Ein Mann liest Zeitung

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Konsul von Liberia auf Fernando Po, spanische Station.

Der zählt die abgelieferten Männer persönlich nach.

Stück für Stück, Kopf um Kopf.

Und erst dann dürfen die Kerls Soldaten werden,

Für General Franco und Juan March.

Steht das in dem Exposé?

Das Exposé? Das Exposé! Was wollen sie vom Exposé?

Das ist rein und weiß, wie Schnee.

Das liegt ja doch beim Völkerbund,

Und beim Völkerbund treffen Sie Mr. Sottile.

Den kennen Sie wieder nicht?

Das ist auch ein schwarzer, ehrenwerter Gentleman,

Delegierter von Liberia, beim Völkerbund.

Er hat blanke, weiße Visitenkarten,

Mit dem Wappen von Liberia

Und dem schönen Wahlspruch rundum:

»Die Abschaffung der Sklaverei und die Liebe zur Freiheit haben uns hierher gebracht.«

Davon nahm der Völkerbund Kenntnis und so bekam Liberia eine Völkerbundanleihe. Mr. King brauchte nicht in Konkurs zu gehen. Nur ab und zu macht er einen kleinen Ausgleich. Unter der Hand. Mit den von ihm geliebten Landeskindern.

Denn:

Die Sache ist an dem,

Sie haben ein System.

Das ist schon ein System. Bitte sehr. Kein Wort weiter. Was wollten Sie sagen? Ich frage, was Sie sagen wollten. Ich meine, was Sie da eben dachten. Ihre Gedanken sind Ihre private Angelegenheit? Nichts ist private Angelegenheit. Das Denken schon garnicht. Das werden wir Ihnen schon beibringen. Sie Denker, Sie.

Ich schließe die Versammlung. Die Rhapsodie ist aus.

Die Wahrheit? Das ist doch alles zusammengedichtet. Wie?

Schlechte Verse? Aber die reine Wahrheit. Schweigen Sie. Die Versammlung ist geschlossen, die Rhapsodie ist aus. Beschweren Sie sich beim (seligen) Völkerbund.

*

Gut, gut. Es hat auch das so sein Gutes. Der Mann Leonhard Glanz, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, geriete in äußerste Peripherie, wo es sich doch hier um ihn dreht und er kein alter Kaiser ist, dass er am marmelsteinernen Tische sitzen dürfte, mit nichts beschäftigt, als sich den Bart wachsen zu lassen, durch die Tafel hindurch. Sondern er sich mit der Zeitung herumschlagen muss, in der von allem dem ja garnichts steht. Und niemals davon etwas darin gestanden hat. Hier nicht und dort nicht und überhaupt in keiner ehrenwerten Zeitung der Welt. Ich bitte Sie, Sklavenhandel und so. Ist das ein Thema für die Zeitung? Ist das ein moralischer Stoff? Informiert man so seine Leser, die ihre Ruhe haben wollen? Bitte sehr, ich kann auch solche Reime machen:

Hallo, hier ist Afrika.

Donnerwetter, Afrika

Algier, Tunis und Marokko,

Samum, Monsun und Schirokko.

Tsetsefliegen und Bananen,

Zulus, Panther und Lianen,

Niger, Berber, Karawanen,

Palmen, Löwen, Zebra, Gnu,

Suaheli, Kautschuk, Kru,

Kaffee, Schlangen und Vanille, Hottentotten, Pumas, Kongo,

Kesselpauken und Fanfaren, Bambus, Palmenöl und Malongo.

Bantus, Kiliman und Dscharo, Tschadsee, Massais, Beduinen,

Gorillas und Nilpferd und Nilpferdpeitschen. Kimberley- und Rhodes-Minen.

Kamerun und Kordofan,

Emin Pascha und Sudan,

Stanley, Wissmann, Livingstone

und so weiter. Sehen Sie. Das sind 28 Zeitungsartikel über ihre vertrackte Negerfrage. Oder ein Hörspiel für Radio, nachmittags von vierzehn Uhr, bis vierzehn Uhr fünfundzwanzig. Überhaupt steht alles, was Sie über diese Dinge zu wissen brauchen, doch in der Zeitung. Jawohl, man muss es nur zu finden wissen. Weiter hinten, noch weiter. Halt. Na also: Bar- und Tanzparkett Imperial. In diesem Monat allnächtlich die vier Johnsons. Die mondänste Neger-Jazz-Band. Und Fatme, die rassige, arabische Bauchtänzerin. Bauchtänzerin ist gut. Diese Fatme. Nein, bitte sehr, ich bin Kavalier. Ich habe nichts gesagt. Ich sagte nur: Diese Fatme. Sehen Sie, da haben sie alles, was ein zivilisierter Mitteleuropäer von diesen Dingen zu wissen braucht. Darüber hinaus hatte sich auch Leonhard Glanz nicht den Kopf darüber zerbrochen. Und jetzt auf einmal kommt er da nicht mehr zurecht, wegen des Weißbuchs, das eine spanische Regierung einem löblichen Völkerbund zu überreichen sich anschickt.

