Konstantinopel von unten und andere Schrecklichkeiten

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»Es bringt nichts, weiter zu segeln«, sagte der Steuermann.

Schiffer Schütz nickte. »Wir werden jetzt auf Land zusteuern. Wenn wir viel Glück haben, hebt uns eine See über die Brandung hinweg an den Strand. Dann ist das Schiff zwar verloren, aber die Leute gerettet.«

Zu hoffen wäre es, dachte Wilhelm Kolmorgen. Doch ein Blick in die Seekarte hatte ihn belehrt, dass die flachen Sandbänke vor der Küste es kaum zuließen, ungeschoren bis an den Strand zu kommen. Und der Schiffer wusste das sicherlich auch.

Zur Beschleunigung der Fahrt wurden alle Segel gesetzt, das schwer angeschlagene Schiff nahm Fahrt auf die Küste auf. Mit klammem Herzen standen die Männer an Deck und starrten auf die Brandungswellen, die sich höher und höher aufbauten, um dann mit unbeschreiblichem Lärm auf den Strand zu donnern.

»Ob wir das überleben?«, fragte der Matrose, der die Befürchtungen der Mannschaft als einziger aussprach.

»Wenn wir bis an den Strand kommen, sind wir gerettet«, sagte der Zimmermann.

Mit seiner schweren Wasserladung lag die Brigg recht tief, zu tief, um über die Sände hinweg zu kommen. Hundert Meter vor der rettenden Küste stieß das Schiff inmitten einer furchtbaren Brandung auf Grund. Durch den schlagartigen Stillstand des Schiffes stürzten die Männer zu Boden. Im gleichen Augenblick knallte es über ihnen laut und scharf. Das waren die Segel, die jetzt zum Land hinflogen.

Steuermann Kolmorgen rappelte sich als Erster auf. Er blickte nach achtern und erstarrte. Eine Grundsee hatte sich hinter ihnen aufgebaut, nahm an Mächtigkeit zu und überragte schließlich das Schiff. Sie knallte gegen das Heck der Luna und hob es an. Der Segler stieg höher und höher, die Männer mussten sich festhalten, um nicht noch einmal nach vorne zu fallen.

Dann war die See unter dem Schiff hindurchgelaufen. Das Achterschiff rauschte das Wellental hinunter und krachte auf den Meeresboden. Holz splitterte, das schwere Ruderblatt schoss aus dem Wasser, wie von einer Kanone abgefeuert. Es flog hoch in die Luft, fiel mit einem schrillen Pfeifton wieder herunter und blieb senkrecht im Deck stecken. Gleichzeitig wurden die Männer mit Gischt überschüttet, die ihnen jegliche Sicht nahm.

Steuermann Kolmorgen wischte sich das Salzwasser aus den Augen und blickte wieder nach achtern. Erschreckt rieb er sich noch einmal die Augen, doch der Anblick veränderte sich nicht: Wo das Heck der Luna hätte sein müssen, war nur noch ein Gewirr aus geborstenem Holz und verbogenem Relingsgestänge. Das Rettungsboot war in zwei Teile gebrochen, die Reste schaukelten in ihren Aufhängungen.

Wieder wälzte sich eine Grundsee heran. »Alle Mann in die Masten!«, brüllte der Steuermann.

Die Aufforderung wäre nicht nötig gewesen. Die Seeleute rannten bereits über das Hauptdeck, vorbei an dem aufgespießten Ruderblatt, und hetzten die Wanten hinauf, als wären sie vom Teufel verfolgt.

Sie waren tatsächlich vom Teufel verfolgt, von einem Seeteufel. Diesmal lief die Welle nicht unter dem Schiff hindurch, diesmal fiel sie mit der Gewalt von Hunderten von Tonnen über die kleine Brigg her. Donnernd schlugen die Wassermassen an Deck, bis zur Saling hinauf spritzte die See, die Masten schwankten von einer Seite zur anderen. Die Welle hob das Schiff vom Grund hoch, schwenkte es parallel zur Küste, setzte es dann wieder mit einem schrecklichen Krachen auf dem Meeresgrund ab.

