Noch mehr Fußball!

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Bertholds Blutwurstgrätsche

Unsere Zeit, die vor sich hin gurgelnde Gegenwart, gibt einem ja ohne Unterlaß Anlaß genug, schon nach dem Aufwachen derart grandios gelaunt zu sein, daß man die Abwicklung der Existenzpflichten mal wieder einen Tag lang lieber bleibenlassen möchte. Wenn einen dann obendrein aus dem zwecks Ablenkung von den Verwehungen in der eigenen verkarsteten Rübe eingeschalteten Frühstücksfänseh, dieser grausamsten aller zivilen Foltermaschinen, irgendein brillanter Bundesligamanager anquakt oder irgendeine akute Trainertristessevisage anrempelt, ist bereits um 8.37 Uhr endgültig alles zu spät. Da hilft im Grunde nur noch der Nottrunk, dem man sich geflissentlich nicht anheimgibt, oder die durchlauchtige Depression.

Aber dann passieren manchmal seltsam schöne Dinge, ja wenden dieselben sich zum Besten, an Abenden etwa, an denen man mit den Kollegen Stefan Gärtner von der Titanic und Martin Maria Schwarz vom gelobten Kulturkanal des Hessischen Rundfunks in der Frankfurter High-End-Apfelweinwirtschaft Klabunt auf dem kleinsten Lesepodium der Welt hockt und stundenlang forciert unsinnig über Fußball babbelt – unter Zuhilfenahme allermodernster und simultan -marodester Videoprojektions- und CD-Einspielungstechnologie sowie in Begleitung allerfeinster Stargäste.

Soviel Selbstbehudelung muß hier leider sein: Die »Blutwurstgrätsche«, wie die unregelmäßig organisierte, traditionell mit einem Sack schlechter Offenbach-Witze gespickte und im Auftrag der Robert-Hoyzer-Stiftung runtergerobbte Veranstaltung heißt, ist mir zum Labsal geworden. Bislang waren u. a. Rudi Brückner, Horst Tomayer, Dragoslav Stepanović und Nia Künzer zu Gast, und neulich beehrte uns Weltmeister Thomas Berthold, der Hanau-Frankfurter Bub, der als technisch hochbeschlagener, gleichwohl allzeit splitterholzunerbittlicher Verteidiger an drei WM-Endrunden teilnahm, in dreihundertzweiunddreißig Bundesligapartien immerhin zweiundzwanzig Tore schoß und ungezählte Rekorde im Einstreichen von Roten Karten aufstellte.

Seinen berühmtesten, ja eindrucksvollsten Platzverweis fuhr er im WM-Viertelfinale gegen Mexiko am 21. Juni 1986 in Monterrey ein, nachdem er seinen widerspenstigen Widersacher nach einem Laufduell mit der Manschette, die seinen wahrscheinlich vom Bierkrugstemmen lädierten rechten Arm zierte, im Fallen niedergestreckt hatte. Berthold kommentierte die Szene bei uns ausgelassen selbstironisch und heiter und setzte im Verlauf des ausufernden Geplauders eine gelungene Pointe nach der anderen. Der ehemals zum arroganten Stinkstiefel par excellence erkorene Weltklassemanndecker, der bei der Eintracht, bei Hellas Verona, beim AS Rom, bei Bayern München und beim VfB Stuttgart diente, ist ein Erzähl- und Unterhaltungsnaturtalent, das sich nicht scheut, vor Publikum in Anspielung auf seine FCB- und Bernhard-Langer-Tribünensaison 1992/93 Minigolf mit einem Kochlöffel und einem Ball aus Aluminiumfolie zu spielen, die furchtbaren WM-Songs von 1986 (»Mexico mi amor«), 1990 (»Wir sind schon auf dem Brenner«) und 1994 (»Far Away In America«) über sich ergehen zu lassen, die Thomas-Berthold-Ähnlichkeitsmedaille für kühnes Kaugummikauen während des Abspielens der Nationalhymne zu verleihen und aus dem Bauchladen des Spitzenspielerlebens zu schnacken.

1990 habe man, erzählte Berthold, den WM-Titel ohne eine einzige Taktikbesprechung gewonnen. Bekkenbauer habe gewußt oder einfach behauptet, daß man unschlagbar sei – und fertig. 1994 hingegen, unter seinem Nachfolger Berti Vogts, sei bereits während der desaströsen Vorbereitung klar gewesen, daß die USA-Reise frühzeitig enden würde. Einen unfähigeren Trainer als Vogts, so Berthold, habe er vorher nicht und danach nicht mehr erlebt.