Was kann denn nun in diesem Weißbuch stehen, dass Mussolini seine Veröffentlichung als einen unfreundlichen Akt ansehen würde? Dass Italien auf Seiten des Rebellengenerals Franco regelrecht Krieg führt gegen die legitime spanische Regierung? Das weiß doch die ganze Welt. Das weiß sogar das arme Schneidermeisterlein in Berlin. Das braucht doch nicht noch schriftlich bewiesen zu werden. Was änderte sich mit solchem Weißbuch von dieser Zeiten Spott und Schande, in dieser Welt des Als-Ob. Die Italiener schießen auf die Spanier, den Briten an der Nase vorbei, und die Briten tun, als ob sie es garnicht merkten. Deutsche Flugzeuge segeln nächtlich über Frankreich nach Spanien und die Franzosen tun, als ob sie es garnicht wüssten. Regierungschefs erklären, dass sie ein Regime von Rebellen weder als Regierung, noch als kriegführende Macht anerkennen können und tun am nächsten Tage so, als ob sie das nicht gesagt hätten. Seeräuber des Jahres 1937 verseuchen die Meere mit Treibminen, nennen solches Banditentum eine Blockade, und die gescheitesten Seerechtskenner der Schifffahrt treibenden großen Nationen tun so, als ob das rechtens sei und nicht Piraterie. Infam käufliche Landsknechte der Luft (Luftknechte?) werfen Brisanzbomben auf Frauen und Kinder und die Kulturwelt tut, als ob nicht festzustellen sei, wer diese schurkische Mordbrennerei angestellt hat. Wer da lügt, dem glaubt man, als ob er die Wahrheit spräche. Wer die Wahrheit spricht, den sperrt man ein, als ob er ein brutaler Verbrecher sei. Schtaatsmänner schmettern faustdicke Verlogenheiten in die Welt und die Pressekommentatoren tun, als ob sie diskutierten. Kriegsverbrecher läuten Friedensglocken und Kirchenfürsten tun, als ob es aus ihren Domen tönte. Mit dem Als-Ob voltigiert eine um alles wissende Menschheit über die breitesten Abgründe, aus denen die Hölle zum Himmel stinkt. Alles das an einem einzigen Tage und im Bereich der hohen Politik, sodass sogar eine ganz simple, opportunistische Zeitung für den Familiengebrauch dabei das große Kotzen bekommt und ihren Hauptartikel, vorne, auf der ersten Seite mit dicker Schlagzeile überschreibt: »Die Groteske von Bilbao«, als ob das ungeheuerliche Frevelspiel wirklich eine Groteske sei und seine Tragödie erst später einsetzen sollte.

Wölfe hängen sich lose Schafsfelle über und die arbeitsamen Pferde, wohl wissend, dass es schlecht verkleidete Raubtiere sind, warten ruhig ab, dass sie ihnen an die Gurgel springen? Anstatt mit kräftigem Huftritt sie zu empfangen? Nein, aber: Hier ist eben der große Karneval des Als-Ob.

Raubmörder gehen im Frack auf Gesellschaft und die Damen und Herren reichen ihnen die Hände, weil der Frack verpflichtet. Frack ist mehr als Mörderhände. Obwohl sie wissen, dass es auf die Brieftaschen abgesehen ist. Die Fracks machen einander Verbeugungen. Ganz als ob …

Ein Massenmörder von Weltrekord lässt sich gerne mit Kindern fotografieren. Das ist nicht denkbar? Richtig. Denkbar ist es nicht. Nur die Wirklichkeit bringt das fertig. Die Kinder machen ein ängstlich verschüchtertes Gesicht, während sie ihm Blumen überreichen. Sie wittern die Blutatmosphäre. Er aber, der Massenmörder, grinst. Was mag in solchem Augenblick in ihm vorgehen? Es geht vor, dass er denkt: Hoffentlich ist der Grinser gut auf die Platte gekommen, wegen der Popularität.

Herostrat zündete den Artemis-Tempel zu Ephesus an. Dieser abscheuliche Massenmörder da eben aber hieß Haarmann. Er ward verurteilt und gerichtet. Die Namen sollten der Vergessenheit angehören, aber leider erhalten sie sich.

Also geben Sie schon ihr Weißbuch her, oder geben Sie es nicht her. Überreichen Sie es dem Völkerbund, offiziell, oder präsentieren Sie es den Mitgliedern privat. Was darin steht, wissen wir so schon und wir werden tun, als ob wir es nicht gelesen hätten. Letzter, endgültiger Kompromissvorschlag.

