Ich und der Andere

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„Maybe tomorrow! Okay? Good guy, see you!“

Die Trostworte, die sie ihm hinterherschickte, klangen wie der Refrain eines Blues, sie erleichterten seinen Heimweg. Diesmal aber kehrte er nicht gleich um, sondern legte den Brief auf den Tresen, den er am Morgen geschrieben hatte. Die Schwarze nahm es als Zeichen, dass er neue Hoffnungen hegte, und freute sich für ihn. Zum verlangten Porto schob er ihr ein Trinkgeld durch die Öffnung der Glasscheibe zu.

„Big fat blessing!“

Mit gespitzten Lippen spuckte sie dreimal auf das Kuvert, um dem Schreiben ihre Glück- und Segenswünsche mit auf den Weg zu geben.

Langsamer wanderte er auf Umwegen heimwärts, oft stundenlang. Zuhause erwartete ihn nichts, auf das er sich hätte freuen können. In der Dämmerung kreuzte er einen Straßenmarkt, der sich gerade auflöste. Hier bot sich ein kleines Schauspiel, das sich der Wanderer selten entgehen ließ. Lieferwägen rauschten hinweg, beladen mit dem, was vom Tage übrig war. Oft lagen ein paar hübsche Früchte auf der Straße, von denen er die hübschesten jeweils aufsammelte. So auch dieses Mal. Während der volle Mond wie ein kahlgeräumtes Ebenbild unserer Erde sich über die bunt blinkenden Reklameschilder der Vorstadt hob, während von irgendwoher ein paar stille Kirchenglocken tönten, die Nacht dem Himmel sein Blau nahm und die ersten Trunkenen bereits ihre Lieder grölten, stand der Wanderer still. Versonnen kaute er an einem rotbackigen Apfel, dessen einziger Makel aus einem kleinen, braunen Fleck bestand.

Die Unruhe, die von jenem Abend im Fog in mir zurückgeblieben war, trieb mich Wochen später an den Strand von Venice hinaus. Früher, als Student, hatte ich dort viele Nächte unter freiem Himmel verbracht. Hatte der beharrlich murmelnden Stimme des Meeres gelauscht, und versucht, seine Verheißungen zu entziffern. Wer sich diesem Rauschen hinzugeben vermag, braucht keinen anderen Stoff, um high zu sein. Das Meer mit seiner mal wilden, mal sanften Macht spielt mit den Kräften der Wirklichkeit, als wären diese nichts als kleine Kiesel, nichts als der Sand, mit dem sich alles bauen lässt, was man sich erträumt. Und alle Sinne spielen mit. Früher ließ ich sie oft frei schalten und walten – und wurde immer aufs Neue beschenkt. Solange wir bloß rechnen und planen, bleiben Augen und Ohren, bleibt unser Geist betäubt und nachlässig. Dann fertigen uns die Schatten der Wirklichkeit ab, als wären sie schon alles, was es zu erleben und zu erkennen gibt, und die Pracht, die in ihnen verborgen ist, wartet vergeblich auf unsere Freude. Als ich an diesem Tag wieder die Stimmen des Meeres vernahm, war ich mir sicher, dass sie es waren, die mich hierher gerufen hatten.

Diese Stelle, der Strand von Venice, ist geografisch tatsächlich der äußerste Vorposten der westlichen Welt. Wer von dort einst über den Ozean hinaus schaute, nach Osten hin, hätte diesen einzigartigen, ursprünglichen Menschheitstraum hinter sich spüren können, wie eine Vergangenheit, deren Bild nun immer schwächer wurde. Wo war die Kraft geblieben, aus der heraus der Westen, wenn er es denn wollte, heute noch seine Hoffnungen schöpfen könnte? Zweieinhalbtausend Jahre zuvor war dieser Traum im alten Griechenland geboren worden. Ein Traum aus Kunst, Musik und Sprache, mit dem Inhalt, dass der Mensch denkend lernen könnte, mit anderen Menschen zu leben und gemeinsam weiterzukommen. Aus Griechenland war diese Vision später weiter nach Westen gewandert, über Italiens Rom nach ganz Europa, hatte Religionen begründet, Staaten befruchtet, ungeheure Werke geschaffen – und war vor ein paar Jahrhunderten bis nach Amerika gekommen, um auch dieses wilde Land zu zivilisieren und zu einem Hort der Freiheit zu machen. Viele Menschen hatten auf diese Hoffnung gesetzt, Menschen aus der alten Welt waren in die USA gekommen, weil sie an die Kraft jenes Traumes glauben wollten.