Die offizielle Darstellung der Weltmeisterschaft 1986 bedürfte gleichfalls erheblicher Ergänzungen. Denn dazumal lief offenbar wirklich alles wunderbar aus dem Ruder. Nachdem sich Beckenbauer für Toni Schumacher als Nummer eins im Tor entschieden hatte, habe Uli Stein, versicherte Berthold, vor versammelter Mannschaft verkündet, ab sofort Urlaub zu machen – und anschließend auf der Bank hingebungsvoll sonnengebadet und nach Herzenslust geraucht, ohne daß Beckenbauer eingeschritten sei. Der Kaiser besaß schlichtweg keinen Mumm dazu.

Das hoffnungslose Unterfangen, den Laden zu disziplinieren, oblag dem Assistenten Vogts. Dem tanzten allerdings sogar die braven Förster-Brüder auf der Nase herum, und im Anschluß an das völlig überraschend gegen Frankreich gewonnene Halbfinale seien im Bus auf der Fahrt vom Stadion ins Hotel dreihundert Flaschen Bier geleert und durch die Fenster auf die Straße befördert worden. Das Endspiel, so Berthold, habe man denn auch einzig und allein wegen der nie endenden Sauferei vergeigt.

Am dollsten trieb es, berichtete Berthold, Hans-Peter Briegel. Um den unerträglichen Vogts zu demütigen, hatte der Pfälzer Brecher zum Beispiel eine Riesenpfanne anfertigen lassen, in der er sich spätabends fünfzig (!) Spiegeleier aufs Zimmer bringen ließ, wo eine Kartenrunde tagte, die bis zum Morgengrauen ihre Blätter drosch. Als der Korschenbroicher Berti mal wieder versuchte, die Einhaltung der Ernährungsregeln und des Zapfenstreichs zu kontrollieren, und an die Tür von Briegels Gemach klopfte, öffnete der Athlet mit der Statur eines Zehnkämpfers, schaute auf den Gnom herab und bellte ihn an: »Was willst du hier? Ich hab’ ein Superblatt! Laß dich hier nie wieder blicken!«

Ich freue mich mittlerweile auf jede neue »Blutwurstgrätsche«, denn da sind Schnurren zu hören, die zeigen, daß die Geheim- oder Realgeschichte des deutschen Fußballs noch geschrieben werden müßte. Merkwürdigerweise hat aber just an der wahren Historie des Fußballs, an seiner »Geschichte von unten«, der durch Boulevardschleim verschlammte Medienapparat nicht das geringste Interesse – obwohl Tratsch und Klatsch prinzipiell in seinen Zuständigkeitsbereich fielen.

»Es ist doch immer dieselbe Suppe, die hier rumschwimmt«, sagte Thomas Berthold neulich in einem Interview mit dem Magazin 11 Freunde, gefragt, was er von der hiesigen Fußballjournaille halte. Und weil man als Freund des Fußballs diese Suppe permanent auslöffeln muß, ereilt einen nebst der morgendlichen auch noch die abendliche Schwermut, kauernd vor der Stammkneipen-Gonorrhöe-Glotze, aus der das nichtige Moderatoren-, Experten- und Kommentatorengesabber herausschwappt, bis sich die Seele der Sintflut des Schwachsinns hingibt.

Wer müßte sich da nicht besinnungslos betrinken – beziehungsweise besinnungslos trinken?

Hinfort mit Hitzfeld!

Im Verlauf des UEFA-Cup-Achtelfinalhinspiels zwischen dem RSC Anderlecht und dem FC Bayern München fiel es uns am Kneipentisch nach dem 0:4 simultan wie Schuppen von den Zehennägeln: Hitzfeld muß weg! Ottmar Hitzfeld muß gefeuert werden! Und zwar sofort! Was für ein Versager, was für ein beschissener Trainer, dieser Hitzfeld! Höchste Zeit, daß Henke ihn ablöst. Oder Horst Hrubesch. Bis Klinsmann am 1. Juli das Ruder übernimmt. Hitzfeld? Hinfort mit ihm! Ein bißchen subito!