Ich glaube an die Macht der Lüge. Kommt einer und will mir durchaus die Wahrheit sagen, schmeiß ich ihn hinaus. Einer, der durchaus etwas will, ist ein Fanatiker. Fanatiker sind sowieso polizeiverdächtig.

Wieso verdächtig? Das habe ich doch gleich gesagt. Er hatte immer schon so einen komischen Blick. Unsere Waschfrau hat das auch gesagt, dass Leute mit so komischem Blick zu allem fähig sind. Auf einen Diebstahl wirds dem auch nicht ankommen. Wo heutzutage so viele silberne Löffel gestohlen werden. Wer weiß, womit der isst. Der Hungerleider. Und wer stiehlt, der raubt. Bis zum Mord ist es nicht mehr weit. Am besten, man hängt ihn gleich. Wo er vielleicht noch dazu ein Jud ist. Aufhängen. Aufhängen! An den höchsten Galgen.

Das Volkswohl fordert es. Das Volkswohl, vertreten durch die öffentliche Meinung. Die öffentlich Meinung, aufgehetzt durch eine Pressekampagne. Die Pressekampagne, inauguriert als Ablenkungsmanöver, zwecks Wiederherstellung der durch die Börse tangierten Ruhe und Ordnung.

Einerlei. Der Mörder muss gehängt werden. So ein Lump. Hat silberne Löffel gestohlen. So ein Kerl mit komischem Blick. Denken Sie nur. Ein Fanatiker sag ich Ihnen. Hat partout die Wahrheit sagen wollen.

Zum Beispiel wird da in dem spanischen Weißbuch stehen: Ein Befehl des italienischen Divisionsgenerals Mancini, (wirklich dieser Leute-in-den-Tod-Schicker heißt Mancini, wie jene Maria, die eines gewaltsamen Kardinals schöne Tochter war – ihr Bild hängt in irgendeiner internationalen Galerie, vielleicht sogar im Kaiser-Friederich-Museum in Berlin, wenn es nicht zu Devisenzwecken ins Ausland verkauft wurde –, und wie jene schöne Zigarre, die durch Thomas Manns Buch vom Zauberberg duftet) gegengezeichnet von dem italienischen Generalstabschef Ferraris, datiert »Arco, 16. März 1937« als in Spanien, indem es heißt:

 

1) Es sind offenbare Fälle von Selbstverstümmelung festgestellt worden.

2) Es ist festgestellt worden, dass Soldaten Verbände getragen haben, obwohl sie in Wirklichkeit garnicht verwundet waren.

3) Es ist festgestellt worden, dass wirklich Verletzte von Leuten begleitet werden, die dazu keineswegs beauftragt waren und selbständig solche Gelegenheiten ausnutzten, um sich aus der Feuerlinie zu entfernen.

Weiter wird da stehen, dass der General zur Abstellung solcher Missstände höchst drakonische Maßnahmen anordnet, zum Beispiel: sofortiges Erschießen im Fall der Selbstverstümmelung. Der General wird nicht unterlassen zu bemerken, dass die »gerechte Strafe« des Erschießens an Selbstverstümmlern bereits in fünf Fällen vollzogen worden sei.

Womit, wenn man die wichtigtuerischen Randbemerkungen weglässt, bewiesen wäre, dass die italienischen »Freiwilligen« auf der Seite des spanischen, ordentragenden Generals Franco gar keine Freiwilligen sind, sondern für Interessen, die nicht die ihren sind, in den Krieg kommandierte, arme Soldaten, die einen Finger oder mehr drangeben, um nur dem Gemetzel zu entgehen, der Chance, als Kämpfer gegen Recht und Freiheit totgeschossen zu werden. Dass aber, wie in der großen Zeit, der Hauptfeind einmal wieder hinten steht, mit »gerechter Strafe« des Erschießens für alle, die ihr Leben lieben, und nicht wissen, wofür sie es wagen sollten.

Aber das kennen wir doch längst. Es braucht kein Buch in Weiß zu kommen, um uns so bekannte Dinge zu erzählen. Auch dass die neuen Römer keine Kriegshelden sind, erfährt die Welt nicht zum ersten Mal. Und das, was sie nun eigentlich sympathisch macht, das eben will Mussolini, der Duce, nicht, dass im Wege über das Weißbuch sich etwa in Italien selber etwas darüber herumspräche. Denn daheim wird so getan als ob, … als ob zum Beispiel immerfort gesiegt würde.

Und das Nichtinterventionskomitee des Völkerbundes tut so, als ob ein mit dem Todesstrafenkommando hinter sich an die Front geschleifter Söldner als Landsknecht des internationalen Faschismus, gleich sei einem Vorkämpfer der für Spaniens Freiheit kämpfenden, internationalen Brigade.

