Ein Mann liest Zeitung

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In seine Wohnung ist der vielleicht gar nicht so gleichgültige Mann Leonhard Glanz nicht mehr gegangen. Dort war, trotz des Protests des Anwaltes vor Monaten schon alles beschlagnahmt worden. Es stellte sich heraus zu Unrecht, aber da war schon alles fort. Alles ausgeplündert, was einem Plünderkommando brauchbar erschienen war. Was übrig blieb, ging in einen größeren Koffer.

Vielleicht wäre dieser Mann nun in ein Sanatorium gegangen. »Weißer Hirsch« bei Dresden, oder so. Der Anwalt hatte gesagt, dass Glanz eine auskömmliche Rente aus seiner alten Firma würde beziehen können. Er hatte Heckerle einfach gesagt, dass er mehr wüsste, als dem neuen Chef aus Schiebung angenehm sei. Da hatte der sofort ein Angebot gemacht. Leonhard Glanz wäre lieber in ein belgisches Bad gegangen, raus aus dem Lande. Aber er hatte keinen Pass. Der war von den Plünderern mit beschlagnahmt worden. Würde auch wohl keinen neuen Pass bekommen. Hatte auch einen Widerwillen dagegen, mit irgendwelchen Amtspersonen in Berührung zu kommen. Und endlich, hätte er einen Pass bekommen, so hätte es Wochen gedauert, bis er eine Bewilligung erhalten hätte, das notwendigste Geld mitzunehmen. Das schien unmöglich. Und gerade das »Unmögliche« sollte geschehen. Bei Gott – fragen Sie den Rebbe von Muncacz – und bei den Nazis ist nichts unmöglich.

Ein Zwischenfall bewahrte den Mann Leonhard Glanz davor, in einem Meer von Gleichgültigkeit für uns unterzugehen oder für sich selbst in solchen Zustand zu verfallen. Der Zwischenfall ereignete sich in einem Park, in dem Leonhard Glanz schon ein dutzendmal um eine Rasenfläche herumgelaufen war. Ein noch dazu einsamer Park. Auf einmal kam Heckerle des Wegs. Warum von mehr als einer Million Einwohner gerade Heckerle vorbeikam, als Leonhard Glanz, zum ersten Mal in seinem Leben, da allerdings ausgiebig, in diesem Park spazieren ging, bleibt ungeklärt. Zufall oder Fügung. Je nachdem, woran einer glaubt. Gewiss, Heckerle wohnte in dieser Gegend. Die Adresse kannte Glanz. Er hatte also so hingehen oder vor dem Hause sich postieren können. Aber dass Heckerle durch den Park gehen würde, war keineswegs sicher, kaum wahrscheinlich. Er hätte viel eher zur Hauptstraße durchgehen können, zur Haltestelle der elektrischen Bahn. Oder zum Standplatz der Taxis, an der Ecke vor dem Park. Arrivierte Nazis fahren ja gern Auto.

Heckerle kam also des Wegs in einer neuen SA-Kluft. Mit silbernem Firlefanz auf dem Hemdkragen. Der Mann hatte sich also schon eine höhere Charge kaufen können. Als er auf einmal vor Glanz stand, schien er keineswegs überrascht zu sein. Wie sollten denn auch zwei Männer, die viele Jahre lang in dieser Stadt das Leben gemeinsam verbracht hatten, an gleicher Strippe ziehend, wie sollten sie sonderlich überrascht sein, wenn sie einmal einander begegneten. Heckerle war sich im ersten Augenblick der Infamie der letzten Monate gar nicht bewusst. Wann denkt denn schon ein Schurke daran, dass er ein Schurke sei. Er blieb einfach stehen und sagte: »Guten Tag, Herr Glanz«, und lächelte. Wahrhaftig lächelte, gerade wie in alter Zeit, wo er, der Prokurist, immer ergeben zu lächeln bemüht war, wenn er den Chef traf.

Hatte Leonhard Glanz irgendetwas geplant? Es ist kaum anzunehmen. Nun war Leonhard Glanz auch keineswegs ein gewiegter Kriminalist und nicht einmal ein Mann, der sich irgendwie auf Psychologisches verstand. Allein, als er dieses faulen Lächelns ansichtig wurde, wusste er, dass er gleichsam Oberwasser hätte.