The west

Is the best

Is the best

Is the best

Die Stimmen des Meeres klangen nach Ironie. Bis zum Überdruss wiederholten sie diesen Vers, der zur Lüge geworden war, als sollte ich genau das endlich begreifen. Was war unter den Händen unserer Väter aus diesem Traum vom Westen geworden? Was konnte er noch bewirken? Hatte sich die Welt von ihren Träumen abgekehrt? Hinter dem Stillen Ozean lag der Osten. Lagen China, Indien, Japan, mit vielen Geheimnissen. Was hatte der Westen ihnen heute entgegenzuhalten? Aber waren wir nicht alle jung genug, um unsere eigene Zukunft selbst zu gestalten? Wir durften es einfach nicht hinnehmen, dass unsere kühnsten Gedanken, unsere Utopien, für immer hinter uns, im längst Vergangenen, liegen blieben.

Hier, genau an dieser Stelle, wo die Landschaft selbst das Ende des Westens anzeigte, wo es sichtbar und hörbar war, hatten Ray und ich vor einigen Monaten die Idee der „Doors“ ins Leben gerufen. Damals waren wir nur zu zweit gewesen und hatten nicht gewusst, wohin mit uns. Einer war allein, aber zwei, die waren schon fast eine neue Menschheit! So dachten wir, so riefen wir es dem Rauschen des Meeres entgegen. Ohne dass wir es schon mit diesen Worten sagen hätten können, war die Band als Antwort auf diese Frage gemeint, wie dieser Traum zu neuem Leben erweckt werden könnte. Und in der Hoffnung, ihn neu zu erschaffen und ihn mit unserer Musik zu beleben, wollten wir die Größten werden. Mussten wir die Größten werden. Dann bräuchte das alles gar kein Traum mehr sein, sondern die Wirklichkeit für alle, die bereit waren, sie zusammen mit uns zu erkämpfen.

Ray und ich hatten uns damals erst flüchtig von der Universität her gekannt. Möglicherweise nur deshalb hatte ich den Mut, ihm eines meiner Gedichte vorzutragen, von denen ich früher mehr geschrieben hatte, ohne zu wissen, wozu. Er hatte wie elektrisiert gelauscht und immer nach mehr verlangt. Ich hatte die Worte wiederholen müssen, und bald begann er, einen Rhythmus in den Sand zu klopfen. Aus dem Rhythmus wiederum entstand in mir eine Melodie, wie von allein, und ich sang nun die Worte, statt sie zu sprechen. Und wieder ein paar Zeilen später lagen wir uns in den Armen, weinten und tanzten. Und ab da waren wir auf dem Weg. Auf unserem Weg.

Während solcher oder ähnlicher Erinnerungen musste ich eingeschlafen sein, dort draußen am Strand. Oder ich schlief gar nicht, sondern erlebte bei eingeschränktem Bewusstsein eine Vision. Schon als Kind hatte ich Traum und Wachsein öfter, als mir guttat, durcheinandergebracht. Aber das ist ein anderes Kapitel, ein ganz anderes. Später vielleicht, wenn ich noch Zeit habe, will ich es erzählen. Jedenfalls begegnete mir an diesem Tag eine Erscheinung, als wäre sie wirklich: Ein junger Mensch mit einer Frisur, wie Jimmy Hendrix sie damals berühmt gemacht hatte, war aus dem Wasser aufgetaucht. Nackt entstieg er endlich der Brandung und schwebte zu mir her. Schwebte nicht, sondern sprang in weiten Sprüngen wie ein Bock, der fliegen wollte. Mit geöffneten Armen. Es war komisch und faszinierend zugleich.

„Hey Jim! Ich komme von da drüben. Von der anderen Seite! Kannst du mich sehen?“

So rief er schon von Weitem.

„Gut, dass du gekommen bist. Ich muss dich etwas fragen: Willst du noch, was du früher wolltest? Und was ist daraus geworden? Bist du mit deinen Wünschen schon am Ende? Willst du Ekstase und Lust und Träume? Ja? Aber was tust du, um deine Wünsche wirklich werden zu lassen? Bist du noch der Jim, den ich kannte?!“

Der mit der Hendrix-Frisur war inzwischen näher gehüpft. Die Erscheinung war klar und deutlich wie ein Passfoto; als er nah genug war, hatte er sich verändert. Es war jetzt kein anderer als der Lehrer aus dem Fog. Nicht wirklich, sondern überwirklich. Er besaß seine Augen! Sie glühten in einem dunklen Licht, und mit diesem Licht hielten sie mich fest.