Leonhard Glanz, verknautschter Mann, dessen Gedanken jetzt anfangen, gleich noch unbeholfenen Schmetterlingen aus den Puppen auszuschlüpfen, fällt dir bei diesen Betrachtungen eines zeitverschwendenden Zeitungslesers gar nichts ein, was dich angehen könnte? Nichts, als nur zu moralischer Entrüstung antreibendes Erstaunen? Und wenn du nun gar im Zorn mit der Hand auf den Tisch schlagen wirst, dass die drei Gläser mit dem schon lauwarm gewordenen Wasser, die ein vorsorglicher Piccolo dir hinstellte, auf den Nickelteller überpantschen, was dann? Was ist geholfen, geändert, wenn der in Ewigkeiten gerichtete, Hilfe heischende Blick an der nächsten Wand lange hängen bleiben wird? Was ist, um deinen schönen, großen Hass? Gar nicht zu gebrauchen? Nichts noch fällt dir ein? Du hier oben. Ohne Arbeit und Beschäftigung. Und da unten alle Mann an der Front für die Freiheit. Na? Fällt dir garnichts ein? Nein. Noch nicht. Nichts, was uns veranlassen könnte, die Harfe zu schlagen und die Zimbeln oder etwas ortsangepasster, Beifall zu trampeln. Nichts fällt dir ein, was uns veranlassen könnte, dieses Buch jetzt und hier in die nächste Ecke zu hauen und zu sagen: Gut und sehr gut. Und der Rest interessierte weder Schreiber noch Leser. – Vorläufig tust auch du nur so, als ob mit dir etwas Ordentliches los wäre, vorläufig bist auch du nur ein Als-Ob-Mann. Wie sollte es anders sein in dieser Zivilisation des Als-Ob, in der du keine Ausnahme bist, sondern ein Durchschnittstyp. Ein wenig mehr erscheinen, als man ist? Bitte. Warum nicht. Vielleicht wirst du morgen sein, was du heute zu sein vorgibst. Der eine möchte gerne Box-Weltmeister im Schwergewicht sein. Oder Napoleon. Oder Diktator des Weltmarktpreises für Zahnstocher in Zellophanpackung. Oder lieber Gott. Die Ideale sind unterschiedlich. Aber diese Existenz im Als-Ob, das ist schlimm. Das ist böse. Das ist Barbarei. Das treibt nicht welchen Zielen zu, das stösst hinab. In die falsche Genügsamkeit, in die Lebensverlogenheit. Talmi als Wertmesser alles Menschlichen. Der Mensch, nicht mehr im Dasein vom Schicksal geformt, getrieben, gehämmert, gehärtet, gefeilt und als Präzisionsarbeit vollendet. Der Typ, fix und fertig gestanzt, als ob das ein Mensch sei.

Wie viele Bücher, Leonhard Glanz, hast du gelesen? Wirklich gelesen, nicht auf Eisenbahnfahrten mit ihnen die Zeit totgeschlagen. Was stand denn eigentlich in den Büchern? Richtig, richtig. Wozu braucht ein gestanzter Mensch überhaupt Bücher zu lesen? Er liest auf sechs Zeilen, was ein Anderer über das Buch in die Zeitung schreibt, dann weiß er genügend Bescheid, um mitzureden. Hauptsache, dass man über ein Buch reden kann, als ob man es gelesen hätte.

Da geht ein Fotograf hin und macht von einem Haufen Schotter aus der Froschperspektive eine Aufnahme, dass das fertige Foto mit Licht und Schlagschatten nachher wie eine Kreuzung des Popokatépetl mit einem Schachbrett aussieht. Und nun steht ihr vor diesem Stückchen stibitzter Natur auf Bromsilberpapier, du, und der Fotograf, und das ganze gestanzte Publikum und staunt den gelungenen Trick an, als ob da ein Kunstwerk sei. Und der kleine Techniker von einem Fotografen hält sich für einen Rembrandt, obgleich er noch nicht einmal eine Ahnung hat, was Lovis Corinth eigentlich ist. Ist, lieber Freund. Nicht wer das war. Darüber hast du ja gelesen. Was das ist!

Wohin gehen Sie heute Abend? Ins Konzert? Was ist denn da heute? Beethovens Siebente? Ach so, Beethoven. Ich gehe immer zu Furtwängler. Furtwängler ist, was früher Nikisch war und bei Nikisch war schon meine selige Mutter abonniert. Wieso müssen Sie aber ausgerechnet heute ins Konzert gehen? Wissen Sie, ich habe einen so wunderbaren Grammophonapparat zu Hause. Mit elektrischem Antrieb. Da hab ich eine Giannini-Platte. Ich sage Ihnen, genau als ob die Giannini im Nebenzimmer steht und singt. Wie die Schumann-Heink, als ich noch jung war. Wollen Sie nicht? Radio haben Sie selbst alle Tage? Was Sie für ein komischer Mensch sind.

