Ein Mann liest Zeitung

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Der Gesandte der USA in Berlin, so liest er, hat wegen des zum Tode verurteilten Helmut Hirsch interveniert, nachdem sich herausgestellt hat, dass dieser junge Mensch tatsächlich Amerikaner sei und die USA auch seine Staatsbürgerschaft anerkannt haben.

Helmut Hirsch, so erinnert sich das blasentreibende Hirn des magenschweren Mannes Leonhard Glanz, war doch dieser junge Fanatiker, der den deutschen Führer hatte ermorden wollen. Er erinnerte sich sehr wohl. Um diesen Verbrecher, der mit zwei Höllenmaschinen nach Deutschland angereist gekommen war, um so, mir nichts – dir nichts, Hitler zu ermorden, um diesen Verbrecher hatte es drüben noch ein großes Spektakel gegeben. Sonderbar, es widerstrebte Leonhard Glanz diesen Mann einen Verbrecher zu nennen, obwohl es drüben keine Zeitung gegeben hatte, keinen Mann auf der Straße, der das nicht sagte. Dass ein amerikanischer Diplomat interveniert, das bestätigt Leonhard Glanz in seinem Gefühl. Helmut Hirsch hatte den Führer ermorden wollen. Also war er nach deutschem Recht, dass kein Gesetz braucht, zum Tode verurteilt worden. Aber hatte er denn morden wollen? Ja. Dazu hatte er doch zwei Höllenmaschinen mitgebracht. Aber hatte er sie denn mitgebracht? Ja. Sie sind sichergestellt worden. Sichergestellt von wem? Von der Gestapo. Ach so.

Da war schon mal einer zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, der damals an jenem ominösen 9. Februar mit nichts bewaffnet, als einem gefälschten Mitgliedheft der Kommunistischen Partei und einer Schachtel Zündhölzer, das Berliner Reichstagsgebäude in Brand gesteckt hatte. Hölle und Teufel, brüllten die Nazis und handelten so. Hölle und Teufel machte die Deutsche Volkspartei mit und die deutschen Stahlhelmpatterjohten. Obwohl ihnen schon anfing vor der eigenen Courage, die ihr persönliches Ende wurde, bange zu sein. Und die anderen? Saßen da, die Hosen nicht nur mit Angst erfüllt, und versuchten noch lauter zu brüllen als die Ersten, wobei nur ein klägliches Meckern hervorkam. So spielten sie zum letzten Mal Als-Ob. Wer war das noch? Das war die Deutsche Demokratische Partei, werter Herr Leonhard Glanz. Aber ja. Zu ihrer Entlastung sei es gesagt, auch der allzeit so feste Turm des katholischen Zentrums und die reichsgebannerte, sozialdemokratische Partei, die keinen Strick ungedreht ließe, an dem man sie hätte aufhängen können und auch gehenkt hat und alles, was da zwischen diesen Partiewaren-Parteien herum firlefanzte. Erinnern wir uns nur, ohne Groll im Herzen. Weil wir doch ganz etwas anderes zu tun haben. Merkst du was, Leonhard Glanz? Geht dir noch kein Lichtlein auf im Dämmerhirn, da doch die ganze Pampe dir in den Magen gerutscht ist? Oder muss auch das erst hinaus? Eine Zeitung ist doch kein römisches Vomitorium. Oder doch?

Damals hatte kein fremder Diplomat interveniert, obwohl dergleichen damals vielleicht noch irgendeinen Effekt gehabt hätte. Aber damals … Man muss es der Umwelt schon konzedieren. Damals war sie noch so guten Glaubens, als ob sie guten Glaubens gewesen wäre.

Jetzt aber interveniert ein Diplomat. Im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist etwas. Der Mann mit dem weitdenkenden, politischen Verstand, der erste Napoleon von Frankreich hatte das schon klar erkannt. George Washington war der Mann seiner Sehnsucht. Bis 1917 hatte sich das allerdings noch nicht bis nach Deutschland herumgesprochen und 1937 brauchte man im Deutschland des Dritten Reiches überhaupt nichts von dem zu wissen, was jenseits der Grenzen liegt. Außer was man fressen oder mit Krieg überziehen möchte. Und da interveniert also ein Mann im Namen der USA. Ein immerhin größerer Mann.