„Hör mich an“, flüsterte er, „du musst durch die Tore gehen, nicht bloß durch das erste und das zweite. Es genügt nicht, dass ihr euch ‚The Doors‘ nennt. Du musst durch alle Tore hindurch, die dir den Weg verrammeln, damit du die Welt endlich so siehst, wie sie wirklich ist. Dazu musst du auf die andere Seite! Komm zu mir. Nur so kannst du bis zur wirklichen Wirklichkeit durchkommen. Du bist zu jung, um schon so alt zu sein, wie du dich fühlst. Sei du. Gib nicht auf! Verlange mehr. Glaub an mich – Glaub an dich!“

„Wer bist du …“, stotterte ich, dann blieb mir die Sprache ganz weg.

„Du kennst mich doch noch!“, antwortete er und ließ sich, als wäre er erschöpft, auf den Boden sinken. Langsam fügte er Wort an Wort, während ich wie gelähmt an meinen Platz gebannt war.

„Glaubst du noch an die schreckliche, ehrfurchtgebietende, grausame, unerbittliche Macht der Liebe? Oder hat dich dein kleines Sommersprossenmädchen bequem und zufrieden gemacht? Soll das alles gewesen sein? Armer Jim.“

Wütend wollte ich etwas entgegnen. Aber das Meer rauschte lauter noch und der Wind riss mir die Worte aus dem Mund. So schwieg ich und wich seinem Blick aus. Er flüsterte mehreres, das ich nicht verstand, und als er dann langsam wieder ins Wasser zurückwich, versuchte ich ihn festzuhalten, kam aber nicht von der Stelle, wollte ihn fragen, dies und das, bekam keinen Laut heraus, und dann war er verschwunden, und in der Hand hielt ich einen Kranz aus Efeu, den ich erst gar nicht an ihm bemerkt hatte. Als ich endgültig erwachte oder zu mir kam, war auch der Kranz verschwunden. Lief ich Gefahr, verrückt zu werden? Blendete das Leben mich mit kleinen Freuden, um mir die großen vorzuenthalten? Innen stieg eine feuchtkühle Wolke in mir hoch, wie im Herbst, wenn sich die Natur zum Sterben bereit machte. Sie verdichtete sich, erreichte mein Herz, das sich vor Angst schmerzhaft zusammenzog. Im nächsten Moment würde es zu schlagen aufhören. Da erwachte ich nochmals, als müsste man auf der Treppe des Erwachens Stufe um Stufe hochsteigen, aber mein Herz schlug immer noch und heftiger als zuvor.

 

In der darauffolgenden Nacht kam der Traum zurück. Zuhause, in meinem Bett! Mit kleinen Veränderungen und noch bohrenderen Fragen an mich. Auch war ich mir nicht mehr sicher, ob er noch die Frisur von Jimmy Hendrix trug oder die meine. Unverwechselbar blieben allein die Augen, es waren die des Lehrers, brennend in dunklen Höhlen. Diesmal wollte ich ihn zur Rede stellen, wollte wissen, was ich denn anders machen sollte. Er lachte schallend, streckte mir die Hand entgegen und wollte zu einer Rede ausholen. In diesem entscheidenden Moment weckte mich das Klingeln des Telefons.

Es war zum Verzweifeln.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich die nüchterne Stimme eines Fremden. Er stellte sich als Agent eines marktbeherrschenden Labels vor, das er allerdings nicht mit Namen nennen wollte. Er fragte, wann er einen unserer Auftritte zu sehen bekommen könnte. Man hatte ihm von uns erzählt, und er sei neugierig geworden. Wir vereinbarten einen Termin. Im Fog, in der kommenden Woche. Kurz angebunden legte er wieder auf. Lange noch hielt ich den Telefonhörer ans Ohr gepresst und lauschte dem Rauschen des Meeres, das nicht aufhören wollte. Traum und Wirklichkeit vermischten sich, ehe mir allmählich deutlicher wurde, was da geschehen war und was nun vielleicht auch in Wirklichkeit geschehen sollte. In meinem Kopf marschierten Hunderte Fragen und Hoffnungen auf, Zweifel und Ängste hielten höhnisch dagegen. Um dem Chaos zu entgehen, stürzte ich ins Freie.

