Generation Lahmsteiger

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Heynckes zum Dritten

Eine erfolgreiche Saison des FC Bayern wird von vielen fast ausschließlich über Titel definiert. Eine solche Erwartungshaltung hat sich der Klub in der jüngeren Vergangenheit hart erarbeitet. Das führt aber auch dazu, dass eine Spielzeit ohne Titel Konsequenzen haben muss. Im Fall von Louis van Gaal war das Opfer schnell gefunden. Umso wichtiger war es Uli Hoeneß, nach dem Projekt Klinsmann und dem Fußballlehrer van Gaal wieder jemanden zu holen, der den Klub kennt, der erfahren ist und der die Stimmung im Team und im ganzen Verein umdrehen kann. Jemand, der keine großen Zukunftsvisionen mitbringt, sondern im Jetzt lebt und den Klub nicht auf Links drehen möchte. Eben jemand wie Heynckes, der gerade in der Endphase seiner Trainerkarriere dafür bekannt war, mit dem Vorhandenen zu arbeiten und jede seiner Mannschaften an ihr Limit zu führen. Für Hoeneß war das auch eine Art Wiedergutmachung.

Heynckes übernahm die Bayern im Sommer 2011 zum dritten Mal. 1987 hatte er sich in München erst mal mit einem Witz vorgestellt. Bei Borussia Mönchengladbach hätte er sich nach einem Titelgewinn immer eine Zigarette genehmigt. Dazu war es über acht Jahre lang nicht mehr gekommen – deshalb hoffe er, so Heynckes, dass es beim FC Bayern wieder häufiger die Gelegenheit dazu geben würde.

Allerdings hatte sein neuer Klub gerade dreimal in Folge die Meisterschaft gewonnen. Entsprechend hoch waren die Erwartungen, auch wenn das Gesetz der Wahrscheinlichkeit dagegen sprach: Bislang hatte nämlich noch keine Mannschaft einen vierten Meistertitel in Folge nachlegen können. Auch Heynckes gelang dieser Triumph nicht. In seiner Debüt-Saison wurde sein Team Vizemeister hinter Bremen. 1989 und 1990 holte er die Schale dann zurück nach München. Und bei der Meisterfeier 1990 auf dem Marienplatz machte der Trainer den Fans sogar noch ein großes Versprechen: »Nächstes Jahr holen wir den Europapokal!« Allerdings machte ihm der spätere Sieger des Wettbewerbs, Roter Stern Belgrad, im Halbfinale einen Strich durch die Rechnung. So musste Heynckes am 12. Spieltag der Saison 1991/92 seine Sachen packen. Hoeneß sprach später vom größten Fehler seines Lebens.

2009 kehrte Heynckes zurück an die Säbener Straße. Allerdings nur als Retter für wenige Spieltage. Er war die Lösung zwischen Klinsmann und van Gaal, aber er wusste auf Anhieb zu überzeugen. Eigentlich war er bereits im Ruhestand, doch für seinen guten Freund Uli Hoeneß war ihm kein Dienst zu schade. Dabei kam er offenbar noch einmal auf den Geschmack, denn anschließend nahm er noch einen Job bei Bayer Leverkusen an, ehe er im Sommer 2011 seine dritte Chance bei den Bayern erhielt, um sein großes Versprechen endlich einzulösen. Schnell zeigte sich, dass der FC Bayern mit ihm erneut eine goldrichtige Entscheidung getroffen hatte. Anders als van Gaal, der den direkten Weg mit dem Kopf durch die Wand bevorzugte, wusste Heynckes genau, an welchen Stellschrauben er drehen musste, um seine Ziele zu erreichen.

Für viele in der Öffentlichkeit war klar, dass van Gaals Ballbesitzfußball wieder in die Schublade gehörte. Heynckes stand aber nie für eine spezielle Philosophie, sondern er passte sich gern den Umständen an. Das tat er auch in München. Entgegen vieler Erwartungen und Vermutungen nahm der Ballbesitzwert der Bayern unter ihm sogar noch zu. Im Vergleich zu van Gaal passte der damals 66-Jährige aber das zu statisch gewordene Positionsspiel der Mannschaft an. Heynckes baute eine asymmetrische Rollenverteilung ein und organisierte das Pressing neu.