*

Da ist ein kleiner kleinerer Mann. Ein einfacher Schlächtermeister in Magdeburg. Nicht eigentlich klein von Statur, sondern eher etwas über Mittelgröße, wohlproportioniert, mit Ansatz zu quellendem Bauch, was ihn gedrungener erscheinen lässt, als er wirklich ist. Ein wohl gemästeter Mann aus gutem Fleisch und wenig Fett. Ein ausgewachsener Beefsteak- und Roastbeeffresser. Dreimal des Tages, zumeist Gebratenes, aber nicht ganz durchgebratenes Fleisch. Das Rote muss noch zu sehen sein und rötlich muss es noch herunter träufeln.

Dieser einfache Schlächtermeister liest in der Zeitung von dem intervenierenden Schritt des amerikanischen Diplomaten, während dabei Zorn und Gram in sein Herz einziehen. Und dieser Mann, der nie gewusst hat, wozu ein Diplomat in der Lage ist, begehrt auf.

Hermann Hutt, der Schlächtermeister, sitzt in dem ledernen Klubsessel, dem einzigen modernen Möbelstück in seine Wohnstube mit den verstaubten, einstmals grünlichen Plüschmöbeln. Ganze Stunden des Tages verbringt er in dem Sessel. Eigentlich sitzt er immer da, wenn er nicht am Schlachthof ist, und schaut ab und zu durch die runde Scheibe in der Tür in den Laden, wo der Gehilfe den Kundendienst versieht und der Lehrling. In den Laden geht Hermann Hutt nicht gern. Die Kunden schauen ihn immer so sonderbar an.

Das Geschäft ging nie sonderlich gut. Und die anderen Verdienste waren oft so gering, dass man sie als nennenswerte Einnahme nicht rechnen konnte. Jetzt, im neuen Deutschland, hatte sich das Geschäft ja etwas gehoben, der Sturmbannführer hatte etliche Anweisungen gegeben, bei Hutt zu kaufen. (Schließlich war er doch ein alter Kämpfer.) Aber so sehr hatte sich das Geschäft wieder nicht gehoben. Wenn Hermann Hutt sich den bequemen Ledersessel hat kaufen können, wenn er jetzt, statt der bröckeligen Zigarren aus Pfälzer Tabak, Hamburger Brasilzigarren rauchen konnte, so verdankte er es anderen Einnahmen. Die waren unter dem neuerwachten, deutschen Geist beträchtlich, das musste man schon sagen. (Zumeist betrugen sie mehr, als die Verdienste aus der Schlächterei.)

Draußen im Hof bellt der Hund. Gewiss wird der Lehrling draußen sein, der kann den Hund nicht in Ruhe lassen. Was hat er auf dem Hof zu tun? Und warum lässt er den Hund nicht in Ruhe? Der Lehrling ist überhaupt nicht gut zu dem Hund. Das darf man nicht dulden. Hermann Hutt ist seit vielen Jahren Mitglied des Tierschutzvereins. Er kann keinem Tier was zu Leide tun. Es gibt Menschen, die schlagen Fliegen so mit der Klatsche tot. Gewiss, Fliegen sind ein unangenehmes Geschmeiß. Im Sommer schwirren und wimmeln sie um jedes Stück Fleisch im Laden. Man muss Gazeüberzüge um das Fleisch tun. Aber Fliegen wollen ja auch leben.

Da ist nicht weiter verwunderlich, dass ein Schlächtermeister Mitglied des Tierschutzvereins ist. Das kann ursächliche Zusammenhänge haben. Gerade weil er von Berufes wegen Tiere töten muss. Wer weiß denn, wie er zu dem Beruf gekommen? Hat er sich ihn ausgesucht? Keineswegs. Sein Vater war schon Schlächtermeister gewesen. In eben diesem Laden. Sogar die grüne Plüschgarnitur stammte noch von Hermanns Eltern her. Er wurde Schlächter, so wie er eines Tages die Wohnungseinrichtung auch erbte. Und so, wie er auch den anderen Beruf mit den Nebenverdiensten mit übernahm. Als Gehilfe war er ja etliche Male mit gewesen, obwohl früher (und auch unter dem Kaiser) nicht viel Gelegenheit war.