Unsere Welt als Ganze, wahrscheinlich die Einzige, auf der sich einigermaßen leben ließ, noch, lag in dieser Zeit wie ein großer, schwerer Ball auf einem dürren, langen Brett. Und das Brett lag auf einer Wippe und wankte, sodass der Ball langsam und wie widerwillig seine Richtung ändern musste. Immer wieder. Auf beiden Seiten drohte das Nichts. Absturz und Untergang oder Aufbruch und Zukunft. Noch war nichts entschieden, aber in den Straßen war das Hin und Her hautnah zu erleben. Wer Augen und Ohren nicht gewaltsam verschloss, konnte es hören und sehen. Und wem ein lebendiges Herz schlug, der machte mit. Auf den ins Unendliche hinauslaufenden Boulevards stockte der Verkehr. Fahnen wurden geschwungen. Rot war die Farbe der Revolution, schwarz flatterte die Anarchie. Parolen wurden gebrüllt. Transparente gaben die Texte vor. Es wurden immer mehr, wer zum Zuschauen gekommen war, ließen sich mitreißen. Gleichgültigkeit galt nicht. Der Aufruhr war ansteckend wie eine Krankheit oder wie das Leben selbst, das anders gar nicht hätte überleben können.

Wir sind das Leben.

Alle sind verantwortlich für alles.

Jeder ist an allem schuld.

Keine MACHT FÜR NIEMANDEN.

(Es war zum Lachen, und es war zum Weinen.)

WER ZWEIMAL MIT DERSELBEN PENNT, GEHÖRT SCHON ZUM ESTABLISHMENT

MAKE LOVE NOT WAR

Passanten umarmten Demonstranten. Mädchen verteilten Blumen an Polizisten, die sich hinter dicken Schildern versteckten. Winken und Singen. Ein Sternmarsch des Protests breitete sich aus wie die funkelnde Krone eines Feuerwerks. Ein Fest, keine Schlacht, noch nicht. Des gemeinsamen Geistes Gedanken wurden laut und lauter, schrien nicht, sangen. Chöre skandierten Parolen, die klangen wie Jubel. Überall sollten Blumen aus dem Asphalt wachsen.

Die, welche die Botschaft durch die Metropolen trugen, waren Studenten und Arbeiter aus dem ganzen Land. Junge Menschen, die den letzten Krieg nicht mehr erlebt hatten. Die noch nie selbst auf der Flucht gewesen waren. Verwöhnte Blumenkinder, die kein Blut sehen konnten. Und doch! Ihre Fantasien waren angezündet von der Luft, die nach Brand roch, von den Songs, die gegen das Schweigen ansangen. Von den Bildern der Wochenschauen, wo die Propagandareden der Politiker nach Blut stanken. Einig im Aufstand gegen die mit den weißen Hemden hinter den polierten Schreibtischen. Gegen die Börsen mit ihren um das goldene Kalb tanzenden Zahlen. Die einen machten Geschäfte mit allem, was Tod brachte. Die anderen brachten ihre Freundlichkeit in Stellung. Noch warfen sie nur Blumen auf jene, die im Finstern Pläne schmiedeten und die mit der Apokalypse im Bunde dem Ende entgegentanzten, ohne zu ahnen, dass es ihr eigenes werden sollte.

Das Goethe-Institut von L.A. lag im letzten Stock eines durchschnittlichen Hochhauses nahe dem Zentrum. Ins Chefbüro drang der Aufruhr der Marschierer auf den Straßen nur mehr als ein murmelnder Hauch. Vom Stuhl, auf dem Bewerber Platz zu nehmen hatten, ging die Aussicht weit hinaus auf das Meer, das sich hinter der Stadt undeutlich im Dunst der Ferne verlor. Der, welcher Jim Morrison an einen längst verstorbenen Dichter erinnert hatte, saß dort und träumte mit offenen Augen.

Der Direktor, der über seinen Antrag zu entscheiden hatte, drehte sich auf seinem schwarzen Drehstuhl ungeduldig hin und her. Sein Bein wippte auf und ab, während er Schriftstücke unterschrieb und in eine Mappe zurücklegte.

„Um es ganz direkt zu sagen, wir haben zurzeit tatsächlich keine Planstelle frei für Lehrer. Auch wenn ihre Zeugnisse noch so gut sind. Das ist eine Tatsache und hat mit Ihnen persönlich nichts zu tun. Das verstehen Sie doch? Weder für Deutsch, noch für Naturkunde, wie Sie das nennen. Man hat uns die Gelder gekürzt; wie üblich. Den Letzten beißen die Hunde. Und die Kultur ist und bleibt immer das Letzte. Leider. Überhaupt …“

Um das Ganze abzukürzen, und weil sein Gegenüber noch immer keine Anstalten machte, sich zu erheben, und auch weil ihm die Zeit knapp wurde und kostbar war für einen wie ihn, unterbrach er sich, stand auf, trat hinter den Besucher, legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter und drehte seine Stimmlage auf sanft. So folgte er dem Blick seines Besuchers in die blassblaue Ferne.