Steuermann Kolmorgen starrte vom Mast herab auf das Toben der Elemente. Es schien ihm, als wäre die Luna verschwunden, nur die beiden Masten ragten noch über die Brandungswelle hinaus. Einen Augenblick später zog das Wasser weiter Richtung Strand und gab das Schiff frei. Doch wie sah die Brigg jetzt aus: Das Deck war geborsten und die Aufbauten weggerissen. Wer es bisher nicht hatte wahrhaben wollen, sah es jetzt überdeutlich: Die Luna war zum Wrack geworden.

Neben sich hörte der Steuermann ein Fiepen, wie von einem Hund, der alleingelassen worden war. Er blickte auf den Mann, der in den Wanten hing wie ein nasser Sack.

»Was ist los mit Ihnen, Zimmermann?«

»Es ist aus mit uns. Wir machen es nicht mehr lange. Jetzt holt uns der Teufel.«

»Reißen Sie sich zusammen! Es ist doch nicht Ihre erste Strandung.«

»Nein, die dritte. Aber mit jedem Mal werden die Nerven dünner.«

»Noch sind wir nicht tot. Bestimmt kommen bald Leute, die uns retten werden.«

Es waren tatsächlich Helfer am Strand, doch die kümmerten sich nicht um die Luna. Sie hatten genügend mit der Rettung der Besatzung eines anderen Schiffes zu tun, das kurz zuvor gestrandet war.

Inzwischen waren auch die Masten der Luna kein sicherer Zufluchtsort mehr. Jedes Mal, wenn eine Welle das Wrack anhob und dann wieder auf den Meeresboden setzte, lockerten sie sich mehr und mehr in ihrer Verankerung. Sie, die einst fest und sicher gestanden hatten, schwankten jetzt von einer Seite zur anderen. Sie schwankten inzwischen so stark, dass sich die Leute eisern festhalten mussten, um nicht wie reife Pflaumen in die tosende See geschüttelt zu werden.

»Was sollten wir machen? », brüllte der Schiffer von der anderen Seite des Mastes zum Steuermann hinüber. »Wir können uns nicht mehr lange halten.«

Wilhelm Kolmorgen antwortete nicht. Er horchte auf den Sturm, der durch die Takelage jaulte, er blickte auf seine klammen Finger, die schon ganz weiß waren von der Anstrengung des Festhaltens, er fühlte die Kälte des Wassers, das sie ständig überschüttete und das ihn bereits vollständig durchnässt hatte. Und er sah den flackernden Blick des Schiffsführers, seine Angst und die Verzweiflung. Jetzt hat ihn die See geschafft, dachte Wilhelm Kolmorgen erschrocken, der Verlust seines Schiffes hat ihm den Rest gegeben, vielleicht auch die Sorge um seine Leute.

»Ich weiß es nicht«, rief er zur anderen Seite hinüber.

Der Schiffer wollte antworten, doch in diesem Augenblick prallte wieder eine Brandungswelle gegen das Wrack. Als die See weitergezogen war, rief der Schiffer seine Anweisungen in den Wind: »Wir können uns nicht mehr halten, Leute. Springt über Bord und schwimmt an Land.«

»Zu früh!«, schrie Steuermann Kolmorgen zurück.

»Wer gibt hier die Befehle?«, schimpfte der Schiffer.

Die Leute waren unschlüssig. Sie blickten zwischen ihren Vorgesetzten hin und her. Schließlich wandten sie sich an den Zimmermann, denn der war der Fachmann für alles, was mit Holz und Schiffbau zu tun hatte, sein Wort war jetzt entscheidend. Der Zimmermann löste seine verkrampften Hände von den Webleinen und hangelte zum Schiffer hin.

»Die Luna geht zum Teufel, sie ist kein sicherer Ort mehr«, kreischte er. »Ich gehe in die See.«

Das war das Zeichen, sich zum Sprung bereit zu machen. Zwei der Seeleute hatten jedoch Bedenken, sie suchten sich einen Platz in der Nähe des Steuermanns.