Indessen kommt man doch nicht umhin, zu denken, dass dieses Mitglied des Tierschutzvereins, schon unzählige Tiere getötet hatte. Geschlachtet, ausgeweidet, zerlegt, mit bluttriefenden Händen und Armen bis zu den Ellenbogen hinauf. Und mochte keine Motte zerklatschen. Trennte er vorsorglich das berufliche von dem privaten Leben, dass er, wenn er Hände und Arme mit Schmierseife gewaschen, mit der Bürste geschrubbt hatte, den Schlächterkittel weggehängt und das dunkelblaue, zweireihige Jackett angezogen hatte, er ein anderer Mann war, mit Sehnsüchten und Gefühlen? Oder war er einfach, als ein anderer Mensch, ein Mann der Sachlichkeit? Mitglied des Tierschutzvereins, eben gerade, weil er Schlächter war. Einer fetten Kuh die Maske aufsetzen, mit einem einzigen treffsicheren Schlag den Bolzen ins Gehirn treiben, dass sie bewusstlos zur Seite umsackt, eigentlich schon aus dem Leben herausgenommen, und die in die Luft tretende Beine machen nur noch Reflexbewegungen, sodass der wirkliche Akt des Schlachtens sozusagen schon am Fleisch geschieht, an einer Sache die kein Wesen mehr ist, alles das ist eine korrekte, berufsmäßige Angelegenheit. Aber einen Schmetterling fangen und ihm die Flügel ausreißen, das ist Tierquälerei. Was sein muss, muss sein. Und was nicht sein soll, soll auch nicht sein. Die Innung der Schlächtermeister legt größten Wert darauf, dass mit den modernsten Werkzeugen und auf humane Art geschlachtet wird.

Human? Humanität? Humanismus? Geht das nicht die Menschen an? Wieso? Was? Hier wird auf humane Weise geschlachtet. Wieso den Menschen? Was wollen Sie damit sagen? Die Leute, die den Schlächtermeister Hutt immer so komisch ansehen. Die Pg-Kundschaft, die früher garnicht gekommen war. Und sie kam jetzt nur auf Befehl, besonders die Frauen. Nur ein paar Kerle kamen und klopften dem Meister auf die Schulter. Kerle waren das, die als brutale Schläger bekannt waren. Hermann Hutt wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Immer seltener kam er in den Laden, er wollte sich von diesen Kerlen, mit dem breiten, vorgeschobenen Unterkinn nicht auf die Schulter klopfen lassen. Von denen nicht. Aber manchmal fragten sie nach ihm. Dann musste der Geselle ihn aus der Stube herausholen. Manchmal sagte der Geselle auch »Hutt ist verreist«. Er sagte nicht: der Meister, oder Herr Hutt. Dann grinsten die mit dem vorgeschobenen Kinn, mit den Schädeln, die unten breiter waren als oben, so wie Schweinsköpfe. Manchmal johlten sie dann auch und riefen »bravo« und »wacker, wacker!« und »Heil Hitler!«

An diesem ganz gewöhnlichen Tag, an dem die Stunden in die Zeit träufelten, für einen, der in seiner Stube sitzt, inmitten all der altgewohnten Dinge, von denen fast nie etwas fortkam, denn außer dem neuen Klubsessel wurde nur der alte Schreibtisch benutzt, um die Rechnungen für faule Kunden auszuschreiben und um die Bücher für die Steuerbehörden zu führen – das war übrigens so ein Sonderkapitel mit der Steuer. Die Geschäftsbücher waren tadellos in Ordnung. Sauber geschrieben mit einer Schrift, die beim einfachen Hinsehen gar nicht wie die eines Schlächtermeisters aussah. Eines solchen noch dazu. Sondern viel eher wie die Schrift eines Mädchens aus einer oberen Schulklasse. Noch dazu war alles mit violetter Tinte gerschrieben, er fand das so hübsch. Mit der geschäftlichen Buchführung hatte Hutt auch niemals Anstände gehabt. Aber eines Tages war da einer von der Steuer gekommen und hatte gefragt, mit halblauter Stimme, ob er, Hutt, nicht noch andere, wesentliche Einnahmen hätte, die zu versteuern seien. Da war Hutt einfach aufgestanden. War ganz ohne Eile aus der Stube, durch den Laden auf die Straße gegangen und als er nach zwei Stunden, die er in einer Konditorei verbracht hatte, wieder nach Hause kam, da war der Beamte natürlich fort. Und er kam auch nie wieder – an diesem gewöhnlichen Tage also (wo der eine, der Zeit hat, hier, der andere, der Zeit hat, dort, etwa auf dem ausgesessenen Leder eines Kaffeehauses, mit Weile seine Zeitung liest) sinnt Hermann Hutt über die Intervention des amerikanischen Gesandten in Sachen des zum Tode verurteilten Juden Helmut Hirsch nach, dessen Prozess er genau verfolgt hatte und der nun auf einmal ein amerikanischer Staatsbürger sein sollte.