Der Hass. Der Hass. Der Hass. Welch eine Unsumme von Hass hatte sich doch in Leonhard Glanz angesammelt. Anfangs war es nur Zorn und Wut gewesen. Aber seit er bei einem Verhör von einem Lümmel in Hemdenuniform, der höchstens achtzehn Jahre alt war, zum ersten Mal geohrfeigt worden war, fing der Hass an, sich in ihm zu entwickeln. Er hatte das vorher garnicht gekannt, wie das ist, wenn man hasst. Zu Hause, seine Mutter, seine gute Mutter, hatte ihn zur Liebe erzogen. Man muss die Menschen lieben und wohltätig sein. Hass? Das ist doch etwas Zerstörerisches. Auf einmal war der Hass da. Nicht Zorn und Wut oben auf der Haut. Hass, ganz tief innen. Vielleicht wäre dieser Hass nicht gekommen, hätte Leonhard Glanz nachgegeben. Jawohl. Devisen verschoben. Ja, ein paar hundert Pfund in London. Und ein paar tausend Dollar in New York. Und in der Schweiz? Auch ein paar tausend Francs. Sehen Sie, auf einmal erinnern Sie sich. Warum nicht gleich so. Dann hätten Sie sich und uns allen das sparen können. Aber da kam der Hass. Wer hätte gedacht, dass der Hass ein Baustein sein könne, zur Wahrheit.

Diese ganze Hochspannung an aufgespeichertem Hass schlug auf den braunhemdigen Heckerle nieder als ein atmosphärischer Niederschlag. Der Betroffene spürte es zunächst garnicht. Aber kam es jetzt zum Kampf, so musst er von Anfang an der Unterlegene sein. Der Blitzschlag des Hasses musste ihn zerschmettern.

Heckerles Lächeln zog sich in die Länge. Da aber Glanz seinen Gruß nicht erwidert hatte und überhaupt nichts sagte, meinte er: »Na, Glanz, wie kommen Sie denn daher?«

Achtung. Die Frage kann hingeworfene Phrase sein. Weil dem Frager nichts Besseres einfällt. Aber es kann auch der Beginn der Überlegung darin sein. Ein paar Gedanken weiter, dann verschiebt sich die ungleiche Kräfteverteilung des Augenblicks. Dann stünde Uniform gegen Hass. Die Sportlichkeit des Kampfes würde es erhöhen, der Ausgang wäre ungewiss.

In dem Augenblick aber kommt es zur Entladung, mit einer Million Volt. Wie der Kerl da steht. Mit dem schmierigen Lächeln. In einem Roman habe ich mal was von schmierigem Lächeln gelesen. So also ist das. Dieser schleichende Schurke in brauner Uniform. Nagelneu und stinkt doch nach Mief. Kaserne. Kaserne. Der Maurerpolier als Unteroffizier. Ich werd euch in’n Arsch treten, dass die Scheiße zum Maul rausfliegt. Jud Glanz, kleiner Dollarschieber. Mit der Sarah nach New York ausrücken? Und der da, ein Prokurist einer ehrenwerten Kaufmannsfirma? Der Schleimscheißer da, von einem Unteroffizier?

»Wie stehen Sie überhaupt da, wenn Sie mit mir reden?«, herrscht ihn Glanz an. »Wollen Sie nicht gefälligst gerade Haltung annehmen, Sie? Reißen Sie gefälligst ihre Knochen zusammen. So. Hände an die Hosennaht. Finger lang. Noch länger die Finger. Kopf gerade. Linkes Ohr tiefer.«

Gelernt ist gelernt, von Anno Krieg her. Heckerle steht da, der verdonnerte Rekrut, ein Fleischkloß, zur Masse in strammer Haltung erstarrt. Das Hirn sitzt vor dem Bauch im Koppelschloss von dem er weiß, dass es nicht blankgeputzt sei.

Aber das sieht der Leutnant, Hauptmann, Oberst, General Leonhard Glanz garnicht. Er sieht überhaupt nichts. Er ist Hass und Rache und Rache und Hass. Und da hebt er die rechte Hand und schlägt sie dem Rekruten, trotz silberner Litzen und Firlefanz, mitten ins Gesicht. Und noch einmal und noch einmal. Du Schuft, du Schuft, du Schuft.

Dann macht er kehrt. Geht ohne sonderliche Eile bis zum Parkausgang, besteigt ein Taxi: »Hauptbahnhof.«

Der Andere war reglos stehen geblieben. Dann merkte er, wie ihm das Blut aus der Nase auf das neue, braune Hemd tropfte und da erst kam er zur Besinnung.