Als ob. Als ob. Als ob. Als ob das noch Menschen seien. Als ob das noch Persönlichkeiten wären. Als ob sie noch eine Seele hätten. Als ob sie noch vom Geist getragen würden. Als ob sie noch sich des Verstandes bedienten. Als ob sie noch für oder wider Gott kämpften, ihn anbeteten oder ihn herunterholten vom Piedestal, um selbst eine bessere Welt schaffen zu helfen. Als ob sie noch weinen könnten um alle die Sachen, die schmählich vertan sind. Als ob sie noch jubilieren könnten, ob einer Rose, die aufgeblüht ist, oder einer Fabrikbelegschaft, die nach sechs Wochen schweren Streiks sich eine Lohnerhöhung erkämpfte. (Ich bitte Sie, das mit der Rose war so hübsch und nun kommen Sie gleich wieder mit so sozialistischen Bemerkungen.) Als ob, als ob, als ob.

Serienware. Gestanztes Blech. Rasierklingen vom laufenden Band. Gepresste Knöpfe aus Bakelit. Messingschrauben, Groß für Groß. Genormte Schränke, die Wäsche links, die Kleider rechts. Anzüge von der Stange mit auswattierten Schultern, sieben komma fünf Zentimeter, Pariser Mode, alles schottisch, der Popo wird in diesem Jahre vorne getragen. Achtung: Auf die Kalorien kommt es an. Achtung: Auf die Vitamine kommt es an. Die Volksschule, die Mittelschule, die Hochschule, je nach Portemonnaie. Liefern den Jahrgang fix und fertig. Das brauchen Sie nicht zu wissen, das wird im Examen nicht gefragt. Dass da auch nicht. Aber dieses, das kommt bestimmt dran. Fix und fertig, der genormte Mensch. A, Klassiker und fremde Sprachen. B, Rechnen und Radiobasteln. C, Kunst und Fußballregeln.

Ich bin der Mensch des Als-Ob. Ich habe keine Weltanschauung. Ich tue auch nicht, als hätte ich eine, und hoffe auch nicht, dass sie mir schon nachwachsen wird. Ich habe die Spielregeln, als ob ich eine Weltanschauung hätte. Ich bin ein nationaler Guatemalteke. Guatemala, erwache! Madagaskar, erwache! Andorra, erwache! Bravo, die Nationalhymne. Warum nehmen Sie den Hut nicht ab? Sie wussten das nicht? Sie kennen die Nationalhymne von Honduras nicht?

Die geistigen Dinge, mein Herr, warum so kompliziert, die geistigen Dinge sind die Theorie des Lebens. Theorie muss auch sein. Ich habe da was, als ob es eine Theorie sei.

Aber die Praxis. Auf die Praxis kommt es an. Wir wollen nicht als etwas erscheinen, wir wollen etwas sein. Nicht mehr erscheinen als wir sind, sondern genau sein, als ob wir etwas wären.

Das ist doch ganz einfach. Mit den geistigen Dingen fängt es an und mit den Dingen des täglichen Gebrauchs hört es auf. Alles als ob. Alles prima. Alles schick.

Taxi auf Stromlinie, als ob es ein eigener Wagen sei. So fahren wir durch die Welt. Als ob sie uns gehörte.

Ich bin von Kopf bis Fuß auf Als-Ob eingestellt. Ich trage meinen Papierkragen, als ob er Leinen sei. Mein Filzhut ist aus gebackenen Wollresten. Meine Crêpe de Chine-Krawatte aus Kunstseideersatz. Die lila Streifen in meinem Hemd sind hinaufgedruckt. Und so weiter, bis zu den Gummihacken unter dem Einheitsschuh. Meine Frau hat Pleureusen aus Baumwollfäden auf dem Hut und eine lederne Handtasche aus Pappmaché. Sie trägt einen Elfenbeinschmuck aus weißlackiertem Laubsägeholz, einen Schildpatt-Kamm aus Galalith und klebt die ausgerutschten Maschen im baumwollenen Florstrumpf. Unser Mahagoni-Schlafzimmer auf Abzahlung ist aus Tannenholz mit Weichsel furniert. Unsere Baccarat-Obstschale aus nachgeschliffenem Pressglas und der Kaffee, den wir trinken, ist zwar braun, aber von gebranntem Korn, außer wenn wir Besuch haben. Kinder? Nein. Wir sind doch keine Proleten. Wissen Sie, ich hätte schon gerne gewollt. Aber meine Frau wollte lieber einen Eisschrank. Vielleicht nächstes Jahr.