Was bedeutet Asymmetrie im Fußball? Grundformationen wie das 4-4-2 haben im Fußball meist eine klare Anordnung und Raumverteilung: eine horizontale Viererkette, noch eine horizontale Viererkette und zwei Stürmer vorne. Trainer wie Heynckes lieben es, ihre Formation asymmetrisch auszurichten. So kann beispielsweise der linke Flügelstürmer höher positioniert sein als der rechte. Das sorgt dafür, dass Spieler dort auftauchen, wo sie der Gegner nicht erwartet. Außerdem können so Zonen überladen werden, die der Trainer besonders bespielen möchte, während andere eher abgesichert werden.

Schon früh in der Saison waren die Münchner der Konkurrenz aus Dortmund enteilt. Auch in der Champions League lief es in einer Gruppe mit Manchester City, Neapel und Villareal äußerst gut. Das lag auch an Schweinsteiger, der für die Bayern zunehmend wieder der Spieler wurde, der 2010 so entscheidend für das Erreichen des Champions-League-Finals war. Er verteilte die Bälle, bestimmte den Spielrhythmus und steuerte das Pressing der Bayern. Die Rolle eines Leaders nahm er jetzt endgültig an: zwar nicht als klassischer Effenberg, der sein Team stets mit klaren, lauten Ansprachen antrieb, aber als das Herz eines Spiels, dessen Situationen er schon lesen konnte, bevor sie eintrafen. Später hob Heynckes ihn auf eine Stufe mit Sergio Busquets vom FC Barcelona. Ein größeres Lob gibt es nicht. Vielen war das 2011 und 2012 noch gar nicht so bewusst. Doch als sich Schweinsteiger im November 2011 am Schlüsselbein verletzte, wurde seine Rolle für die Mannschaft überdeutlich. Zu Hause gegen Dortmund (0:1) und in Mainz (2:3) verloren die Bayern vor allem deshalb, weil er fehlte. Auch das Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den FC Basel ging ohne Schweinsteiger mit 0:1 verloren. Die Mannschaft von Jupp Heynckes wurde immer anfälliger für Konter und konnte ihr dominantes Spiel nicht mehr so durchdrücken wie zu Beginn der Saison. Schweinsteiger wurde in der Folge auch nicht mehr richtig fit. Im Rückspiel in Dortmund ging es bereits um die Meisterschaft. Der BVB hatte den Rückstand längst aufgeholt und die Bayern sogar drei Punkte hinter sich gelassen. Hätte der Münchner Rekordmeister das Spiel gewonnen, wäre der Druck auf die Borussia im darauffolgenden Derby gegen Schalke unendlich groß gewesen.

Doch sie gewannen nicht. Dortmund offenbarte den Bayern große Schwachstellen. Schweinsteiger konnte nur 29 Minuten spielen, in denen sein Einfluss nicht mehr ausreichte. Es war gewissermaßen der Beginn vieler dramatischer Einzelgeschichten. Während Schweinsteiger seiner Mannschaft aufgrund fehlender Fitness nicht helfen konnte, schrieb auch Arjen Robben weiter an seinem persönlichen Drama. In Dortmund vergab er vom Elfmeterpunkt nicht nur den möglichen Ausgleich und die damit verbundene Chance auf den Titelgewinn. Beim Gegentor sorgte er auch noch zusätzlich dafür, dass keine Abseitsposition vorlag. Obwohl die Bayern an diesem Abend ihre Chancen auf die Meisterschaft als Kollektiv verloren, sollte diese besondere Geschichte noch viele Jahre für Aufsehen sorgen und sich in den folgenden Wochen sogar zuspitzen.