Der Schiffer zielte mit dem Finger auf das kleine Grüppchen, seine Stimme schnappte fast über. »Ich befehle Ihnen zu springen!«

»Nein, ich bleibe hier«, widersprach der Steuermann trotzig. »Solange ich noch Holz unter meinen Füßen spüre, bleibe ich.«

Nun gab es nichts mehr zu sagen. Der Kapitän löste seine Hände von den Wanten, kletterte zum Deck hinunter, hangelte auf den Bugspriet hinaus und ließ sich in die Brandung fallen. Der Zimmermann, zwei der Matrosen und der Leichtmatrose folgten ihm, ohne zu zögern.

Die drei Männer in den Wanten verfolgten mit bangen Blicken den Weg ihrer Kollegen. Die hatten bereits die Hälfte der Strecke zum Strand zurückgelegt, als sie von einer Brandungswelle hochgehoben wurden.

»Ich hätte auch springen sollen«, sagte einer der Matrosen, »dann wäre ich jetzt in Sicherheit.«

Keiner der Männer konnte sich mit weiteren Erörterungen aufhalten, denn der nächste Brecher rollte bereits heran. Er traf die Brigg auf der Seite und drückte sie platt aufs Wasser. Die Schiffbrüchigen wurden wie reife Äpfel aus dem Mast geschüttelt. Steuermann Kolmorgen fiel in das eisige Wasser, er ruderte mit den Armen, spürte einen Gegenstand, griff instinktiv danach. Mit beiden Händen klammerte er sich an das Seil, während das Wasser an ihm vorbeiströmte und an seinen Kleidern zerrte. Auch die beiden anderen hatten nach dem Tau gegriffen wie nach einem Rettungsanker. Doch von Rettung konnte keine Rede sein. Der nächste Brecher schlug das Wrack in Stücke, überall schwammen plötzlich Deckteile, Planken und Balken. Der Steuermann erkannte die einmalige Gelegenheit. Er ließ das Seil los und zog sich auf ein vorbeitreibendes Stück Bordwand hinauf. Die beiden anderen Seeleute hatten sich ebenfalls an Teile des Schiffes geklammert, ständig der Gefahr ausgesetzt, von den sich in der wilden See übereinanderschiebenden Schiffsteilen erschlagen zu werden.

Der mit dem Kapitän ins Wasser gesprungene Zimmermann hätte besser seinem Werkstoff, dem Holz, vertrauen sollen. Denn die Männer, die als erste das Wrack verlassen hatte, ertranken allesamt, während die anderen drei auf ihren Holzflößen wohlbehalten den Strand erreichten.

Das Seeamt Rostock3, das sich mit dem Seeunfall der Brigg Luna zu beschäftigen hatte, führte das Leckwerden des Schiffes auf sein hohes Alter zurück,

»denn ein nahezu 40 Jahre altes Schiff kann nicht mehr diejenige Festigkeit im Verbande seiner einzelnen Theile besitzen, welches erforderlich ist, um die Angriffe der See bei schlechtem Wetter zu bestehen.«4

Allerdings stufte das Seeamt den Wassereinbruch nicht als so gravierend ein, dass er nicht durch die Deckspumpe hätte beseitigt werden können. Der eigentliche Grund des Schiffsunfalls war daher in den verstopften Pumprohren zu sehen. Dass die Besatzung bis zum Schluss versucht hatte, die Pumpe wieder in Betrieb zu nehmen, erkannte das Amt wohlwollend an. Die freiwillige Strandung wurde als gerechtfertigt eingestuft, um das Leben der Besatzung zu retten. Die Frage, ob Schiffer Schütz seine Leute zu früh zum Verlassen des Seglers aufgefordert hat, stellte sich das Seeamt nicht. Dies war das übliche Verfahren, denn wenn ein Schiffsführer beim Schiffsunfall verstarb, erledigte sich die Frage, ob er fahrlässig gehandelt hatte und ihm damit die Befähigung zur Führung eines Schiffes aberkannt werden musste.