Das war an einem Nachmittag um vier Uhr gewesen. Um halb fünf ging ein Schnellzug nach Berlin, wusste Glanz. Den würde er gerade erreichen. Einen Handkoffer mit seinen Siebensachen, Siebensachen, es waren wirklich nicht viel mehr als sieben Sachen, hatte er in der Gepäckaufbewahrung stehen. Er hatte während der letzten Nächte in kleinen Hotels logiert, jede Nacht in einem anderen und den Koffer tagsüber in die Gepäckaufbewahrung gegeben. Ein glücklicher Umstand. Denn jetzt musste er weg. Schleunigst. In Hamburg würde er spätestens abends verhaftet sein. K.Z. Und da würden sie ihn kaputt machen. Eigentlich – ein Zeuge war nicht dabei gewesen. Und der Schuft da müsste sich hüten, den feigen Sachverhalt zu erzählen. Aber das hatte der ja garnicht nötig. Ein feister SA-Funktionär gegen ein jüdisches Freiwild.

Feist, wieso feist? Wie weich das Gesicht gewesen war. Glanz hatte das Gefühl gehabt, er schlüge in lauwarmen Brei. Hängebacken. Quabbeliges Fleisch. Wenn man sich nur die Hände waschen könnte. Mit dem Quabbelgefühl in der Hand kann man doch nicht bis Berlin fahren. Vielleicht im Zuge. Scheußlich das Gefühl. Wie feuchtwarme Kinderwindeln. Es riecht sogar so. Hauptbahnhof.

Am anderen Morgen kaufte sich Glanz in Berlin einen billigen Touristenanzug. Das erste Mal im Leben einen Anzug von der Stange. Und einen Rucksack. Die ganzen Siebensachen hinein in den Rucksack. Und nur weg von Berlin. Vielleicht suchte man ihn hier schon. Vielleicht war sein Signaloment schon durchgegeben. Schlesischer Bahnhof. Nur raus aus Berlin.

In der Untersuchungshaft hatte ihm mal einer erzählt, im Riesengebirge über den Kamm zu kommen, das sei kein Kunststück. Trotz Gendarmerie und SA-Kontrolle. Er habe das x-mal gemacht, ehe er geschnappt worden sei. Mit Papieren und so. Vielleicht war der Mann ein Spitzel gewesen. Aber man musste mal sehen. Mehr als schießen können sie nicht. Die Chance war im Krieg alle Tage gewesen. Geht es schief, na da hat man eben Pech gehabt. Aber warum sollte man für die eigene Freiheit, für Leib und Leben nicht riskieren, was man für Kaiser und Reich – wo sind sie jetzt – tausendmal riskiert hatte.

So war Leonhard Glanz über den Kamm gekommen. Im Touristenanzug und mit Rucksack. Mit sieben Sachen, aber ohne Pass und also ohne Namen. Wenn man ihm nicht glaubte, dass er Leonhard Glanz sei, aus Hamburg? Wozu braucht man überhaupt einen Namen, wenn man nur noch ein Garnichts ist? Ein Mensch, was ist schon ein Mensch, wenn er nichts hat? Eine Sache, die hat doch immer noch irgendeinen Wert. Aber ein Mensch in solcher Lage? Achtung, der ist nicht nur kein Wert, der kann sehr rasch ein Unwert sein. Schlimmer. Ein unnützer Esser. Ein Fresser. Ein Niemand. Herr Niemand aus Nirgendwo. Ein Niemand aus Nirgendwo und ohne was, das ist ein Emigrant. So ist das Leben: Station Kaffeehaus.

 

Wie bitte? Ob ich die Zeitung …? Ich habe sie ja noch garnicht gelesen. Nur erst hinten in den Annoncen geblättert. Das Eigentliche soll ja erst kommen. Früher, ja früher habe ich die Zeitung in fünf Minuten gelesen. So mehr die Überschriften. Dann wusste man Bescheid. Das heißt, man meinte, Bescheid zu wissen. Leider hat sich ja herausgestellt, dass ich nicht im Bilde gewesen war. Heckerle, der war im Bilde gewesen? Es ist eine große Zeit für Lumpen.

Hauptblatt. Erste Seite. Wahrscheinlich Spanien. Natürlich, Spanien. Wer hat sich früher um Spanien gekümmert? Und jetzt alle Tage. Die spanische Regierung in Valencia beabsichtigt dem Völkerbund bei der kommenden Ratstagung ein Weißbuch über die italienischen Eingriffe … Dem Völkerbund. Wenn in Deutschland einer sagt: Völkerbund, dann grinsen die Leute. Na, lassen Sie mal, das hat mit den Nazis nichts zu tun. Das war schon lange so.