Für Heynckes war dieses Spiel nur der Tiefpunkt eines Umschwungs, den er seit November erlebte. Quasi mit dem Ausfall Schweinsteigers war in München die große Krise ausgebrochen. So schrieb der Focus im März 2012: »Es geht dahin mit dem FC Bayern: Trainer Jupp Heynckes hat nur einen Plan A, und selbst der ist nicht durchdacht.« Im Kern geriet den Bayern Anfang 2012 die nachlässige Transferpolitik zum großen Nachteil. Schon nach dem Finale 2010 hatte man es verpasst, den Kader breiter aufzustellen: Das Standing und die Mittel waren vorhanden. Heynckes musste sich trotz der fehlenden Optionen ankreiden lassen, dass er nicht früher reagierte, sich nicht an die Situation anpassen konnte. Allerdings wurde damals auch viel geschrieben und gesagt, was schlicht nicht der Realität entsprach. Dortmund gewann verdient zwei Meisterschaften in Folge. Sie hatten das konstantere und bessere strategische Grundgerüst. Das musste auch in München anerkannt werden. Bayern war unter Heynckes keinesfalls schlecht, nur nicht konstant genug. Ähnlich wie van Gaal hatte auch der neue Trainer damit zu kämpfen, dass ihm die Optionen fehlten, um Rückschläge adäquat zu verkraften. Dennoch erreichten die Bayern das Pokalfinale und das »Finale dahoam« in München.

Auf diesen einen Moment hatte der gesamte Klub seit Monaten und Jahren hingearbeitet. Als Bastian Schweinsteiger dann im Halbfinale der Champions League in Madrid den entscheidenden Elfmeter im gegnerischen Netz versenkte und damit den Traum vom Heimsieg in der Königsklasse aufleben ließ, brachen in München alle Dämme. Im Jahr 2011 fiel es wie 2009 nach der Entlassung van Gaals ebenso schwer zu glauben, dass das Finale in der heimischen Allianz Arena ein realistisches Szenario sein könnte. Doch mittlerweile sprach vieles für einen historischen Erfolg. Im Achtelfinale (Basel) und Viertelfinale (Marseille) hatte man in der schwierigsten Saisonphase etwas Losglück. Pünktlich zum Duell mit Mourinhos Real Madrid war dann die Form zurück. In zwei packenden Duellen lieferten sich die Mannschaften einen offenen Schlagabtausch, bis es ins Elfmeterschießen ging. Der letzte Schütze war Bastian Schweinsteiger. Sein Gang zum Elfmeterpunkt wurde gefühlt immer länger. Alles lag an ihm. Der Druck, den er in diesem Moment spürte, ist nicht in Worte zu fassen. Das Santiago Bernabéu – ein Stadion, das jeden Gegner in Angst und Schrecken versetzen kann – vibrierte förmlich vor Spannung. Schweinsteiger lief an. Schweinsteiger traf. Das Stadion schwieg. Lediglich ein paar tausend angereiste Fans in Rot feierten.

Ihr Held, Bastian Schweinsteiger, der Fußballgott, verwirklichte den ganz großen Traum. Und auch das zweite Halbfinale machte den Bayern Hoffnung. Barcelona unterlag Chelsea, und so war der Finalgegner nicht Guardiolas übermächtig wirkende Mannschaft, sondern ein Team, das eine ähnlich durchwachsene Saison hinter sich hatte wie die Bayern selbst. Das roch sogar nach einer leichten Favoritenrolle für den FCB. Mit nur einem Spiel hatte Heynckes die Chance, sich unsterblich zu machen und ein Versprechen einzulösen, das seit dem Jahr 1991 offen war.