 


KOLLISION VOR TERSCHELLING

Es war an alles gedacht worden. An den Treibstoff, an das Wasser, an die Lebensmittel, an den Alkohol und den Tabak. Routine eben. Mit einem Mal stand dieser Junge an Deck, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, Unsicherheit im Blick.

»Willst du hier ankern?«, fragte Charles Wide, der Bootsmann, ärgerlich.5

Der Junge nahm die Hände aus den Taschen.

»Schon besser. Was willst du hier?«

»Mitfahren.«

»Dies ist kein Passagierdampfer. Wir fahren zum Fischen raus.«

»Mein Vater hat gesagt, ich soll Fischer werden.«

Der Schiffer, der das Gespräch mit angehört hatte, schlenderte heran. »Warum fährst du nicht bei deinem Vater?«, fragte er.

»Mein Vater ist Bergmann.«

»Hier gibt es überhaupt keine Bergwerke.«

»Ich komme aus Wales.«

Jetzt konnte Charles den Dialekt des Jungen einordnen. Aus Wales also.

»Warum wirst du nicht Bergmann wie dein Vater?«, fragte der Schiffer.

»Mein Vater hat gesagt, ich soll Fischer werden.«

Der Schiffer rieb sich über das stoppelige Kinn und blickte fragend zu Charles hin. Der musterte den Jungen nun genauer: Er hatte große Hände und einen kräftigen Körperbau, keine schlechten Voraussetzungen für den Beruf.

»Die Fischerei ist gefährlich, mein Junge«, erklärte der Bootsmann in väterlichem Ton. »Bei uns kannst du schnell Arme und Beine verlieren, wenn du nicht aufpasst. Oder du wirst mit dem Netz über Bord gerissen.«

Der Junge schien einen Augenblick in seinem Entschluss zu schwanken, doch dann hatte er sich wieder gefangen. »Bergbau ist auch gefährlich, sagt mein Vater. Bei einer Grubengasexplosion sind alle tot.«

Nun war genug geredet. Der Schiffer zog Charles Wide nach achtern, wo sie ungestört reden konnten.

»Was meinst du?«, fragte er.

»Die Arbeit ist jetzt schon schwer genug. Wir können jede zusätzliche Hand gebrauchen. Und ich werde auch nicht jünger.«

»Eigentlich nehme ich nur Jungs von der Küste, die Steuerbord von Backbord unterscheiden können. Der hier ist sicherlich so unwissend wie ein neugeborenes Kalb. Es könnte anstrengend für dich werden.«

»Wir sollten es versuchen«, sagte Charles. »Wenn er sich zu blöde anstellt, schicken wir ihn wieder nach Hause.«

»Frag erst mal die anderen.«

Die beiden Fischer im Logis hatten kein Problem mit dem Jungen. Der lange John von den Shetlands sagte nichts, er sagte nie etwas.

Und der Ire Finn O’Lorcan blinkerte erfreut mit den Augen. »Aus Wales? Sehr gut! Jetzt sind wir die Mehrheit: Irland, die Shetlands und Wales. Wir werden diesen verdammten englischen Union Jack herunterholen und unsere Nationalflaggen hissen.«

»Du musst dir Finn nicht zum Vorbild nehmen«, sagte Charles zu dem Jungen, als sie wieder an Deck standen, »der quatscht zu viel.«

Nebeneinander gingen sie über Deck. Der Bootsmann erklärte die Funktion der einzelnen Seile, der Winde und der Scheerbretter. Der Junge wurde immer verzagter angesichts des Schwalls fremder Begriffe.

»Noch hast du Zeit«, sagte Charles, »noch kannst du wieder an Land gehen.«

»Mein Vater hat gesagt, ich soll ...«

»Ja, ja, ist schon gut. Ich hab’s begriffen.«

Einen Tag später, am 22. Juni 1881, verließ der Fischkutter Charlotte & Edward den Hafen von Yarmouth, um an der englischen Ostküste zu fischen. Der Wind blies mäßig, die Sicht betrug knapp zwei Seemeilen.