Das ist die gerade Linie des Als-Ob: Von der Margarine auf dem Brot, als ob es Butter sei – während doch ein Bürgermeister einer großen amerikanischen Stadt einen Erlass herausgeben musste, damit nicht mehr so viel Milch in den Fluss gegossen werde, dass die Fische sterben, wobei vom Sterben der Säuglinge und Kinder infolge Unterernährung nicht die Rede war – bis zu dem spanischen Weißbuch, das auf allen Seiten die Tragödie des schändlich verratenen, zerschlagenen, in Fetzen gerissenen Völkerrechts feststellt, und von dem der Völkerbund offiziell Kenntnis zu nehmen nicht für opportun hält. Das ist eine gerade Linie, und die führt weiter und weiter, bis …

Auf dieser geraden Linie muss die Politik sein, wie sie ist, – kleiner Moritz, – und die erste Seite des Hauptblatts aller opportunistischen Zeitungen der Welt muss ausschauen, wie sie ausschaut. Als ob sie die Wahrheit sagte. Die Wahrheit, von der man hier ein Wort fortlässt und da eines hinzugibt und keiner kann sagen, ob eine neunzig-, achtzig-, siebenzig-, sechzig-, einundfünfzig-, neunundvierzig-prozentige Wahrheit nicht immer noch die Wahrheit des Als-Ob sei.

Da haben wir ja noch den Leitartikel. Erste Spalte links, an den übrigen Wahrheiten entlang und da steht gerade:

»Was man heut zu Tage Politique nennet, ist mehrenteils so verkehrt, daß man es mit Recht Filoutique nennen könte. Denn stehlen und betrügen, wenn man nicht, oder doch schwerlich kann ertappet werden, wird zum Unterschiede des groben und öffentlichen Diebstahls, eine Scharfsinnigkeit und Klugheit genennet, und man nennet wohl gar die, so darin sich auszeichnen, galants Maitres. Wenn man solcher Leute ihre politische Finessen und Staats-Intriguen unparteiisch examinieret: so wird man befinden, daß sie dadurch ihrem Nächsten mehr schaden, als die öffentliche Filous. Denn oft werden redliche Leute, durch falsche Complimente und Conteflationes, wodurch man bey jedem Wort, wider das Gewissen, unverantwortlich lüget, um Ehr und Gut gebracht, und ein solcher Betrüger lachet in sein Fäustchen, daß er andere so bey der Nase herum führen, seinen Nutzen und Vorteil von ihnen ziehen und selbige dafür mit leeren Hoffnungen abspeisen kan. Mit einem Wort, oder kurz zu sagen, die verkehrte Politique … bestehet meistenteils in Wind, leeren Worten und listigen Vorstellungen, dergestalt, daß sie den Betrug in den Armen, und die Falschheit auf dem Rücken trägt.«

Dieser Leitartikel stammt freilich nicht von einem berufenen Leitartikel-Redakteur dieser Zeit, sondern er stammt von dem deutsch-römischen Kaiser Heinrich VI., ward im Jahre 1195 verfasst, ward im Jahr 1751 in einem Band »Staats-Gespräche« zu Erfurt abgedruckt und erhellt daraus welch einen barbarischen, unermesslichen Rückschritt diese Welt gegen das Jahr 1751, in dem derartiges noch abgedruckt und gar gegen das Jahr 1195 getan, in dem das gesagt und aufgeschrieben werden konnte. Von einem Kaiser, wohlverstanden, der immerhin damals die pyramidale Spitze der herrschenden Klasse von Europa und angrenzende Bezirke war.

 

Und nun liest so ein Leonhard Glanz die »Complimente und Conteflationes«, wodurch »bei jedem Wort wider das Gewissen unverantwortlich gelogen« wird, als ob zwei mal zwei tatsächlich fünf sei. Als ob Banditen aufgehört hätten Banditen zu sein, nur weil sie Macht ihres Banditentums imstande sind, fünfzig oder hundert Millionen Menschen auf einmal in die Fresse zu schlagen. Als ob die wider jedes Kriegsrecht – das ist auch so ein Wort, Kriegsrecht – in Guernica von blutsäuferischen, tobsüchtig gewordenen Berufsmördern erschossenen, zerschmetterten, zerfetzten Kinder und Frauen dadurch wieder zum Leben erweckt würden, dass die feigsten Schurken der registrierten Kriegsgeschichte nachher behaupten, dass sie es nicht gewesen seien. Und alle opportunistischen Leitartikler ihnen die Hehler machen.