 

Zwei große Niederlagen

Die Redewendung »es sollte nicht sein« gibt nicht einmal im Ansatz wieder, was dann im Saisonfinale passierte. Ja, die durchwachsenen Leistungen im Frühjahr und die beiden verlorenen Meisterschaften waren nicht nur herbe Rückschläge für die Bayern gewesen, sondern auch eine Machtdemonstration des BVB. Von einem Wechsel an der Spitze des deutschen Fußballs war die Rede. Dortmund gewann nicht nur die direkten Duelle mit dem Rekordmeister, sondern auch die Titel. Psychologisch war das Pokalfinale mit dem Rivalen für die Münchner deshalb aus mehreren Perspektiven eine schwierige Angelegenheit. Da waren nicht nur die Zweifel, ob der BVB überhaupt zu schlagen sei, sondern auch die angesprochenen Einzelschicksale. Robbens verschossener Elfmeter im Bundesliga-Endspurt und andere unglückliche Auftritte hatten Wirkung gezeigt. Der Niederländer war nicht nur einer der wichtigsten Offensivspieler seines Teams, sondern auch ein Antreiber und Führungsspieler mit unfassbarem Ehrgeiz. Trotzdem hatte man das Gefühl, dass ihm und dem FC Bayern das nötige Selbstverständnis fehlte. Nicht zuletzt hatten die Spieler natürlich vor allem das Champions-League-Finale gegen Chelsea im Kopf, das nur eine Woche später stattfand.

Dortmund ritt dagegen gerade auf einer Euphoriewelle, die kaum aufzuhalten schien. Das zeigte sich auch im Finale des DFB-Pokals. Nach dem Spiel wurde Philipp Lahm dafür belächelt, dass er sein Team lange Zeit als dominante Mannschaft wahrgenommen hatte. Ganz unrecht hatte er aber nicht. Die Bayern kamen gut rein, verkrafteten sogar einen frühen Rückstand und kontrollierten das Geschehen über 40 Minuten hinweg. Dass ausgerechnet Arjen Robben den zwischenzeitlichen Ausgleich per Elfmeter erzielte, schien zur Aufarbeitung der letzten Monate dazuzugehören. Doch dann passierte kurz vor der Halbzeit etwas, das den Bayern förmlich das Genick brach. Boateng verursachte erst einen Elfmeter, den Hummels zur Führung einschoss, und ließ wenig später Lewandowski ziehen. Der Pole gab der Heynckes-Elf mit dem 3:1 einen frühen Knockout.

Diese komplett verrückte Partie lässt sich kaum anhand eines Aspektes erklären. Aus taktischer Sicht hatte Heynckes nicht viel falsch gemacht. Im Mittelfeld setzte er mit Schweinsteiger und Kroos auf zwei ballsichere Spieler gegen Dortmunds starkes Pressing (siehe Abb. 4). Gerade in der ersten Halbzeit sorgte das für eine gute Spielkontrolle. Beiden war es durch Gustavo als Absicherung möglich, auch mal in die Offensive zu stoßen. Schweinsteiger liebte die Situationen, in denen er aus der Tiefe das offensive Zentrum überladen konnte. Mit Robben und Ribéry entschied sich der Trainer zudem für Tempo und gegen Thomas Müller. Erst sah es so aus, als würden die Bayern von der Flexibilität ihrer Offensive profitieren. Selten hatten sie sich in so kurzer Zeit so viele Chancen gegen Klopps Dortmunder Elf herausgespielt. Allerdings war das Pokalfinale ein Äquivalent zur gesamten Bayern-Saison. Es fehlte dem Team an Sicherheit, Selbstverständnis und Konstanz. Den Doppelschlag vor der Halbzeit konnten sie nicht mehr verkraften. Dortmund nutzte im Gegenpressing die Unsicherheit und ganz besonders die fehlende Kompaktheit aus. Dabei entpuppte sich die Mischung aus risikoreichem Ballbesitzspiel und fehlendem Nachrücken der Mannschaft bei Ballverlusten als unvorteilhaft. Das Mittelfeldpressing der Bayern war wirkungslos gegen Klopps Umschaltfußball.