Ich mein’, der Mann beziehungsweise die von ihm betreute Mannschaft hat in dieser Saison bislang immerhin eins (in Zahlen: 1) von neununddreißig Pflichtspielen verloren, steht im DFB-Pokalhalbfinale, führt die Bundesliga an, hat in dreiundzwanzig Ligapartien elf Tore kassiert, gewann zum erstenmal seit zehn Jahren auf Schalke, feierte in Brüssel den »höchsten Auswärtssieg der glorreichen Europapokalgeschichte« (Financial Times Deutschland) und …

Nun, gut, sicher, in der Oberliga NOFV-Nord kommt Spitzenreiter Hertha BSC II in sechzehn Begegnungen gleichfalls auf gerade mal eine Pleite, dasselbe gilt für den SC Renault Brühl in der Landesliga Mittelrhein – Staffel 1 (bei achtzehn Spielen) und Holstein Kiel II in der Verbandsliga Schleswig-Holstein (bei einundzwanzig Partien). Und in der sackstarken belgischen Jupiler League verließ Standard Lüttich in vierundzwanzig Begegnungen noch kein einziges Mal als Loser den Platz, genauso wie Wisla Krakau in neunzehn Matches in der phänomenal besetzten polnischen Ekstraklasa. Aber was heißt das schon?

Nichts. Oder, im Gegenteil, halt: daß gehandelt werden muß! Denn nachdem der FC Bayern am 8. November des vergangenen Jahres gegen Bolton Wanderers nur ein 2:2 erreicht hatte und zwei Tage später in Stuttgart mit 1:3 untergegangen war, konnte der weise Vorstandsboß Brummelknigge gar nicht anders, als den Lörracher Lehrmeister öffentlich zurechtzuweisen (»Fußball ist keine Mathematik«), das Rotationsprinzip zur Disposition zu stellen und Hitzfeld in der Folgezeit so lange zu piesacken, bis der ankündigte, am Ende der Saison zu verduften.

Auf www.uefa.com war jetzt zu lesen: »Ein 5:0-Sieg ist natürlich immer ein gutes Ergebnis. Doch der Erfolg des FC Bayern München beim RSC Anderlecht im UEFA-Pokal hat aber noch einige angenehme Nebeneffekte. Wieder einmal durfte sich Trainer Ottmar Hitzfeld für sein Rotationsprinzip feiern lassen, das dem Verein schon 2000/01 den ganz großen Triumph in der UEFA Champions League bescherte.« Welch eklatante Fehleinschätzung! Hitzfeld, das liegt seit den Novembertagen 2007 auf der Hand, ist eine Riesenflasche, sein Rausschmiß dringender denn je geboten. Es wäre eine ähnlich vernünftige Entscheidung wie die durch den großartigen Teppichhändler Michael A. Roth veranlaßte Entlassung Hans Meyers in Nürnberg.

Sehen wir uns die Fakten an. Seit Hitzfeld wieder an der Säbener Straße regiert, ist Oliver Kahns Torquote dramatisch gesunken. Insgesamt gleicht der Quotient aus erzielten Toren und Zuschauerdurchschnitt einem Offenbarungseid. Bei geschätzten 67.000 Zuschauern pro Bundesligaspiel in der Allianz-Arena und elf Begegnungen trafen die Roten vor in toto 737.000 Fans bis dato ganze einundzwanzigmal, woraus ein Quotient von 2,85 mal zehn hoch minus 5 resultiert. Auf jeden Zuschauer kommen mithin bloß 0,0000285 Tore – der schlechteste Wert seit 1933!

 

Das liegt auch daran, daß Hitzfeld in seiner zweiten Amtsperiode an der Isar Giovane Elber kein Vertrauen mehr schenkt. Der Brasilianer hat heuer kein einziges Tor geschossen! Zu schweigen von der kläglichen Korrelation zwischen Abseitspositionen und einsilbigen Spielernamen. Ottl, Lahm, Lell und Kroos – allesamt Deutsche! – tappten dreiundachtzigmal in die Falle, obwohl sie es zusammen auf lediglich siebzehn Buchstaben bringen. Berechnen Sie, lieber Leser, den beschämenden Wert selber! Wir sagen (und leiten diese Worte insbesondere an Karl-Heinz Rummelbummel weiter): Herr Hitzfeld, Sie haben keine Ausreden mehr!