 

Welch eine Komplikation. Sonst, war einmal ein Todesurteil gefällt, war die Sache klar. Früher, in der lauwarmen Weimarer Republik freilich ging es in zehn Fällen neunmal auf Begnadigung aus. Aber das Dritte Reich, das musste man sagen, hatte manchmal den süßen, benebelnden Duft eines Schlachthofes in vollem Betrieb. Etwas für Männer mit Nerven. Und Nerven hatte Hermann Hutt. Man kann sehr wohl mit violetter Tinte schreiben und doch Nerven haben. Man kann eine große Leidenschaft für Orchideen in Meissener Porzellanvasen zur Schau tragen und doch Nerven haben. Man kann frühmorgens durch ein Schlachthaus schreiten, mittags in einer Kirche sich trauen lassen und abends der Braut ein Smaragdkollier um die enthüllten Reize mohnreifer Weiblichkeit winden, wenn man Nerven hat. Und auch Hermann Hutt hatte Nerven. Und darum soll ein Urteil ein Urteil sein. Und kein Hasardspiel mit fauler Begnadigung.

Hitler war nicht für Begnadigung. Mochte er von allen usurpierten Rechten Gebrauch machen, von diesem nicht. Höchstens Frauenmörder hatte er begnadigt. Aber Hutt konnte das verstehen. Hermann Hutt hatte einen tiefen Hass gegen die Frauen.

Das war nicht immer so gewesen. Als er ein junger Bursche war, fest und stämmig, da hatte er mit heißer Sehnsucht zu manchen Mädchen hingeschaut. Wenn er am Sonntagnachmittag hinausging, irgendwo hin in ein Tanzlokal in der Vorstadt. Da saßen die Burschen zu zweien, zu dreien an den hölzernen, gescheuerten Tischen, tranken (ihre »Kugel hell«) Bier aus bauchigen Gläsern, waren lustig, erzählten Witze, frotzelten die Mädchen, tanzten, dass die weißen Stehumlegekragen alle Form verloren. Und er, Hermann Hutt, saß an einem Tisch allein, er hatte keine Freunde und so war es auch nicht lustig. Dann tanzte er zweimal, dreimal mit einem Mädel, das ihm gefiel. Lud es zu einem Glas Bier oder zu einer Portion Eis an seinen Tisch. Manch Mädchen hat da gesessen, eine Viertelstunde lang oder so, dann kam gewöhnlich ein anderes Mädel hinzu, sagte, sie müsse mit ihrer Freundin ein paar Worte sprechen. Dann tuschelten die zwei miteinander und das Mädel an seinem Tisch sah ihn auf einmal an, so. So, wie jetzt die Kunden oftmals im Laden. Stand dann auf, unter irgendeinem Vorwand und kam nicht wieder.

Da war eine gewesen, mit so rotem Haar und mit braunen, großen Augen. Und mit ganz feiner Haut, wie es in Büchern geschrieben ist, wie Milch und Blut, aber auch wie Pfirsich. Und mit ganz schmalen Fesseln. Einen Gang hatte die. Als ob sie schreitet, hatte der junge Hermann Hutt gedacht. So ist das, wenn die Dichter schreiben, dass ein Mädchen schreitet.

Zwei-, dreimal hatte er sie am Sonntag getroffen und dann auch einmal in der Woche, in der Stadt. Da waren sie in ein Kino gegangen. Neben ihr sitzen, in der Theaterdunkelheit hatte er gedacht, das sei viel schöner als Tanzen und hatte den Arm ein wenig mehr zu ihr hinüber getan und sie hatte das wohl erlaubt. Das ist wie Seligkeit, hatte er gedacht. Auch ein Dichterwort, er war so poetisch in jenen Tagen. Das war an einem Mittwochabend gewesen und auf Sonntagnachmittag waren sie wieder verabredet. Lange Tage und endlose Stunden, bis zum Sonntag, die Tage und die Nächte. Und alles das. Eine ganz gewöhnliche Geschichte? Eine Allerweltsliebesgeschichte. Und vielleicht auch das, dass sie am Sonntag nicht kam. Nicht an diesem Sonntag und nicht am nächsten und nie wieder. War sie krank geworden, war sie gestorben? Nichts von alle dem. Hermann Hutt wusste, warum sie nicht gekommen war. Nach der ersten Viertelstunde vergeblichen Wartens wusste er, dass sie nie mehr kommen würde, und es war Torheit, wenn er stundenlang wartete, an allen Sonntagen. Immer an dem gleichen Tisch. Bier und scharfes Kirschwasser, dass die Kehle brannte und das Feuer nicht löschen konnte und spät in der Nacht torkelte er nach Hause.