Basics des Pressings: Als Pressing wird grundsätzlich das Anlaufen einer Mannschaft ohne Ball bezeichnet. Dabei gibt es drei Grundformen. Das Abwehrpressing ist auch als »Mauerfußball« bekannt. Die Mannschaft steht sehr tief und greift den Gegner spät an. Im Mittelfeldpressing steht die Mannschaft schon deutlich höher. Meist wird dem Gegner der Spielaufbau gewährt, aber sobald der Ball die Mittellinie überschreitet, erfolgt der Zugriff. Das Angriffspressing ist die offensivste Form der Arbeit gegen den Ball. Die Spieler versuchen dabei, den Gegner schon im Aufbauspiel zu stören, und schieben bis weit in die gegnerische Hälfte. Als Gegenpressing wird die Reaktion einer Mannschaft nach Ballverlusten bezeichnet, wenn sie versucht, den Gegner direkt wieder zuzustellen und den Ball innerhalb von wenigen Sekunden zurückzugewinnen.

Die Offensive wurde nicht ausreichend unterstützt, um einfache Ballverluste zu minimieren, und so entstanden Räume, die nicht mehr verteidigt werden konnten. Kein Team offenbarte diese Schwächen im bayerischen Spiel so gnadenlos wie Klopps Borussia Dortmund. Die 5:2-Niederlage war am Ende niederschmetternd und verdient, wenn auch in der Höhe etwas zu deutlich. Sie markierte eine Zäsur auf nationaler Ebene, doch die Bayern hatten nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Stattdessen versuchten sie sich an einer schnellen Analyse. Denn da war ja noch ein weiteres Finale zu spielen.


Abb. 4 Die Spielidee im Pokalfinale 2012 gegen den BVB: ein spielstarkes, aber defensiv abgesichertes Zentrum und flexible Außenstürmer.

Es war ein Finale, neben dem das DFB-Pokalfinale aussah wie Lahm neben van Buyten. Eines, das für alle Bayern-Fans ein emotionaler Höhe- und Tiefpunkt zugleich war – gerade für einen Fan, der wie ich aus der Umgebung Berlins kommt und dem sich in der Kindheit nicht viele Gelegenheiten boten, die Atmosphäre eines derart großen Spiels vor Ort aufzusaugen. Doch diesmal hatte ich diese Chance. Schon nach dem Schweinsteiger-Elfmeter in Madrid machte ich Pläne. Eine Karte für die Allianz Arena wäre ebenso teuer wie unrealistisch für mich gewesen, aber ich wollte um jeden Preis nach München. Zum Glück stand fest, dass im Olympiastadion ein offizielles Public Viewing stattfinden würde. Dafür sicherte ich mir direkt zwei Karten und verabredete mich mit einem Bayern-Fan und guten Freund aus Bremen zum 19. Mai 2012 in München. Ein Berliner und ein Bremer fahren nach München zu ihrem Lieblingsklub – fast schon absurd. Doch das war mir egal. Die Vorfreude aller Bayern-Fans war enorm. Die Zeit bis zum Finale schien überhaupt nicht zu vergehen. In der Nacht davor konnte ich kaum schlafen, doch als ich am frühen Morgen im ICE von Berlin nach München saß, war von Müdigkeit wenig zu spüren. Ich war mir sicher, dass die Bayern an diesem Tag Geschichte schreiben würden.

Gegen Mittag kam ich am Hauptbahnhof in München an. Ich spürte vom ersten Moment an, welche Bedeutung dieses eine Spiel hatte. Das Wetter war herrlich, die Menschen zeigten sich gut gelaunt, die Biergärten und öffentlichen Plätze waren überfüllt. Auf dem Marienplatz skandierten mehrere Hundert Bayern-Fans: »Drogba, Drogba, who the fuck is Drogba?«

Für mich persönlich war das ein bis heute einmaliges Erlebnis. Nie wieder habe ich eine so elektrisierende und packende Stimmung in einer Stadt wahrgenommen. Noch in vielen Jahren werde ich an den Moment zurückdenken, als ich das legendäre Münchner Olympiastadion betrat. Ich blickte von oben auf eine Masse aus Menschen, die sich über die Tribünen und den grünen Rasen erstreckte. Nach einigen Minuten, in denen wir diese ganze Atmosphäre einfach aufsaugten, gingen wir ebenfalls in den Innenraum und warteten auf den Anpfiff.