Was dito gerne vergessen wird: Ottmar Hitzfeld ist ja seit jeher vom Habitus her ein Fluch, handelt er doch im heute so bedeutsamen medialen Umfeld nach einem Motto des gleichermaßen unsäglichen Journalistenverächters Ernst Happel, der mal bekannte: »Ich bin nicht auf Sensationen aufgebaut.« Deshalb stimmt uns wenigstens froh, daß auf den Schwarzwälder Hitzfeld im Sommer ein Schwabe vom glamourösen Kaliber eines Hegel folgen wird – Jürgen Klinsmann, der mit einem Salär von acht Millionen Euro pro Jahr und einem Betreuerstab in Bataillonsstärke in den nächsten zwei Jahren seinen Ruf als »Modernisierer« (www.spiegel.de) untermauern und »ein Energiefeld aufbauen« will, »das den Spielern ziemlich Spaß machen wird«.

Energiefeld statt Hitzfeld – na endlich. Hitzfeld, dieses Relikt aus einer Epoche, die von Rauchfeldern oder -meldern wie Menotti und Minetti und Ornella Muti und eben auch dem Zigarrenjongleur Heizfeld oder Heidfeld oder halt Hitzfeld geprägt wurde, Hitzfeld, dessen Fähigkeiten, die vergangenen Wochen haben es gezeigt, vielleicht reichen, um Energie Cottbus in die zweite Liga zu geleiten, hat abgewirtschaftet, hat den großen FC Bayern zum Gespött der Fußballwelt gemacht. Schluß damit! Werft ihn raus! Und holt, bis Klinsmann in München landet, meinethalben Lattek! Oder Olm. Oder Zebec.

Und dann laßt uns mit Franz Beckenbauer in die Zukunft schauen. Der nämlich äußerte Ende Januar auf dem sechzigsten Niedersächsischen Landespresseball in Hannover: »Ich kann nur hoffen, daß Jürgen Klinsmann die zwei Jahre durchhält.« Andernfalls kehrt wer zurück?

Hitzfeld. Hossa!

Der Elfmeterpunkt

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

was sagen Ihnen die Namen Loy – Eigenbrodt, Höfer – Stinka, Lutz, Weilbächer – Kreß, Sztani, Goethe, Lindner, Pfaff?

Eben.

Und wer pfiff?

Klar. Schiedsrichter Asmussen aus Flensburg pfiff. Mit Ernst Huberty zu raunen: »Asmussen, ein Name, den man sich merken muß.«

Und Asmussen pfiff hervorragend an jenem 28. Juni 1959 im Berliner Olympiastadion, denn er pfiff, weil er langsam mal nach Hause wollte und es deshalb höchste Zeit für eine Vorentscheidung wurde, in der ersten Minute der Verlängerung Elfmeter, und zwar einwandfrei für die richtige Mannschaft.

Dort drüben, jenseits des Mains, in einer Stadt called Offe’bach, hat man sich mit der historischen Wahrheit bis heute nicht anfreunden mögen, aber es war unbestreitbar so, daß ein Spieler namens Lichtl den großen Richard Kreß – übrigens der älteste Akteur beim Start der Bundesliga 1963 – im Strafraum zu Fall gebracht hatte, und Asmussen zeigte auf den, mit Manni Breuckmann zu reden, »ominösen Punkt«.

Wie wir alle wissen, verwandelte Goethe den Strafstoß zum psychologisch äußerst wichtigen 3:2, und … Halt! Stop!

Ich fange noch mal von vorne an.

Sagt Ihnen der Name Peter Handke etwas? Handke? Nicht Mike Hanke! Peter Handke hat die später zu allem Überfluß auch noch von Wim Wenders verfilmte Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter zu verantworten, ein ziemlich dubioses Opus, für das der Torwächterpartisan Petar Radenković die lobenden Worte gefunden haben soll: »So ein Unsinn!« Beziehungsweise: »Nix viel über Fußball.« Beziehungsweise war ihm, überlieferte Hellmuth Karasek, dazumal Kulturredakteur beim Spiegel, das Buch von der Redaktion zur Rezension geschickt worden. Radenković lehnte brieflich ab: »Titel ist Bledsinn! Torwart hat nicht Angst beim Elfmeter. Hält er, ist er Held. Hält er nicht, ist Schütze Idiot.«

Hält er, ist er Held. Dito ein Satz, den man sich merken muß.