Da war ich früher jahrelang Mitglied des Vereins der Getreidehändler der Hamburger Börse. Das war doch was. Ich meine, der Verein. Wenn der was erklärt hatte, da musste man sich doch danach richten. Sonst wäre man doch einfach von der Börse ausgeschlossen worden. Ein Spruch des Hamburger Getreidevereins, der galt in London so gut wie in Chicago oder Buenos Aires. Aber ich bitte Sie, der Völkerbund.

Vielleicht verstehe ich nichts davon. Ich verstehe aber doch etwas davon. Ich habe immer gesagt, dass mit der hohen Politik, das ist garnicht wahr. Das ist alles genau so, wie es sich der kleine Moritz vorstellt. Aber vielleicht verstehe ich nichts davon. Gut. Reden wir von etwas, wovon ich was verstehe.

Als ich hier ankam, sagte man mir, ich müsse auf alle Fälle zuerst zum Hilfskomitee gehen. Wieso, bin ich ein Schnorrer? Ich bin nicht. Bitte sehr, ich weiß nicht, was ich im Augenblick bin. Früher habe ich mal gemeint, ich sei wer. Irrtum. Man sitzt auf einem Stuhl. Und auf einmal ziehen sie einem den Stuhl unterm Hintern weg. Was ist man dann? Guten Tag. Da bin ich. Peter Schlemihl. Der Mann ohne Schatten. Leonhard Glanz, der Mann ohne Pass. Niemand, der Mann ohne Namen. Der Mann ohne Pass, der nichts besitzt als nur einen Hass. Und was für einen Hass. O nein, den habe ich nicht abreagiert, als ich den braunhemdigen Lumpen in die Fresse schlug. Im Gegenteil, ich bin ein Kreuzworträtsel. Von oben nach unten. Von links nach rechts. Ein Kreuzworträtsel ohne Lösung. Nur ich selbst weiß, was rauskommt. Sie müssen es mir glauben, dann ist es gut. Dann bin ich was, zum Mindesten ein Polizeiakt. Glauben Sie es mir nicht, dann bin ich nur ein Purzelbaum, allenfalls eine Nummer, die man in ein Gefängnis steckt.

So ging ich also zum Hilfskomitee. Es sind schon viele Leute da. Immer sind da schon viele Leute und warten. Alle haben sie ihre ganz persönlichen Sorgen, alle meinen sie, was das Schicksal ihnen getan habe, das sei schon ein besonderer Gipfel. Aber alle wollen sie im Grunde dasselbe. So fängt es also mit langem Warten an. Warten? Warten haben ja die meisten von uns gelernt. Herr Glanz nehmen Sie bitte Platz, Herr Direktor wird in wenigen Augenblicken zu Ihrer Verfügung sein. Herr, was heißt in wenigen Augenblicken? Ich hatte elf Uhr mit Ihrem Direktor ausgemacht. Und meine Uhr ist jetzt genau elf. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Ein bisschen flott, der Hochbahnzug fährt schon gerade ein. Wenn wir den versäumen, verlieren wir zwei und eine halbe Minute. Such die Zeit, die du verloren. Du wirst sie nicht wieder finden. Aber vielleicht findest du ganz etwas anderes. Ein Blümlein, wie Goethe. Oder ein Gravitationsgesetz, wie Newton. Vielleicht findest du nur einen alten Nagel, um dich daran aufzuhängen. Vielleicht auch findest du eine Weltanschauung. Gotama Buddha fand die Erlösung. Den großen Verzicht. Das weise Lächeln für Sein und Nichtsein, für Haben und Nichthaben. Für ein Kind, das geboren wird, und für einen Greis, der zum Sterben sich anschickt. Vielleicht hat der Buddha recht. Was wissen wir.

Vor Jahren lernte ich mal auf einem Kostümfest ein Mädchen kennen. Das war eine brennende Leidenschaft von zwei Stunden. In Chicago ist der Weizen um volle 25 cents gefallen. Bitte. Bitte sehr. Meinetwegen um einen ganzen Dollar. Was geht das mich an. Alle Weizenmärkte der Welt gebe ich um eine Strähne blonden Haares. Allen Mais von Rio de la Plata um einen seidenen Frauenstrumpf. Seide, Seide, weiche Seide. Und jetzt hört der Strumpf auf. Himmel und Erde. Ich glaube in all den Jahren habe ich nur diese beiden Stunden gelebt.

Aber das Mädchen war klug. Das Mädchen führte mich zum Vater. Der war ein Gelehrter und krank an einer schweren Lähmung. Er saß im Rollstuhl und studierte Buddhismus. Man sagte, er sei Buddhist geworden. Er erzählte mir, wie ein König Chulalongkorn von Siam ihn besucht habe. Der hatte ihn gefragt: Doktor, glauben Sie, dass Europa bald für den Buddhismus reif werden kann? Nein, hatte er geantwortet, vorläufig nicht, frühestens vielleicht in fünfhundert Jahren. Wie in fünfhundert Jahren schon? Dann ist Europa ja nicht verloren.