Als das Spiel dann endlich losging, war die Stimmung herausragend. Vor allem deshalb, weil Chelsea so gut wie keine Chance hatte. Bayern war nicht nur dominant, sondern auch drückend. Lediglich die Chancenverwertung war schlecht. In der zweiten Halbzeit drehte sich die Stimmung etwas. Die Heynckes-Elf war zwar immer noch die klar bessere Mannschaft, doch je mehr Chancen vergeben wurden und je länger es 0:0 stand, umso nervöser wurden auch die Fans. Sie lechzten nach diesem einen Moment. Bei jedem Torschuss, bei jeder Großchance, bei jeder noch so kleinen Möglichkeit spürte ich, wie die Stimmung im Stadion kurz davor war, zu explodieren.

Dann kam die 83. Spielminute. Toni Kroos streichelte den Ball vom linken Strafraumeck mit einer Präzision in den Fünfer, die ein normaler Mensch nicht einmal an der PlayStation nach mehreren Versuchen erreicht hätte. Der Ball hatte genügend Tempo und die perfekte Flugbahn, um Petr Čech trotz der Nähe zu seinem Tor keine Chance zu lassen. Diese Flanke hätte ein Gedicht verdient. In der Mitte lief gleichzeitig Thomas Müller ein – wer sonst? Der bayerische Lausbub, der seit van Gaal fast immer spielte. Ein Spieler aus der eigenen Jugend, der diesen Verein so sehr lebt wie kaum ein anderer. Einer wie Badstuber, Alaba, Lahm und Schweinsteiger. Das Resultat großartiger Jugendarbeit, die in München über Jahre hinweg scharf kritisiert wurde. Einer von uns. Hätte man vor dem Spiel eine Geschichte darüber geschrieben, wie dieses Finale aus Bayern-Sicht perfekt laufen würde, dann hätte sie genau dieses Happy End gehabt. Müller köpfte den Ball wuchtig auf den Boden, von wo er endlich ins Tor sprang. Mit einem lauten Knall entlud sich die Spannung in der Allianz Arena, im Olympiastadion, auf der Theresienwiese und überall sonst in der ganzen Stadt zugleich. Das Gefühl, das in mir hochkam, war und ist bis heute mit nichts zu vergleichen. Tränen, Erleichterung, pure Emotionen – alles, was in der Vergangenheit passiert war, zählte auf einmal nicht mehr. Allein dieser Moment war wichtig. Alle waren sich einig, dass es das Tor zum Champions-League-Sieg war. Zu Hause. In der eigenen Arena. Da gab es keinen Zweifel mehr. Chelsea war zu schwach, um dem noch etwas entgegensetzen zu können.

Doch das Märchen verwandelte sich in ein Drama. Chelsea bekam noch eine letzte Chance: ein geschenkter Eckball. Kurz zuvor wurde Müller wegen Krämpfen ausgewechselt. Für ihn kam Daniel van Buyten, der gegnerische Standards absichern sollte. Jede Aktion, jede Sekunde zog sich ewig. Selbst die Ausführung dieses verdammten Eckballs dauerte gefühlt eine ganze Nacht.

Es war der erste Eckball für Chelsea überhaupt. Die Bayern hatten am Ende 20. Marcel Reif griff diesen Fakt auf und redete den Ausgleich förmlich herbei. Hätte er doch besser geschwiegen.

Die Ecke segelte in den Strafraum, Lampard blockierte Boateng, Drogba setzte sich in einer wirren Zuordnung gegen Lahm durch und köpfte den Ball ins obere Eck, als hätte er ihn mit dem Vollspann seines Fußes perfekt getroffen. Was für eine Rakete. Unfassbar. Ich brach auf dem Rasen des Olympiastadions in mich zusammen und konnte nicht begreifen, was da gerade geschah.