Handke indes hatte exakt zehn Jahre nach dem besten Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft aller Zeiten überdies den Lyrikband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt veröffentlicht, in dem das Gedicht »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968« zu lesen war:

Wabra

Leupold – Popp

L. Müller – Wenauer – Blankenburg

Starek – Strehl – Brungs – H. Müller – Volkert

Tja. Das heißt: Auch hier war Handke ein gravierender Fehler unterlaufen. Nicht Leupold hatte neben Popp als linker Verteidiger agiert, sondern Hilpert. Leupold wiederum hatte in der 76. Minute Blankenburg ersetzt. Verstehe einer diesen Dichter!

Ich allerdings verstehe meine Entscheidung recht gut, Feigenspan, der dazumal die Eintracht auf die Sie-gesstraße führte, durch Goethe substituiert zu haben. Vom f zum g ist es im Alphabet nur ein winziger Schritt, und beide sind große Frankfurter. Im Verbund mit einem dritten, dem Volksgenie Anton Hübler, bilden sie eine strahlende Trinität, vollkommen stimmig und einträchtig im Alphabet neben- oder hintereinander aufgereiht: f – g – h. Feigenspan – Goethe – Hübler. Die Umbenennung der SGE in FGH Frankfurt – Freunde Großer Helden Frankfurt –, sie sei hiermit bei der Stadt beantragt, wenn die denn für so was zuständig sein sollte.

Anton Hübler, den wir hier nochmals mit großer Freude und großem Applaus begrüßen –, Anton Hübler ist wahrscheinlich der einzige Zeugwart der Welt mit Legendenstatus. Ein Eintracht-Fanklub trägt seinen Namen – das »Kommando Anton Hübler« – und ehrt dergestalt das Wirken eines Mannes, der 1954 auf dem Arbeitsamt in Langen auf eine Anzeige gestoßen war. Die Eintracht suchte einen Gärtner, Anton Hübler bewarb sich, bekam die Stelle, und fünf Jahre später legte er geraume Zeit vor dem Finale im Riederwald ein Geranienbeet an, auf dem die von Fans und Händlern aus der Großmarkthalle spendierten Blumen den Schriftzug »Deutscher Meister Eintracht Frankfurt« bildeten. So gewinnt man Titel, werte Offenbacher!

Völlig einleuchtend lebt Anton Hübler heute in Urberach einen Steinwurf entfernt vom dortigen: Waldstadion – und hält als jemand, der vierzig Jahre lang treu und integer der Diva diente, die Erinnerung an Zeiten wach, in denen Stadionsponsoring und ähnliche Krämpfe nicht zum dieser Tage oft mühsalbeladenen Fußballalltag gehörten.

Der Name »Waldstadion«, er gemahnt zudem an die lauschigen, idyllischen Passagen in Goethes lyrischem Œuvre, etwa an das Gedicht »Ich ging im Walde so vor mich hin«, in dem das lyrische Ich auf eine Blume stößt, deren Schönheit es beinahe dahinschmelzen läßt: »Ich wollt’ es brechen, / Da sagt’ es fein: / Soll ich zum Welken / Gebrochen sein? // Mit allen Wurzeln / Hob ich es aus / Und trug’s zum Garten / Am hübschen Haus. // Ich pflanzt’ es wieder / Am kühlen Ort; / Nun zweigt und blüht es / Mir immer fort.«

Berücksichtigen wir obendrein, daß der Goethe-Forscher und -Herausgeber und, notabene, Eintracht-Fan F. W. Bernstein die Hüblersche Geranienepisode zu seinem »schönsten Eintracht-Erlebnis« erkor – noch vor Hölzenbeins Auftritten, Holz »ging«, sagt Fritz, immer »wie Kaltwasser durch die Verteidigung« –, dann ist vollends verständlich, warum der heute einzuweihende Anton-Hübler-Pfad, mit dem die sogenannte Landschaftslücke des GrünGürtels zwischen Ostpark und Mainufer vorläufig geschlossen wird, dem bedeutenden Bundesligabotaniker und Zeus unter den Zeugwarten gewidmet ist. Wir verneigen uns!