Wer kann sich da auskennen. Der König Chulalongkorn ist tot. Seinen Nachfolger hat das siamesische Volk mit Revolution davongejagt. Das heißt, er lief beim ersten Flintenschuss. Weil das Volk nicht mehr glauben wollte, dass man mit endlosem Verzicht und restlosem Entsagen schon auf Erden zur Seligkeit des Erlöstseins gelangen könne. Nun ist der König von Siam, aus lauter Gold und Perlen und Edelsteinen und so viel Weisheit, dass ihm diese Märchenschätze garnicht daran gehindert hatten, ein Entsagender im Geiste zu sein, nun also ist er ein Emigrant ohne Namen und spielt Roulette in Monte Carlo.

Wir gewöhnlichen Emigranten müssen zunächst einmal warten. Wie gesagt, wir haben es zumeist gelernt. In der Zelle, wissen Sie. In der Zelle. Fünf Schritte lang. Drei Schritte breit. 126 Fliesen bilden den Fußboden. Das erste Mal hat man vielleicht eine Fliese zu wenig gezählt, das andere Mal eine Fliese zu viel. Aber schließlich stellt man die endgültige Zahl fest. Oben angefangen oder unten. Genau gezählt. Das eiserne Bett hängt am Mauerhaken, hochgeklappt an der Wand. Sieben Gitterstäbe hat das Fenster und man darf nicht hinausschauen. Nur die Sonne kann hineinschauen, weil keine Verfügung der Gestapo, eines Gefängnisdirektors oder eines Staatsanwalts es ihr verbieten kann. Um sieben Uhr ist die Sonne bei der vierten Fliesenreihe, um 8:00 Uhr bei der fünften, um 9:00 Uhr … das heißt, dann ist es Mai. Im Juni ist es anders. Und im Dezember erst, noch ganz anders. Da lässt sich gemächlich warten.

Da hatten sie einen politischen Gefangenen. Von dem wollten sie alles mögliche wissen. Er sollte seine Freunde nennen und verraten. Sie haben ihm alles mögliche versprochen, wenn er zum Verräter würde. Und haben ihm schrecklich zugesetzt, weil er sich weigerte. Ich sollte etwas gestehen, was ich nicht getan hatte. Dergleichen von einem Menschen verlangen, das ist schon eine schurkische Gemeinheit. Aber jemanden zwingen, mit Foltern des Leibes und der Seele, seine Freunde und Gefährten zu verraten, das ist Verworfenheit. Verworfen. Weggeworfen. Ausgeworfen. Auswurf. Ausgespucktes. Ausgekotztes. Das stinkt. Das einem immer wieder übel wird. Der Kranke schämt sich seines Auswurfs. Der Besoffene noch flüchtet auf den Abort, wenn er kotzen muss. Die aber sind stolz auf ihre Ausgekotztheit. Die Treue ist das Mark der Ehre. Heil Heckerle. Große Worte, schöne Worte, heilige Worte machen sie zu Scheißhausparolen. Bitte sehr. Sie stoßen sich an dem peinlichen Wort? Aber es ist doch so. Es ist doch so. Man muss doch mal sagen dürfen, was ist. Ich bin ja kein Diplomat. Ich darf einen Lumpen einen Lumpen nennen. Ich darf zur Scheiße ehrlich Scheiße sagen. Früher war ich auch so etepetete. Aber ich habe was gelernt da drüben, in den Kerkern von Blut und Scheiße.

Speiübel kann einem werden. Ging es nicht um den Etat, ich möchte mir einen Cognac bestellen. Einerlei. Ober, einen kleinen einfachen Cognac bitte. Ich habe einen so schlechten Geschmack im Mund. Als ob ich faules Fleisch gegessen hätte. Stinkendes Fleisch. Es sind schon Maden drin. Weiße, glibbrige Maden. Wurmgetiere. Wenn man es durchschneidet, leben beide Hälften weiter. Aus Schleim und Eiter und schillernder Geronnenheit. Bitte sehr. So rufen Sie doch eine Desinfektionsanstalt an, statt dass Sie wegsehen und sich ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase halten. Sie haben genug gelesen über die Greuel der Konzentrationsläger. Über die Gestapo-Folterkammern. Sie wissen das alles schon. Gut. Gut. Ich werde Ihnen nichts erzählen, was Sie schon wissen. Ich habe nur versucht, Ihnen das einmal anders zu erzählen. Sie hatten genug von der naturalistischen Darstellung. Vielleicht bin ich ein Symboliker. Aber gleich im Anfang wird Ihnen übel. Das sind doch nur Worte. Worte und Gedanken. Das muss man doch erst erlebt haben. Ha, ha, ha. Da ist ja auch schon der Cognac.