Der Fluch war über ihm. Der Fluch. Darum hatte er keinen Freund und brütete allein an Wirtshaustischen. Darum liefen ihm die Mädeln davon. Darum hatte die ihn aufsitzen lassen. Die mit dem roten Haar. Mit den braunen Augen. Mit den Pfirsichwangen. Mit dem schreitenden Gang. Weg. Nie wieder. Ihn verworfen. Erst einen Fetzen herausgerissen aus dem Herzen und dann verworfen. Wegen des Fluchs.

War er denn kein richtiger Mensch? Schrie er denn nicht in Nächten in sich hinein, wenn er das Bild der Roten leibhaftig vor sich sah und mit heißen Händen in schwarze Leere griff? Tat es ihm denn nicht weh, dass es schon eins ihm war um Leben und Sterben? Ein Mensch, zur Liebe geboren, dass die Leidenschaft so in ihm toste? Dass er das Elend ersäufen musste, in Schnaps und Schnaps. Der Suff in ihm. Und der Fluch über ihm. Und war doch ein Mensch, war doch ein Mensch. Und war er auch tausendmal der Sohn des Henkers.

Und da ging Hermann Hutt, der Sohn des Henkers und selbst des Henkers Knecht, bestimmt, eines Tages das Henkeramt zu übernehmen, verworfen von den Menschen und verraten von der Liebe, ging hin und beschloss, ein Unmensch zu werden.

Ging zu den Dirnen, denn eines Menschen Blut war in ihm. Die fragten nicht, ob er eines ehrbaren Kaufmanns Sohn sei, oder eines Richters, oder eines Revierwachtmeisters. Die nahmen sein Geld, das war ihnen gut. Er trieb sich durch die Bordelle, betrank sich und spuckte mitten in den Bordellsalon. Ließ sich von jüngeren Huren die Geschichten ihres Lebens erzählen. Immer die gleiche Geschichte, vom Elend zu Hause und nichts mehr zu fressen und kaum noch etwas anzuziehen. Das war dahinter, das nackte Elend und garnicht das splitterfasernackte Laster. Das wurde von den besseren Herren in die Bordelle getragen.

Darum zog Hermann Hutt bald die älteren Huren vor, die schon alles gelernt hatten, und trieb mit ihnen Schweinereien und schlug die Liebe in sich tot und das Menschentum, und das rothaarige Mädchen mit all der Poesie war nur noch eine Panoptikumsfigur.

Darum sitzt er allein in seinem Zimmer, in das er keine Frau hat führen können, keine wollte des Henkers Weib sein. Das ist vielleicht auch gut so, dass der Fluch in diesem Stamm sein Ende habe. Und der Hass gegen die Frauen, die ihn verworfen hatten, war in ihn eingezogen und die Verachtung eines Geschlechts, das er nur in letzter Erbärmlichkeit kennen gelernt hatte. Er konnte mit der Welt nicht fertig werden, weil er ohne Mitleid war. Das war seine große Schuld, mochte sonst die Schuld an der Welt liegen. Ohne Mitleid mit sich und ohne Mitleid mit den anderen.

Der Sohn des Henkers, der selbst jetzt Henker war. Aber Henker, das war ein falsches Wort für diese Sache. In Deutschland schlug der Scharfrichter den Leuten die Köpfe ab.

(In der alten, freien und Hansestadt Hamburg hatte man gleich nach der französischen Revolution die Guillotine eingeführt. Das war lange Jahre das einzige gewesen, was von den Errungenschaften der französischen Revolution in Hamburg brauchbar erschien. Aber es war eine Voreiligkeit dieser seit je republikanischen Hanseaten. Das Dritte Reich hatte mit diesem welschen Tand aufgeräumt und auch in Hamburg wird jetzt vom Scharfrichter höchst persönlich wieder mit dem Beil geköpft.)

Ein Hieb mit dem Beil und ab ist der Kopf. Das muss gelernt sein. Die Hauptsache ist, gerade halten, das Beil. Ganz senkrecht im Anhieb. Den Rest macht das Beil von selber. Denn es ist sehr groß und sehr schwer, da es, um sein Gewicht zu erhöhen, innen mit Quecksilber gefüllt ist. Und es ist sehr scharf und ohne Scharte.

Starke Nerven braucht das. Falsch zu sagen, dass man den Mann nicht ansehen soll, dem man gleich den Kopf abschlagen wird. Man soll ihm ruhig ins Gesicht sehen. Das stärkt die Nerven. Lieber Freund, mich geht die Geschichte im Grunde gar nichts an. Ich bin hier nur der vollstreckende Arm der Gerechtigkeit. Dein letzter, guter Freund, denn mir kannst du vertrauen, ich werde dich korrekt und human hinrichten. Wie ich es von meinem Vater gelernt.