Und wir ziehen noch zwei weitere Hüte: vor Henner Drescher und Fritz Weigle. Fritz hat nicht bloß die Zeichnungen des Zyklus »Goethe und die Eintracht« zur Verfügung gestellt, die den Anton-Hübler-Pfad unter dem hochhumanistischen Motto »Hier bin ich Fan, hier darf ich’s sein« auf siegestrunken wehenden Fahnen zieren; Fritz hat obendrein der Stadt Frankfurt und den Fans des GrünGürtels ein neues komisches Kunstwerk geschenkt: den Elfmeterpunkt aus der Sicht der Innenwelt des Feigenspan vorm Abschluß mit dem Außenspann.

Beziehungsweise: Was sagt derjenige, der die Installation »Der Elfmeterpunkt« entworfen und zusammen mit Henner Drescher in allen drei Raumdimensionen dieser Welt realisiert hat? Ich schalte um zu Fritz Weigle: »Die Erdachse wird in den GrünGürtel verlegt, und zwar in den Ostpark. Dort ist ein Biotop freilaufender Fußballspieler. Am Rande des Spielfeldes ragt jetzt die Erdachse, und sie trägt an ihrer Spitze den Elfmeterpunkt, der sonst vor dem Tor flachliegt. So wird der Rasen zugleich geschont und geschmückt.«

Auf dem Elfmeterpunkt liegt der Ball, ein klassischer WM-Ball aus Fünfecken wohlgemerkt, ein Ball, wie ihn Bernd Hölzenbein 1974 vor sich her trieb, bis ihn Wim Jansen von den Hölzenbeinen holte und Holz somit einen nicht ganz unbedeutenden Elfmeter rausholte. Dieser Ball aber liegt nicht eigentlich, sondern ragt – in den Himmel. Er ist, auf die Erdachsenfahnenstange gepfropft, gewissermaßen ein Fingerzeig, ein Hinweis auf die metaphysischen, ja numinosen Dimensionen des Elfmeters, auf das Inkalkulable des Strafstoßes (geht er rein – oder nicht?), auf die Abhängigkeit eines Spiels von der protogöttlichen Befugnissen geschuldeten, unumkehrbaren Entscheidung des Referees, auf die Verdichtung der menschlichen Existenz auf einen einzigen Augenblick, in dem das Befinden der Außenwelt, also der Zuschauer, auf Gedeih und Verderb der Verfassung der Innenwelt des Schützen ausgeliefert ist (hat er die Hosen voll, oder versenkt er die Pille eiskalt?). Ja, der Bernstein/Dreschersche »Elfmeterpunkt«, ist er nicht die zeitgemäße Antwort auf Michelangelos Fresko »Erschaffung Adams durch Gott«, ein Zitat des Motivs des ausgestreckten Fingers, ein Verweis auf den Funken (nicht Funkel!), der einer Mannschaft in einer verloren geglaubten oder auf der Kippe stehenden Partie neues Leben einhaucht – qua Elfmeterpfiff? Ist der aufgerichtete, im Winkel der Flugbahn eines Space Shuttles gen Firmament sich streckende Elfmeterpunkt samt Ball nicht ein Sinnbild des Strebens nach Höherem, nach Vollendung, ein Sinnbild der Sehnsucht, der Ebene, den Flachheiten des Lebens zu entkommen? Wollte nicht Goethe die Welt aus den Angeln heben, und war nicht der archimedische Elfmeterpunkt das geheime Zentrum seiner Studien und Schriften? Kreisten Goethes Sinnen und Trachten und Dichten und Denken nicht einzig und allein um die Idee, den erdgebundenen Menschen im Unendlichen, im Ewigen, im Triumph des Wahren, Schönen und Guten, das heißt im Moment, da die Eintracht die Deutsche Meisterschaft gewinnt, zu veredeln?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie soll ich aus dieser Nummer wieder rauskommen? Mit der Hilfe von Henner Drescher. Ich schließe mit einer Strophe aus seiner »Lobeshymne auf Anton Hübler« und bitte Sie, sie genauso auswendig zu lernen wie den Fünfzeiler »Loy / Eigenbrodt, Höfer / Stinka, Lutz, Weilbächer / Kreß, Sztani, Feigenspan, Lindner, Pfaff / Ersatz: Goethe«:

»Vor Toni Hübler wußt’ man nicht / so recht, was ist des Zeugwarts Pflicht, / da Toni ist so aufgegangen, / so glorreich und so unbefangen, / träumt man heute vom Modell / Power-Toni aktuell.«

Ich danke Ihnen.

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