Als die Folterknechte der Nazis aus dem politischen Gefangenen nichts herausbringen konnten, kamen sie auf eine Satansidee. Sie sperrten den Mann drei Wochen lang in eine Dunkelzelle ein. Drei Wochen lang in die Nacht. Sie dachten, da würde er entweder wahnsinnig werden oder kapitulieren und alles sagen, was sie wissen wollten. Drei Wochen lang Nacht und nur Nacht. Die Augen gewöhnen sich daran? Das ist ja das Schreckliche, dass die Augen die Finsternis zum düsteren Nebel machen. Wo die Kerkermauern zu zerfließenden Fernen werden, die Liegepritsche zu einem kauernden Ungetüm. Die Türrahmen zu Gespenstern. Drei Wochen in feuchtkalter Nacht. Da lernt sich warten. Da lernt sich die ausgesponnene Langweile tragen. Unser Mann hatte gar keine Langweile. Er schaffte sich Arbeit. Am Türgeräusch, wenn der Kerkerknecht ihm Brot und Wasser hineinschob, wusste er den Ablauf der Tage. Wusste er genau das Datum des Kalenders. Wichtig war das für unseren Mann im Nachtgemäuer. Denn er errechnete sich: Heute ist ein Lenin-Gedenktag. Oder heute ist ein Marx-Gedenktag. Oder heute ist ein Goethe-Gedenktag. Oder heute ist ein Feiertag der Sowjet-Union. Und da meinte unser Mann, bis zum Abend müsste er sich selbst eine Feierrede zu diesem Gedenktag halten, dass die feuchten Mauersteine hören würden. Heißt es nicht wo, dass wenn die Menschen schweigen, die Steine reden würden? Und wenn die Menschen taub sind, können nicht dann die Steine hören? So präparierte unser Mann sich den ganzen Tag auf eine Feierrede. Dann probte er sie und sie schien ihm nicht gut genug. Und er formte sie um, ließ Stellen weg und tat andere hinzu. Und am Abend des Tages in der Nacht hielt er den Steinen eine Rede, von Rosa Luxemburgs Leben und Sterben, von Friedrich Hölderlins Freiheitstraum, von Frankreichs großer Revolution und den Sansculottes, die die Heere der Reaktion aus dem Frankreich der ersten Tricolore hinausgeschlagen hatten. So stand unser Mann in Kerkernacht als ein großes Leuchten und die Steine lauschten und wurden hunderttausend horchende Kameraden und er nannte sie: Genossen.

Wie hatte der alte Anwalt in Hamburg gesagt, dass diese Leute seien? Eisern. So sind sie und noch viel mehr. Eisern gepanzert und drinnen mit brennender Seele. Und ich bin nur ein Stein. Aber die Steine müssen reden und so rede ich davon.

Der Mann hieß Willi Bredel. Sie sagten mir, er sei ein Schriftsteller und ein Kommunist. Ich dachte mir: groß ist der und breit. Und sie sagten mir, er sei nicht breit und sogar klein. Einerlei. Einerlei. Er ist doch groß und stark. Und er kann es leuchten machen in der Nacht.

Dergleichen Warten haben wir gelernt. Mehr oder weniger. Aber immerhin. Warten kann eine Leere sein, aber es kann auch eine Lehre sein. Je nachdem. Dem einen wird die Zeit ermordet, dem anderen wird sie nur gestohlen, der dritte aber lernt sie zu gestalten. Auf den dritten kommt es an.

Wie lange habe ich beim Hilfskomitee warten müssen? Nur ein paar Stunden. Ein paar lehrreiche Stunden. Ein paar geradezu notwendige Stunden. Einführung in die Kunst, Emigrant zu sein.

Sie sind neu hier? Von wo kommen Sie? Sind Sie politisch? Hier steht es nicht gut, viel Unterstützung wird man Ihnen nicht zahlen. Es ist einfach kein Geld da. Leben können Sie nicht davon. Wie, Sie wollen keine Unterstützung? Wozu sind Sie denn hier? Ach so. Keine Papiere. Aha. Also waren Sie doch politisch. Mit mir können Sie ruhig reden.