(Natürlich, das braucht Nerven. Aber die hat Hermann Hutt, Schlächtermeister und Scharfrichter aus Magdeburg.) Der schwarze Frack, die weiße Piquéweste mit der goldenen Uhrkette, der glatt gebügelte Cylinderhut, die blanken Schuhe mit Lackkappen und das Beil, hoch über den Kopf erhoben, einen Nerv das Ganze.

Früher, diese seltenen Hinrichtungen. Ohne inneren Gehalt. Ganz ohne Ekstase. Diese erbärmlichen Delinquenten, die anfingen zu schreien und zu toben, wenn sie des Schafotts ansichtig wurden. Die man hinaufschleppen musste, ein Bündel Angst, dass sie grünlich waren im Gesicht und so grässlich rochen vom Angstschweiß und weil sie die Hosen voll hatten. Jetzt aber ist das anders. Die Politischen. Solche Kerle. Was haben die in den Augen, wenn sie einen ansehen, dass man einfach nicht mehr da ist. Weggelöscht. Da ging einmal einer zum Richtblock. An ihm vorbei und sah ihn an. So. Dass er den gebügelten Cylinderhut vom Kopf zog, dass er dachte: Einer, der das so geht und gleich wird man ihm den Kopf abschlagen, der ist doch eine Majestät. Sowas zu denken. Es war wohl auch nur Erinnerung an alte Zeit, als er es noch mit der Poesie hatte. Ganz hinten, über allem die Rothaarige, schreitet heran. Da braucht es Nerven. Das war ein Hieb. Mitten durch die Welt. Die Rothaarige liegt mit unter dem Beil. Völlig zerspalten. (Und das Blut ist ein dicker Strom, in glitzerndem Nebel.)

(Dass es gerade in Hamburg war. Hermann Hutts Rache an der Guillotine, die ihn jahrelang geprellt hatte.) Einmal vier Männer. Hintereinander weg. Und er hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Vier Kerle, die standen. Bis die Köpfe fielen. Köpfe rollen, sagen sie immer alle. Das ist nicht so. Sie fallen in einen Korb. Man muss nicht auf die Köpfe sehen. Man muss auf den Rumpf sehen, wie das Blut hervorschießt, so viel, so rot, so wild. Viere, hintereinander weg. Damals habe ich das Dritte Reich aus der Taufe gehoben, denkt Hermann Hutt. Er denkt das nur. Einmal hatte er es dem Sturmbannführer gesagt. Aber der hatte ihn stehen lassen, ohne ein Wort zu antworten.

Was weiß so ein Sturmbannführer? Was wissen überhaupt die Leute. Das lebt so dahin, paart sich mit Lust und mit dem Weib irgendeiner Wahl und setzt Kinder in die Welt. Was wissen die, wie einem zu Mut ist, der ein Mann wie alle, doch nie ein Weib besessen. Dem der Trieb zur Liebe zum Hass zergoren war. Was wissen davon die Leute. Was wissen sie von einem, dem die Nöte des Leibes sich nicht von der Seele trennen wollten. Einer, der anfing, Knaben anzusehen und junge Männer, so wie er Mädchen angesehen hatte, und alles lief ihm gleichermaßen davon. Alles floh den Mann von Block und Beil. Warum ihn, warum nicht die Staatsanwälte, die dergleichen fordern, warum nicht die Richter, die solche Urteile aussprechen und dann einen Ohnmachtsanfall bekommen, wenn sie bei der Vollstreckung dabei sein müssen. Was wissen sie denn davon, dass er, Hermann Hutt, der das Staatsbeil führte, gerade dann und nur dann sich Mann fühlte, wenn er tötete. Der schwarz ausgeschlagene Schafott, das war sein Brautgemach, der Richtblock war sein Brautbett und das riesige Beil in Gemeinschaft mit dem, dem der Kopf abgeschlagen wurde, das war in grässlicher Unentwirrbarkeit, die Braut. So nah verwandt, Lieben und Töten. Leben schaffen und Leben vernichten, so nah verwandt. Hatten das die Menschen aus Hermann Hutt gemacht, war dann nicht auch die Natur mit dabei? Die Hochzeitsstunde auf dem Zuchthaushof. Angetreten zum Karreé. Achtung, präsentiert das Gewehr. Die Bretter des Schafotts ragen schräg und unendlich hoch ins Firmament, der Himmel sackt hinter Mauern ab. Zwei Satansknechte werfen die Braut nieder. Es schwankt, das ist ihr das Schaukelbrett. Zwei dicke Hände mit Ringen darauf, umklammern den Stiel der Reichsaxt. Heben sie hoch empor, welch ein Schwung. Alles ist rot, dunkel und doch rot, und der blanke Stahl blitzt für einer Sekunde Bruchteil wie ein blühender Stern, ein Meteor, und fährt so nieder. Alle Kraft, alle Macht der Welt ist in diesem schmetternden Schlag. Und da schießt das Blut hervor, Blut, der Urquell, und der Mann mit dem Beil weiß nicht mehr, von wo das Blut strömt, von jenem dort oder aus seinem eigenen Leibe. Der in diesem Augenblick schrecklichste aller Menschen ist bleich geworden.