Hatte sich der Mann Leonhard Glanz nicht schon beizeiten daran gewöhnt, an nichts zu glauben? Zuerst hatte er den sogenannten Glauben seiner Väter abgelegt, als es nicht in der Mode war, orthodoxer Jude zu sein. Er wurde ein liberaler Jude, der mit Behagen frische Schinkensemmeln aß, wenn ihm der Appetit darauf stand, und der nun noch einmal im Jahre in den Tempel ging, am Versöhnungstag, mit Gehrock und Cylinderhut. Dann legte er gewisse moralische Vorurteile ab und etliche sogenannte Sittlichkeitsbegriffe auf sexuellem Gebiet, weil er sich ja schließlich nicht von jedem bettseligen Kleinmädchen sagen lassen konnte, dass er Hemmungen habe. Und damit waren die Möglichkeiten seines Glaubens und seiner Revolutionen gegen den Glauben erschöpft. Er glaubte nur noch daran, dass ein anständiger Kaufmann seinen Verpflichtungen nachzukommen habe, was sich dann in der Praxis als l’art pour l’art erwiesen hatte, und ferner an den Leitartikel des Tages, jeweils für vierundzwanzig Stunden. Erst in der Zeit von Deutschlands nationaler Erhebung hatte er auch den Glauben an die Heiligkeit des Leitartikels aufgegeben und – zu seiner Ehre – ihn in der Zeit seiner nun rund achttägigen Emigration auch nicht wieder zurückgewonnen. Er hielt sich an die Nachrichten. Denn Nachrichten sind Nachrichten, dachte dieser, von technischen Dingen des Zeitungswesens so garnichts verstehende Durchschnittsmensch.

Hier ein Wörtchen weg. Dort eines hinzu. Hier eine Zeile fett gedruckt. Dort ein Telegramm mit kleinster Schrift, petit, compress. Neunzig-, achtzig-, fünfundsiebzig-, fünfzig-, dreiunddreißig ein drittel-, zwanzig-, zehn- und nullprozentige Wahrheit. Keine Ahnung hat dieser glaubenslose Durchschnittsmann, dass gerade darin des tüchtigen Redakteurs Tüchtigkeit besteht, dass er, je nach dem ihm wohlbekannten Geschmack der Leser und des Verlegers, aus einem schmetternden Bombenwurf einen Furz machen kann oder einen Donnerschlag. Halten zu Gnaden. So gläubig ist dieser Durchschnittsmann. Denn Leonhard Glanz meint natürlich, dass eine Zeitung, wenn er sie definieren sollte, als ein literarisches Werk anzusprechen sei. Unter Ausschluss der Inserate. Aber sonst: Ein Werk. Dass er für seinen Zeitungsgroschen erwirbt. Ohne zu bedenken, dass er da manchmal ein Paket Papier erhält, das blank und weiß für einen Groschen nicht zu kaufen wäre. Und den ganzen Inhalt bekommt er gratis dazu. Die Nachrichten, den Leitartikel, das Neueste aus aller Welt, die lokalen Informationen, das Kreuzworträtsel, die Schachecke, die Witze samt Illustrationen, den Handelsteil, die Börsennachrichten, samt Anweisung, wie man in kurzer Zeit Millionär wird, Verkehrsnachrichten, Unterhaltungsteil und Gedichte mit Reimen am Ende, wissen Sie schon, dass der Skarabäus sechs Beine hat und nach dem Liebesakt vom Weibchen getötet wird? Der Anzeigenteil, die Toten der Woche und des Tages. Was heute vor hundert Jahren war. Wohin gehen wir am Sonntag? Sportbeilage. Annoncen. Annoncen. Annoncen. Theaterkritik und neueste Nachrichten, wer von den Filmstars mit wem schläft, die Mode zu ebener Erde, zu Wasser und in der Luft, Rezept, den bescheidenen Hummersalat für vierundzwanzig Personen anzurichten, fortschrittliche Gesinnung unter dem Strich, reaktionäre Gesinnung über dem Strich. Werter Abonnent, was Sie da von der zweierlei Gesinnung festzustellen belieben, entspricht nicht den Tatsachen. Unser Organ ist von jeher bemüht gewesen, überhaupt keine Gesinnung zu haben, wobei wir es auch in Zukunft hochachtungsvoll belassen wollen. Wer bezahlt das alles? Wenn du, normaler Zeitungsleser, doch knapp das Papier bezahlst. Die Setzer, die Drucker, das Blei, die Schwärze, die brandteuren Telegramme und Telefonate, die Expedition, die Administration, den Redaktionsstab, die Verlagsdirektion, die doch gut leben will, und die Mitarbeiter, die man nicht glatt verhungern lassen darf, weil man nicht nur von ehrgeizigen Oberlehrern und Großindustriellen Gratisbeiträge bringen kann. Wer bezahlt das alles? Die Annoncen, meinst du, die Annoncen. Im Vertrauen gesagt, die reichen zumeist auch nicht. Und darum sitzt der eigentliche Chefredakteur einer großen Zeitung im Vorsitz einer großen politischen Partei, oder in der Direktion einer Monstrefabrik, oder in einem Börsenratsgremium, oder in allen dreien zusammen und das nennt man in Frankreich »publicité« und dort weiß jeder, dass es so ist. Und anderweitig hat es keinen Namen und wird mit freundlichem Lächeln oder mit dem ganzen juristischen Apparat abgeleugnet, womit erwiesen ist – was? Dass Frankreich immer noch das demokratisch fortgeschrittenste, geistig freieste Land ist. Hommage à Voltaire.