Nansen-Pass? Nein, den werden Sie nicht kriegen. Der war für die zaristischen Russen, die damals vor der russischen Revolution davongelaufen sind. Damals hat man doch gemeint, wie lange kann das dauern in Russland? Kommunismus und Sozialismus. Wie lange kann das dauern? Drei Monate. Sechs Monate. Man muss mit den Flüchtlingen doch anständig sein. Das sind doch die Leute von Gestern und so werden es die Leute von Morgen sein. Und da hat man ihnen gegeben. Auch Nansen-Pässe. Aber Sie, Sie kommen doch von der anderen Seite der Barrikaden.

 

Wieso kommt Leonhard Glanz von der Barrikaden anderer Seite? Hat er damals nicht auch genau so gedacht und geredet? Hat er für die Kommunisten jemals Sympathie gehabt? Interesse, ja, in letzter Zeit. Weil man einfach musste. Weder war die Sowjet-Union zusammengebrochen, noch waren ihre Bürger samt und sonders verhungert. Obwohl in den Zeitungen doch Millionen immerzu verhungert waren. Aber dass er auf jener Seite gestanden hätte – nein, niemals. Und jetzt auf einmal scheint es ihm, dass er doch da steht, auf der »anderen Seite der Barrikaden«. Das hat er selbst bis zur Stunde nicht gewusst. Wie ist der dahin gekommen?

Also keinen Nansen-Pass. Da müsste aber doch irgendeine Regelung sein? Nein? Keine Regelung? Heute so und morgen so? Entscheidung nach jeweiligem Ermessen. Kein Gesetz? Kein Recht? Ja, wie ist unsere Stellung hierzulande?

Stellung? Fragen Sie mal einen Fußball, was für eine Stellung er einnimmt. Die Emigranten, die sind etwa der Fußball der politischen Parteien. Die einen schreien: Im Namen der Nation muss man die Emigranten rausschmeißen. Das fliegt der Ball. Die anderen schreien: Im Namen der Menschlichkeit muss man sie dalassen. Da fliegt der Ball wieder zurück. Manchmal haben die Parteien und ihre Zeitungen auch Sorgen, dann kümmert sich kein Mensch um die Emigranten. Sobald sie aber nichts zu tun haben, geht der Sport wieder los.

Da werde ich mich an den Hochkommissar beim Völkerbund wenden. An wen? Ja, wie kommen Sie denn darauf? Sie haben mal in der Zeitung gelesen, dass es den gibt? Ich kann Ihnen verraten, das ist sogar schon der zweite. Der erste war ein Amerikaner. Der ging wieder nach Hause, weil er nach zwei Jahren aufopferungsvoller Tätigkeit nichts erreicht hatte. Aufopferungsvoll, sagte ich. Aber genau weiß ich nicht, wie viele Emigranten aufgeopfert wurden. Jetzt ist da ein Engländer. Der bleibt, weil er auch nichts erreicht hat. Der ist doch nicht für die Emigranten da. Der macht Reisen und studiert die wirtschaftliche Lage in der Welt in Bezug auf die Einwanderungsmöglichkeiten in den einzelnen Ländern. Nein. Dem Mann geht’s gut. Der hat doch mit uns Emigranten nichts zu tun. Der hat ein Jahresgehalt, davon könnten wir allesamt leben, wie wir hier sind. Ne, der ist für Sie nicht zu sprechen. Irgendeine Regelung? Aber der Mann ist doch beim Völkerbund. Vielleicht hat er sogar mal was zur internationalen Regelung vorgeschlagen. Ich habe mal sowas gehört. Aber da hat erst der eine nicht gewollt und dann der andere nicht. Wie groß ist die Welt und wieviel Emigranten gibt es, alles in allem? Das ist doch prozentmäßig gar nicht auszudrücken. Null, komma, nix. Aber über das Nullkommanix kann sich der Völkerbund nicht einigen. Warum nicht? Das ist doch das Normale. Der Völkerbund beschließt doch immer einmütig, dass nichts beschlossen werde. Vielleicht wird es jetzt aber besser. Ägypten ist ja in den Völkerbund eingetreten. Wenn aber der deutsche Gesandte in Caracas erklären sollte, er würde eine internationale Rechtsbestimmung für Emigranten als einen unfreundlichen Akt ansehen, dann kann man wieder nichts machen. Dann ist dafür keine Einstimmigkeit im Völkerbund zu erzielen. Denn Venezuela verhandelt vielleicht gerade wegen eines Clearing-Abkommens mit der deutschen Reichsbank, oder irgendwer verhandelt wegen eines Handelsvertrages. Und man kann doch nicht wegen der nullkommanix Emigranten den Handelsvertrag in Frage stellen. Man kann auch nicht den Parteien ihren netten Fußball wegnehmen. Womit sollten sie sonst Wettspiele austragen? Wer ist denn schuld, wenn die Preise runtergehen? Die Emigranten. Sitzen hier rum und verbrauchen nichts. Wer ist denn schuld, wenn die Preise raufgehen? Die Emigranten. Sitzen hier rum und fressen uns das Brot vor dem Munde weg. Wer ist schuld, dass die Aufrüstung ein Vermögen kostet? Die Emigranten, die uns mit dem Dritten Reich verhetzen. Wer ist schuld, dass wir nicht genügend gerüstet sind? Die Emigranten, diese Pazifisten. Wer ist schuld, dass die heurige Badesaison miserabel war? Dass es zu viel geregnet hat? Dass kein ordentlicher Winter war? Die Emigranten, nix als die Emigranten.