Am Fangplatz angekommen, drosselte der Schiffer die Maschine. »Hier lassen wir das Netz runter«, bestimmte er.

Die beiden Matrosen und der Junge ließen das Fanggeschirr zu Wasser, Charles Wide stand an der Winde. Der Junge stellte sich nicht ungeschickt an – was bedeutete, dass er nicht allzu oft im Wege stand.

»Kannst du kochen?«, fragte der Bootsmann, als das Netz ausgebracht war.

»Nein«, sagte der Junge.

»Macht nichts. Ab sofort bist du für die Kombüse zuständig.«

Der Eintopf war nicht schlecht, jedenfalls nicht schlechter als bei John, der bisher gekocht hatte.

Nach dem Essen ging der Bootsmann ans Ruder.

»Kaffee?«, fragte der Schiffer.

»Kann nicht schaden«, brummte Charles.

Im Ruderhaus war es klamm und zugig, die beiden Männer wärmten ihre Hände an den Kaffeepötten.

»Die Sicht wird schlechter«, sagte der Bootsmann.

»Ja, verdammt«, schimpfte der Schiffer, »wir könnten mehr Wind gebrauchen.«

Charles rieb sich die Schulter und verzog schmerzlich das Gesicht. »Ich hör auf, Schiffer. Nach dieser Saison höre ich auf. Dieses Rheuma macht mich verrückt.«

Der Schiffer blickte ihn über den Rand der Tasse an. »Das geht nicht, Charles. Ich brauche dich. Keiner hat mehr Erfahrung als du.«

»Diesmal höre ich auf. Ganz bestimmt.«

»Das sagst du schon seit Jahren, Charles.«

»Jetzt meine ich es ernst.«

Der Fang war schlecht. Als sie das Netz hereinholten, lag es nass und schlapp auf dem Deck.

»Blödes Viehzeug!«, schimpfte der Schiffer. »Um diese Jahreszeit müssten die nassen Kameraden doch hier sein.«

»Wer versteht schon den Fisch«, sagte Charles.

»Wir fahren nach Osten, nach Terschelling. Da steht um diese Jahreszeit massenhaft Fisch.«

»Nicht ungefährlich«, gab der Bootsmann zu bedenken, »dort ist viel Verkehr. Wenn Nebel aufkommt, fahren die großen Dampfer so einen kleinen Kutter schnell über.«

»Wir werden aufmerksam sein, Charles.«

»Viel wichtiger ist, dass die anderen aufmerksam sind.«

Diesmal hatten sie Glück. Unter der holländischen Küste zog der Kutter ein volles Netz hinter sich her. Aber auch der Bootsmann lag richtig mit seiner Vorhersage. Erst wurde es unsichtiger, dann kam Nebel auf. Der Junge wurde auf die Back geschickt, um mit der Schiffsglocke Nebelsignale zu geben.

»Alle zwei Minuten kräftig am Glockenstrang ziehen«, schärfte der Schiffer ihm ein, »so ist es Vorschrift.«

Angespannt horchte die Besatzung aufs Meer hinaus. Überall waren Schiffsgeräusche zu hören, sie kamen näher, wurden lauter, waren gefährlich nahe – dann entfernten sie sich wieder. Glockenschläge drangen durch den Nebel, das waren die Segelschiffe. Es rollte aber auch furchterregendes Sirenengeheul über das Wasser, das waren die Dampfer.

Der in schmutzige Watte gepackte Tag ging in eine graue Dämmerung über. »Netz zum Einholen vorbereiten!«, brüllte der Schiffer über Deck. »Wir hauen ab. Zu gefährlich hier.«

Die beiden Matrosen machten sich gerade am Fanggeschirr zu schaffen, als eine Sirene die Luft erzittern ließ. Der Schiffer und der Bootsmann streckten die Köpfe aus dem Ruderhaus, die Matrosen starrten Löcher in den Nebel, doch niemand konnte angeben, aus welcher Richtung der Heulton gekommen war. Der Junge riss panisch an der Glocke, Charles und der Schiffer wechselten sorgenvolle Blicke.