 

Darum geht es. Was wissen die davon. Die bezahlen es mit Geld. Und das Geld, das muss er haben. Das ist ein Geld wie keines. Davon geht kein Pfennig ab. Keine Steuern und kein Groschen für Winterhilfe und für all die blechernen Tellersammlungen, die das soziale, klingende Gewissen des Dritten Reiches sind. Oder sollte er eines Tages einer alten Frau am Tisch der Wohlfahrt sagen »Mütterchen, für die warme Wassersuppe, die du da isst, habe ich einem Mann den Kopf abgehauen. Vielleicht war es dein Sohn oder dein Gatte oder dein Bruder, dass du vor der Zeit ein altes Weib darob geworden bist. Und guten Appetit auch, für die Suppe.«

Nein, ganz und gar musste er das Geld haben. Der Klubsessel einmalig. Und gelegentlich die Brasilzigarren. Aber das Geld, das Geld floss jetzt reichlich. Die deutsche Reichsaxt hat zu tun. »Köpfe werden rollen«, hatte Hitler gesagt. Und am Tage darauf war Hermann Hutt in die Nazi-Partei eingetreten. Er war bis dahin nur Mitglied des Tierschutzvereins gewesen. Er war nicht für Vereinsmeierei. Er wollte es nicht darauf ankommen lassen, ob man ihn aufnahm oder abwies. Aber damals war er in die Partei eingetreten. »Köpfe werden rollen.« Nicht rollen. Sie fallen. Aber das war ein Programm (für Hermann Hutt, Schlächtermeister und Scharfrichter). Mochten sie alle sagen, Hitler habe kein Programm, oder er habe es nicht gehalten. Was ging ihn das an. (Nichts von Politik.) Das Programm, das man ihm in Aussicht gestellt, das hatte man gehalten. Das Geld muss sich häufen. Muss zu einer Menge werden. Gerade darum, weil er nicht Weib hat und nicht Kind. Eines Tages wird man sagen: »Scharfrichter Hutt, Sie haben dem Staat lange genug treu gedient. Andere wollen auch mal ran.« Dann wird er sein Geld nehmen und fort fahren. Nach Monte Carlo wird er fahren. In das Spielcasino wird er gehen. Und mit einem König von Spanien und einem König von Siam wird er am Roulette-Tisch sitzen. Vielleicht werden noch andere Könige da sein. Und er wird sagen: »Majestät, sie waren einmal König. Ihre Krone, wo ist sie jetzt? Ich aber habe höchst königliche Menschen und auch andere, die aber zählen nicht, eigenhändig enthauptet. Und da setze ich jetzt so einen Kopf auf Rouge. Und Sie, Sire, setzen Sie auf Noir?«

»Wissen Sie, wessen Kopf ich da eben auf den Tisch getan habe? Das ist Etkar Andrés Kopf. Ich habe den Mann gesehen, Sire. Das eine Mal nur, als er das Schafott bestieg. Ich weiß nichts von dem Mann. Sie sagen, er habe dafür gesorgt, dass die proletarischen Arbeiter der Welt einander mit geballter Faust grüßen. Sie sagen, er sei der beste Freund der deutschen Arbeiter gewesen. Er war selbst ein Arbeiter, sagen sie. Sie sagen auch, wegen dieses Mannes hätten manche Könige oder sonstwie Mächtige der Erde nicht ruhig schlafen können.«

»Ihre Ehre ist nicht meine Ehre und meine Ehre ist nicht Ihre Ehre. Denn uns trennt die tiefe Kluft der Weltanschauungen. – Sollten Sie trotzdem das Unmögliche hier möglich machen und mich zum Richtblock bringen, so bin ich bereit, diesen schweren Gang zu gehen, denn als Kämpfer habe ich gelebt und als Kämpfer werde ich sterben.«

Wer sprach da? Wer, dass wir nicht schlafen können?