Die Zeitung des Als-Ob, die Presse des Als-Ob, die Träger jener öffentlichen Meinung, die ein großes Als-Ob ist. Garnichts anderes sein will.

Leonhard Glanz glast in die Zeitung. Die Zeit zerrinnt und manchmal schaut ihn der Kellner in weißlich-schmutziger Leinenjacke an, manchmal der Ober im Frack und schwarzer Krawatte. Wie weit mag die Uhr vorgerückt sein? Vielleicht ist Mittagszeit. Vielleicht sollte man etwas essen. Leonhard Glanz hat keinen Hunger. Obwohl er nicht eben reichlich gefrühstückt hatte. Und das ist schon geraume Weile her. Keine Bewegung freilich, aber der Schreibtischmann war immer an bewegungslose Geschäftigkeit gewöhnt. Sein Magen war in Ordnung. War es jedenfalls immer gewesen. Und doch widerstrebte ihm der Gedanke an das Essen. Sollte er in eines der zahlreichen Automatenrestaurants gehen und ein Paprikagulasch essen, mit Knödel? Oder ein ungarisches Gulasch mit Kartoffeln? Wie ihm das widerstand. Oder sollte man dahier einmal besser speisen? Etwas Leckeres? Brathuhn mit Pommes frites? Wie satt er war. Woher denn nur? Oder Kalbszunge in Madeira? Angegessen bis dahinauf. Angefressen an dicker Pampe. Gelbes Erbsenpüree mit Zwiebel und Kochwürsten. Große Graupen mit Pflaumen. Gefüllte Milz mit Petersilienkartoffeln. Fetter Schweinemagen mit Mehlknödel. Ölig schimmernde Blutwurst mit Sauerkraut. Kuttelflecksuppe mit eingebrocktem Brot. Speckknödel mit süßlich dampfendem Kastanienpüree. Kalbshaxe mit großen Bohnen, mit sauren Linsen, mit Grünkohl und Bratkartoffeln, Hammelfleisch mit gelbem Fett und weißem Kohl. Roter Kohl mit Apfel und Rosinen gedünstet. Und schwarzes Bier, gezuckert und darüber geschwemmt. Bläulich-grün schillerndes, weißliches Fleisch, das ist Walfischkarbonade. Mit Kornschnaps. Bis da hinauf. Abgrundtief. Pampe.

Der Bauch ist eines. Und das Hirn ist ein anderes. Hatte nicht Leonhard Glanz bisher immer geglaubt, auf den Bauch käme es an? Nur auf einem gesunden Bauch kann ein gesunder Kopf sitzen. Irgendwie so hat es einmal ein großer Dichter gesagt. Aber die Regel lässt Ausnahmen zu. Leonhard Glanz hatte stets Wert darauf gelegt, kein Prinzipienreiter zu sein. Das bewährte sich nun an diesem Normalmenschen, den die Zeitläufe in den leeren Raum geschleudert hatten, dem er nun, aus dem eingeborenen Bestreben aller Natur, keinen leeren Raum dulden zu wollen, eine Füllung zu geben bemüht war. Dabei entstand Unordnung und Wirrnis. Unteres musste nach oben gelangen, es musste ein wenig drüber und drunter gehen. Ein heute kärglich Gespeister saß da, magenvoll, stopfte sich mit Zeitungslektüre an, die in seinem Hirn aufquoll, teils zu riesigen Seifenblasen, die im buntesten Schillern zersprangen, nichts hinterlassend, als ein graues Gerinnsel fader Erinnerung, teils auch zu neuen, leeren Räumen, die nach Füllung verlangten, gleich leeren Gasometern, leeren Wassertürmen, leeren Getreidesilos. Umbau oder Neugeburt? Die Zeichen waren ernst, wenn sie auch nach außen sich nur in der unscheinbaren Bewegung äußerten, dass ein ganz normal Zeitung lesender Mann, ohne sonderliche Hast oder Weile ein Zeitungsblatt umschlug und auf der anderen Seite weiter las.