontorhäuser eingezogen, ein unsichtbarer Stacheldraht war da um jegliches, rundum. Wie fern schon, nach so wenig Tagen, und kein Gefühl des Heimwehs. Gar keines.

 

Entronnen. Zerronnen. Ausgeronnen. Geronnen. Gerinnen. Rinnen. Rinnstein.

Gossenstein. Gossenspüle. Spüllicht. Hinab, in die Kloake.

Nein. So nicht. So doch nicht. Nein, nein und nein. Er war doch einmal und es war kein Märchen gewesen. Wer weiß, was noch einmal wieder werden kann. Wo man dabei sein möchte. Wo man dabei sein müsste. Wofür man eigentlich etwas tun sollte und wenn man auch nur ein einfacher, höchst durchschnittlicher irgendwie ist. Aber wie das? Man müsste mit einem dieser einsilbigen Leute davon reden, an die nicht heranzukommen ist. Die würden einem vielleicht sagen können. Bestimmt sogar. Aber man kann ja nicht an sie herankommen. Oder doch? Aber wie?

Einerlei. Es kann ja nicht alles auf einmal sein. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Rom. Wieso Rom? Rom ist auch keine gute Vokabel mehr. Man ist doch ein Kulturmensch. Man weiß doch, was Rom bedeutet. Kolosseum, Forum Romanum und Trajanssäule. Michelangelo und die Sixtina, zu der die Madonna übrigens in Dresden ist, ich hab sie gesehen, im Saal A, und Augustus, Horaz und Rienzi von Richard Wagner, es fängt mit ’ner Trompete an. Ja, alles das ist Rom. Das weiß man doch. Aber wie gesagt, es ist mir keine sympathische Vokabel.

Bleiben wir beim Barock. Es ist ja auch nicht heimatlich. Die ganze Stadt ist mir nicht heimatlich. Das kann sie ja nicht sein und wird es nie werden. Da ist die Sprache, nun, die könnte man erlernen, obwohl es sehr schwer sein soll. Aber das ist es nicht. Es ist wohl wegen des Barock. Man war an strenge Exactheit gewöhnt. Und da ist dieser weiche Schwung. Man möchte sagen, es sei nett. Manchmal ist es das ja. Manchmal hat es seine Großartigkeit bei aller Beschwingtheit. Besonders in den Kirchen. Ich gehe gern in Kirchen. Ich sehe so gerne das Licht, das durch bunte Scheiben fällt. Und alles andere. Die Bilder sind zu nett. Bei uns sind die Bilder in den Kirchen so hart. So finster. Die Heiligen sind so böse. Oder sie werden gerade so furchtbar umgebracht. Mit schrecklich rotem Blut. Die Barockheiligen sind viel netter. Sie sind auch viel heiterer. Ich habe da so ein Bild gesehen, auf dem ein Heiliger einen Teufel mit einem Spieß totsticht. Aber es scheint, er tut nur so. Er macht das freundlich. Das kann dem Teufel gar nicht weh tun.

Aber umbringen ist doch eigentlich umbringen. Wie hat sich so ein Maler das gedacht? Stimmt das nun oder stimmt das nicht? Wie ist das also mit dem Barock? Man meint immer, man verstünde etwas, aber im Grunde versteht man garnichts.

Ist das nun des einfältigen Mannes, Leonhard Glanz, ganze Dichtung? Es fällt ihm nichts Besseres ein. Er hat nur versucht, den beiden Zeitungsseiten davonzulaufen, die eine so bitterböse und traurige Angelegenheit sind, obwohl die Redaktion, wie jede Redaktion einer freundlichen, opportunistischen Zeitung für den Familiengebrauch, sicherlich bestrebt war, das alles so zu bringen, als ob es in Wirklichkeit gar nicht so ernsthaft sei.

Und da wäre denn auch das lyrische Gedicht, denn wozu läse unser Mann die Zeitung, wenn sich nicht einmal ein lyrisches Gedicht darin fände. Es findet sich aber und darin – in dem Gedicht – fragt ein Dichter, warum denn der Himmel so blau sei, so blau und die weiten Wiesen so grün, wenn doch sein – des Dichters – Herz so traurig wäre und die Kühe weiden am Abend. Nun, das ist so, weil dieses Gedicht den zweiten Preis der opportunistischen Zeitung für den Familiengebrauch erhalten hat, nach dem Preisausschreiben für die besten Gedichte des Tages oder war es des Jahres oder des Jahrhunderts. Den zweiten Preis also, nämlich ein Buch, in Halbleder gebunden, mit Inhalt. Während doch der Dichter mit dem ersten Preis gerechnet hatte, erstens wegen der Ehre und zweitens wegen des nickelplattierten Reisenecessaires mit imitiert krokodilledernem Koffer.

Wobei es dem mäßigen Mann im mäßigen Milieu gelungen ist, zu einer weiteren Zeitungsseite vorzudringen, wo es nicht mehr so weltumspannend kannibalisch zugeht. Das lyrische Gedicht hat schon dazu geholfen, dass unser Mann von der Bitternis seines Herzens ein wenig ablegte, zu Gunsten einer milden Traurigkeit, wie sie die Kühe empfinden, die am Abend weiden.

*

Die Zeitung aber, auf ihrer nächsten Seite, rutscht ab ins Wesenlose. Sie hat genug von der großen Barbarei der Politik und des legalen Umbringens auf kurzer oder langer Welle. Sie begibt sich in geruhigtere Gebiete. Mit über und unter dem Strich. Über dem Strich ist von Dingen zu lesen, die noch irgendeine wirkliche oder ihnen künstlich aufgepfropfte Aktualität haben. Und da sie Zusammenhänge mit den lebendigen Geschehnissen der Umwelt und aller Verbindungen haben, da sie Beziehungen haben – gute oder schlechte Beziehungen, darauf kommt es an, und eine Zeitung mit guten, das heißt sowohl einflussreichen, als auch schließlich und hauptsächlich geldpotenten Beziehungen wird immer eine gerngelesene Zeitung sein, eben eine opportunistische Zeitung für den Familiengebrauch – da müssen Sie auf diese Beziehungen Rücksicht nehmen. Das heißt, über dem Strich hat die Zeitung die infamste aller Tendenzen, nämlich vorgeblich gar keine. Immer da, wo Geschriebenes angeblich keine Tendenz hat, da ist es vom Teufel diktiert. Da steckt etwas dahinter, dass dir nicht wohl will. Allemal ist da ein Betrug dahinter, auf den du hineinfallen sollst. Und du fällst darauf hinein, denn davon leben nebenbei die Zeitungen. Davon werden die Reichen reich und reicher, die Mächtigen immer mächtiger und die Anderen, die Millionenmassen, die nicht zählen, bleiben so, wie sie sind. Über dem Strich hat die Zeitung kein Gesicht, außer dem einer Schaufensterpuppe. Die ganze Blödheit des jeweilig mondänen Typs glotzt dich an. Das Sinnen der Über-dem-Strich-Redakteure ist darauf gerichtet, keine Gesinnung zu haben. Das ist einfacher, als es aussieht. Ein politischer Redakteur zum Beispiel braucht nur den Anweisungen zu folgen, die er von ganz Oben erhält. Aus den italienischen Regierungsanweisungen für die italienische Presse:

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