Plötzlich rauschte es bedrohlich an Backbord, dann zerriss wieder ein Sirenenton die Luft, direkt neben ihnen. Der Junge auf der Back stand starr vor Angst. Eine hohe, schwarze Bordwand zerteilte den Nebel, der Steven eines Dampfers ragte haushoch neben dem kleinen Fischkutter auf. Sekunden später krachte es. Der Kutter wurde platt auf die Seite gedrückt und ein Stück weit durchs Wasser geschoben. Der Schiffer verlor den Boden unter den Füßen, er ruderte mit den Armen und klammerte sich am Steuerrad fest. In den Augenwinkeln sah er, wie Charles Wide durch den Raum flog und gegen die Wand prallte.

Der Kutter richtete sich wieder auf, schrammte an der Bordwand des riesigen Schiffes entlang und schwankte heftig in dessen Hecksee. Dann lag er so ruhig, als wäre nichts geschehen. Der Schiffer konnte gerade noch den Namen des Dampfers entziffern, dann war der Kollissionsgegner im Nebel verschwunden. Er blickte nach vorne. Der Junge lag auf der Back, die Hände um einen Pfosten gekrampft, er rührte sich nicht. Die beiden Matrosen waren von Deck verschwunden. Der Schiffer suchte die See ab, doch da war kein treibender Mensch zu sehen, nicht einmal ein Kopf.

»Mann über Bord!«, schrie er. »Setzt das Boot aus.«

Charles Wide wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Welches Boot?«

Der Schiffer blickte nach achtern. Das Rettungsboot war nicht mehr da. Doch nicht nur das Boot war verschwunden, sondern auch das Heck des Kutters. Da war nur noch ein Haufen von geborstenem Holz und Metall, durch den Wasser nach innen lief.

Sie horchten in den Nebel, doch da war kein Maschinengeräusch eines Dampfers, nicht die Ruderschläge eines Rettungsboots, auch keine Hilferufe der beiden Matrosen. Da war nur das bedrohliche Rauschen von Wasser. Der Schiffer riss die Flüstertüte von der Wand und rief die Namen seiner Leute in den Nebel.

Keine Antwort.

Jetzt blickten der Schiffer und Charles Wide auf das Wasser, das in den Schiffsrumpf strömte. Sie waren unfähig, irgendetwas zu tun, sie waren wie betäubt von den Ereignissen der letzten Minuten. Der Dampfer kam nicht zurück, oder er war zurückgekommen, hatte sie aber im Nebel nicht gefunden. Die beiden Männer starrten in die Dämmerung, bis ihnen die Augen tränten. Sie hielten Ausschau nach den beiden über Bord gegangenen Matrosen, sie riefen unentwegt deren Namen, obwohl es sinnlos war in Anbetracht der verflossenen Zeit.

Schließlich schleppte Charles den verstörten Jungen ins Ruderhaus. »Was machen wir jetzt?«, fragte er.

»Warten«, sagte der Schiffer, »irgendjemand wird uns schon aufsammeln.«

»Dann sollte er sich beeilen. Der Kutter sinkt immer tiefer. Das Wasser steht schon bis zum Hauptdeck.«

Der Junge richtete sich auf. »Wir saufen doch nicht ab?«, fragte er, Hoffnung in der Stimme.

»Kann nicht mehr lange dauern«, sagte Charles.

Ohne Vorwarnung rastete der Junge aus. Mit einem gurgelnden Schrei stürzte er sich auf den Schiffer und krallte sich an dessen Arm fest. »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben«, schrie er immerzu.

Der Schiffer wollte ihn abschütteln, doch die Todesangst verlieh dem Jungen Bärenkräfte.

»Soll ich ihm eine reinhauen?«, fragte der Bootsmann und ballte die Faust.