Aber es wurde noch schlimmer. In der Verlängerung waren die Bayern immer noch das klar bessere Team. Sie ließen ungezählte Chancen liegen. Die größte davon hatte Arjen Robben. Natürlich vom Elfmeterpunkt. Natürlich nicht so selbstbewusst wie noch im DFB-Pokalfinale in Berlin, sondern mit zitternden Beinen wie in Dortmund. Bayerns Drama war auch sein persönliches Drama. Die komplette Spielgeschichte wendete sich erneut gegen Jupp Heynckes und seine Mannschaft. Das spürten auch die Fans. Es ging unweigerlich ins Elfmeterschießen. Ich stand Arm in Arm mit völlig fremden Menschen vor der Leinwand. Als wäre ich selbst auf dem Platz. Ich war durchnässt von Schweiß und Tränen, wollte die Hoffnung auf gar keinen Fall aufgeben. Lahm, Gómez und Neuer verwandelten, Mata ließ für Chelsea einen Elfmeter liegen. Dann verschoss Olić, und Cole konnte ausgleichen. Es blieb das Duell zwischen Schweinsteiger und Drogba. Wieder war da dieser unfassbar lange Weg für den Mittelfeldchef. Von der Mittellinie bis zum Elfmeterpunkt hatte er viel Zeit, um nachzudenken.

Vielleicht ging ihm die Kritik einiger Medien durch den Kopf, die es anscheinend auf ihn abgesehen hatten. Er sei kein Führungsspieler und könne die Mannschaft nicht ausreichend tragen. Eine ganze Generation rund um Lahm und Schweinsteiger hätte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht verewigen können. Vielleicht sei doch nicht alles Gold, was glänzt. Was auch immer er dachte, ein Schuss würde darüber entscheiden, wie sich seine Wahrnehmung verändert. Seine herausragende Leistung in 120 Minuten zuvor wäre bei einem Fehlschuss nichts mehr wert. So absurd ist der Fußball.

Schweinsteiger setzte seinen Schuss an den Pfosten, Drogba traf. Chelsea gewann die Champions League in München. Kein Happy End. Zwischen der puren Ekstase rund um die 83. Minute und diesem Moment lagen Welten.

Rund zwei Stunden nach dem Abpfiff fand ich mich auf dem Boden des Olympiastadions wieder. Leer. Ausgelaugt. Die meisten Leute waren gegangen. Ich sprach in dieser Nacht kein Wort mehr. Wie musste es dann erst Schweinsteiger oder Robben gehen? Die Stadt, die ich tagsüber so froh, emotional und lebendig wie nie zuvor erlebt hatte, versank in tiefer Trauer. Die Stunden, bis mein ICE endlich kam, waren die längsten meines Lebens. Ich hatte die Rückfahrt erst am nächsten Morgen gebucht. Verdammter Optimismus. Der ganze Hauptbahnhof war voll mit Menschen, die anscheinend genauso optimistisch gewesen waren. Alle schwiegen. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Niemand konnte glauben, was passiert war. Wenige Momente verschoben die Wahrnehmung dieses Spiels von einer großartigen Leistung zu einer Debatte um eine ganze Generation, die keine großen Titel gewinnen könne. München lernte in dieser Nacht nicht nur, wer Didier Drogba ist, sondern erreichte einen emotionalen Tiefpunkt, der eine gute Saison bis heute überschattet. Die Reaktionen waren brutal. Robben wurde wenige Tage später bei einem Freundschaftskick gegen die niederländische Nationalmannschaft von einer Minderheit im eigenen Publikum ausgepfiffen. Peinlich. Hoeneß sprach noch in der Nacht der Niederlage indirekt von fehlender Mentalität. Den ersten Fans dämmerte bereits, dass diese Niederlage weitreichende Konsequenzen haben würde.

 
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