Die Emigranten – einer – haben einen Pelz gestohlen. Der Dieb – einer für alle – gab an, er sei am Verhungern gewesen. Und da habe er gestohlen. Am Verhungern? Warum denn? Weil er nicht arbeiten darf? Faule Ausrede. Deshalb stiehlt man doch nicht! Die Emigranten sind einfach ein asoziales Element. Taktlose Leute sind das. Da hat sich einer im Plenarsaal des Völkerbundes in Genf erschossen. Wie peinlich. Wenn der Mann nichts zu essen hatte, hätte er es doch sagen müssen. Es hätte ihm dann auch keiner was gegeben. Aber man erschießt sich doch nicht vor den Leuten. Erschießt sich in Monte Carlo einer im Spielsaal? Er geht in den Park. Aber vor dem Völkerbund? Vor dem gleichen Völkerbund, dem der Nazivertreter aus Danzig die Zunge ausgestreckt hatte. Würdelos. Taktlos sind diese Emigranten. Nullkommanix und so viel Spektakel. Warum nur des tausendjährigen Dritten Reiches Propagandaminister solchen Zorn auf dieses Nullkommanix hat? Warum er nur so hysterisch wird, wenn er von ihnen spricht? Haben sie ihm etwa doch auf den Fuß getreten? Das wäre nicht höflich, wo er so schon des Teufels Pferdehuf führt.

Nein. Wenn das Dritte Reich einen unfreundlichen Akt darin sehen würde, dann kann man für die Emigranten nichts tun. Menschlichkeit ist schön. Und jeder darf nach seines Herzens Wunsch so viel Menschlichkeit betätigen, wie er meint, mit der rückständigen Steuerrechnung vereinbaren zu können. Aber dem Staat darf er nichts kosten. Der Staat kann sich dergleichen Luxus nicht erlauben. Der Staat ist der Staat und kein humanitärer Verein. Die Nation. Über allem die Nation. Achtung. Fahne. Hut ab.

Und nun will die spanische Regierung dem Völkerbund ein Weißbuch überreichen. Der Völkerbund, la Société des Nations, the League of Nations. Mit so viel Fahnen auf dem Dach, wie Nationen im Palast sitzen. Kein Mensch hat so viel Hüte, wie er da abnehmen müsste. Obwohl es vielleicht die wichtigste Qualität des Kopfes ist, dass man damit grüßen kann. Vorbeigehen in gerader Haltung, mit Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung. Fragen Sie mal zum Beispiel einen von der Hitler-Jugend. Das ist wichtiger als die ganze Universität. Was hilft einem der Pythagoras, wenn man nicht ordentlich grüßen kann. Aber mit tadellosem Gruß, ruckzuck, dass die Hacken knallen, da ist schon mancher Sturmtruppführer geworden. Und vom Sturmtruppführer bis zum Direktor eines mittleren Provinztheaters ist’s nicht weit.

Dem Völkerbund das spanische Weißbuch über die italienische Intervention. Wenn nun aber Mussolini sagte, dass er es als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, wenn der erlauchte Völkerbund davon Kenntnis nehmen würde. Denn alles was da drin steht ist – ungesehen – erlogen. Und Mussolini fühlt sich verantwortlich, dass der Völkerbund nicht durch verlogene Lektüre um seine hohe Moral gebracht werde.

Dann wird der sehr ehrenwerte Völkerbund den Spaniern nahelegen, ihm das Weißbuch nicht offiziell zu überreichen. Wenn die Spanier es nun aber einmal mitgebracht haben, werden sie jedem Delegierten ein Exemplar privat überreichen. Und am nächsten Tag werden es alle privat gelesen haben und offiziell wissen sie von garnichts. Und das ist dann hohe Politik.