Der Schiffer schüttelte den Kopf. Er wollte dem Tobenden den Mund zuhalten, wollte das hysterische Schreien ersticken, doch der Junge warf den Kopf hin und her und schrie immer weiter.

»Hol Schnaps aus dem Zollschrank«, befahl der Schiffer. »Einen für ihn und zwei für uns.«

Unten in der Kajüte stand das Wasser schon mehr als zwei Fuß hoch. Charles Wide suchte nach dem Schlüssel, fand ihn jedoch nicht. Er riss die Axt von der Wand, die da für Notfälle hing, und fegte die Schranktüren mit einem Schlag weg. Er sichtete den Inhalt, war unschlüssig, griff dann mit glänzenden Augen nach drei verstaubten Flaschen.

Nach einer mühsam eingetrichterten halben Flasche Whiskey schrie der Junge nicht mehr. Er hockte in einer Ecke des Ruderhauses, wackelte mit dem Kopf und brabbelte vor sich hin.

»So lässt es sich leichter sterben«, sagte der Schiffer.

Charles Wide betrachtete liebevoll das Etikett einer Flasche und leckte sich die Lippen.

»Ob ich auch einen ...?«

Der Schiffer blickte nach vorne. Das Hauptdeck war inzwischen vollständig überspült, doch noch war die Back zu sehen.

»Zu früh! Wir können noch gerettet werden.«

 

Eine halbe Stunde später war die Back verschwunden, nur das Ruderhaus ragte noch aus den Wellen. Sie öffneten die Flaschen und stießen an. Charles Wide nahm einen reichlichen Schluck. Er schloss die Augen und ließ die scharfe Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnen.

»Sowas Gutes habe ich noch nie getrunken«, sagte er mit grimmigem Humor. »Schade, dass man das erst am Ende seiner Tage bekommt.«

»Man bekommt die besten Dinge immer erst bei der Henkersmahlzeit.«

Charles plierte in die Flasche. »Ziemlich wenig für eine Reise ins Jenseits.«

Der Schiffer blickte auf den Jungen, der sich auf dem Boden krümmte und sich gerade übergab. »Warum hast du eigentlich nie geheiratet, Charles?«

»Weiß nicht. Immer wenn es so weit war, kam der Fisch dazwischen ...«

»Und der Alkohol.«

»Ja, der Alkohol auch.«

Jetzt war es still im Ruderhaus.

»Hast du Angst vorm Sterben, Charles?«, fragte der Schiffer nach einiger Zeit.

»Keine Ahnung. Bin noch nie gestorben.«

Als sie die Flaschen geleert hatten, riss der Schiffer eine Seite aus dem Schiffstagebuch, schrieb etwas, stopfte das Blatt in eine der leeren Flaschen und verkorkte sie umständlich.

»Flaschenpost«, lallte er. »Hoffentlich erwischt jemand dieses Schwein.«

Am 8. August 1881, einen Monat nach der Kollision vor Terschelling, holte ein Finkenwärder Fischer eine gut verkorkte Flasche aus seinem Netz. Er fummelte das Blatt Papier heraus, las die Nachricht und stieß einen überraschten Pfiff aus.

»Ich denke, wir werden der Gerechtigkeit auf die Sprünge helfen«, sagte er zu dem verdutzten Rudergänger.

Ein paar Tage später druckten die Cuxhavener Nachrichten die Flaschenpost des übergerannten englischen Kutters ab. Der Inhalt lautete:

»Run down by steamer HERDER, please tell at Cuxhaven.

Smack CHARLOTTE & EDWARD.«

Aufgrund dieser Meldung leitete das Seeamt Hamburg eine Untersuchung ein. Es entzog dem zweiten Steuermann H. C. G. Steffens des Hamburger Dampfers Herder das Patent, weil dieser die Vorfahrt eines fischenden Fahrzeugs missachtet hatte. Der Steuermann selbst konnte nicht zur Verantwortung gezogen werden, da er sich rechtzeitig ins überseeische Ausland, wahrscheinlich nach Amerika, abgesetzt hatte.6

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