Nun, sie können wieder ruhig schlafen. Ich habe ihm den Kopf abgeschlagen. Das war der großartigste Tag meines Lebens. (Man sagt, es seien mehr Tränen um ihn geweint worden, als um alle Könige der Welt zusammen.) Als er vor mir stand, sah er mich an und lächelte. Er war der einzige Mensch, der mir je zugelächelt hat. »Rotfront, Genosse«, sagte er zu mir, dem Beilrichter des Dritten Reiches. Da konnte ich nicht anders. Ich sagte »Rotfront, André«, aber ich sah schon nichts mehr, der Rausch war schon um mich und ich hob das Beil. – Später ging ich durch die Stadt. Wo Zettel geklebt waren, mit der Mitteilung von des Mannes Hinrichtung. Menschen standen davor und lasen das. Und dann gingen sie fort und sprachen kein Wort. Ich aber, Sire, ich habe das Haupt abgeschlagen. Und es ist Etkar Andrés Haupt, das ich auf Rouge setze. Wagen Sie es, Majestät, und setzen Sie Noir.«

Nein und nein. Den Mann muss er haben. Den Mann und das Geld. Wie kommt ein hergelaufener, amerikanischer Gesandter dazu, sich da hineinmischen zu wollen? (Was geht das diesen Amerikaner denn an?) Wir brauchen hier überhaupt keine Ausländer (keine Engländer und keine Franzosen und keine Amerikaner.) Deutschland für die Deutschen. Das ist eine rein deutsche Angelegenheit. Da hat sich niemand hineinzumischen.

Das Geld muss er haben. Und den Mann. Der gehört ihm doch schon. Der war schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Nur der Führer hat das Recht, hier hineinzureden. Den wird er nicht begnadigen, den nicht. Der steht schon unter dem Beil. Jawohl. Hat nicht Hermann Hutt schon Nachrichten erhalten, sich für diese Hinrichtung bereit zu halten? Jede Stunde hätte das Telegramm kommen können, das ihn berief. Hermann Hutt ballte die Hand, öffnete und schloss sie wieder. Er fühlte die warme Ebenheit des eichenen Beilgriffs in der inneren Fläche der Hand. Die Ringe würde er abstreifen und in die Westentasche stecken, um fester das Holz umklammert zu halten. Aber erst im letzten Augenblick. Ringe gehörten zur Festlichkeit der Stunde. (Der Mann steht schon unter dem Beil. Und da kommt irgendein Ausländer und pfuscht da hinein?

Den Mann und das Geld. Das Geld und den Mann. Hier geht es um Deutschlands Ehre. Hermann Hutt hat sich um Politik nicht gekümmert, das ist wahr. Als er Pg. geworden, hatte er eigentlich nichts getan als Beiträge bezahlt. Zu Anderem wollte man ihn auch wohl garnicht haben. Nicht einmal zum Gasexerzieren. Aber einerlei. Er war Pg. Und seine Pflicht hatte er getan. Wie keiner im ganzen Reich. Gewiss, es geht ihm hier ebenso sehr um seine eigene Sache, wie um die Sache der Nation. Der Mann steht unter dem Beil und das Geld ist schon gerechnet. (Politik hin und Politik her.) Die Partei hatte die Pflicht, ihm zu seiner Sache zu helfen. Er wird zum Sturmbannführer gehen. Man muss die SA auf die Straße holen. Man muss eine Demonstration machen. Deutschland für die Deutschen. Gibt es da nicht einen amerikanischen Konsul in der Stadt? Man muss vor das Konsulat ziehen. Die SA, das Horst-Wessel-Lied. Und dann die Scheiben einwerfen.

(Das ist man dem Führer schuldig. Der Führer sollte doch ermordet werden. Die Bomben sind sichergestellt. Der Führer muss wissen, dass die Nation hinter ihm steht.)

So geht er zum Sturmbannführer. Dem leuchtet die Sache ein. Aber er hält sich nicht für zuständig. Das müsse der Gauführer entscheiden. Der Gauführer? Dann hörte die Demonstration doch auf, eine spontane Äußerung des Volkes zu sein. Darum ginge es doch. Gewiss. Gewiss. Aber spontane Geschehnisse sind nur wirkungsvoll, wenn sie richtig vorbereitet und organisiert sind. Ohne den Gauführer geht das nicht.