„Ja, die Aussicht von hier ist wahrhaftig erhebend. Ich habe immer gefunden, mein Schreibtisch blickt in die falsche Richtung, aber die Gewohnheiten … Ich bin ein Sklave der Gewohnheiten, auch wenn Ihnen das anders vorkommen mag. Lassen wir das! Wenn ich Ihnen darüber hinaus noch einen Rat geben darf, einen persönlichen Rat, von Kollege zu Kollege: Überlegen Sie doch noch einmal, ob der Lehrerberuf für Sie das Rechte ist. Ich meine grundsätzlich. Schüler werden ungeduldig, wenn einer länger braucht, um das passende Wort auszusprechen. Sie wollen leben, nicht lernen. Die Zeit hüpft in ihnen von einem Bein auf das andere. Verstehen Sie mich nicht falsch! Mich stört es nicht, wenn jemand stottert, aber die Jungen … Die sind unbarmherzig. Wissen Sie, was unlängst an die Fassade dieses Hauses gepinselt wurde? Nein, wissen Sie nicht. Glauben werden Sie es auch nicht: FUCK GOETHE stand dort zu lesen!“

Aufstehen, den Kopf senken, anstatt sich dem Zorn seiner Gefühle hinzugeben, der rotgefärbten Wut, die von innen gegen die Schädeldecke pochte. Vielleicht sollte man dem selbstzufriedenen Kerl mit seiner korrekt gebundenen Krawatte seine Kaffeetasse über den Kopf leeren, oder ihm seine Akten um die Ohren schmeißen, oder besser noch, ihm die Ohren abschneiden und sie aus dem Fenster werfen, den abziehenden Demonstranten hinterher. Vielleicht hört er dann, was los ist.

Kann sein.

Stumm aufgestanden, weil das Blut im Kopf sich staute, was niemand sehen sollte, schon gar nicht der Kerl mit seinem Seifenlächeln. Lieber die Scham alleine ertragen für die dummen Gewohnheiten aller anderen.

L.A. war nur eine von achtundzwanzig Großstädten der USA, wo während dieses heißkochenden Sommers des Jahres neunzehnhundertachtundsechzig die Tumulte losbrachen. L.A. war aber auch die Hauptstadt des Films und der Musik, des Big Business und des Verbrechens. Das alles zusammen wirkte als riesiger Resonanzraum, verstärkte die inneren Gegensätze, die rivalisierenden Interessen, die auf Krieg hinauslaufen wollten. Alles Mögliche fand hier einen fruchtbaren Boden, und strahlte von hier auf die ganze Nation aus. In den Straßen der riesigen Stadt herrschte eine Stimmung, die zwischen Volksfest und Bürgerkrieg noch unentschieden hin- und herpendelte. Martin Luther King hatte den Schwarzen Mut zugesprochen. Zwar hatte man ihn vor einigen Monaten heimtückisch erschossen, aber seine Stimme, die „I have a dream“ gesagt hatte, lebte weiter, eindringlicher als zuvor. Noch als Opfer war er ein Mutmacher geblieben. Noch als Toter belebte er die Fantasie der Lebenden.

Der Ruf nach freier Liebe und der Gegenruf nach soldatischer Disziplin im Dienst des Vaterlandes hatten sich noch nicht zu feindlichen Armeen auskristallisiert. Alles war noch möglich, aber die Gegensätze nahmen Gestalt an. Fronten wurden deutlicher erkennbar. Die Hafenarbeiter streikten, weil sie von dem Hungerlohn, den ihnen die Reedereien hinwarfen, nicht leben konnten, und ihre Kinder noch weniger. Da konnten sie schuften, bis sie Blut schwitzten. Kein Wunder also, dass sie den Bettel hinwarfen und den Hafen blockierten. Die Studenten, die gegen den Krieg, den die USA in die Welt trug, demonstrierten und dabei das versteinte System als Ganzes meinten, waren bald auf ihrer Seite. Genüsslich verströmte die Boulevardpresse ihren üblen Atem, und die Polizei stand ihr mit Wasserwerfern und Schlagstöcken nach Kräften bei. Schlagzeilen machten ihrem Namen Ehre und schlugen lauthals ein auf alles, was störte. In ihrem Wörterbuch wurden aus Streikenden Faulpelze oder Halunken, Säufer und Nichtstuer. Bastarde, von anderen Bastarden aufgehetzt, um den sozialen Frieden zu gefährden. Am besten alle zurückschicken, woher sie gekommen waren, und sei’s mit Gewalt, am besten in die Wüste oder ins Meer, oder einsperren, auf Nimmerwiedersehen, das wäre das Mindeste. Radikalere Ideen hielt man für die nächsten Auflagen in Reserve. Fiel es wirklich keinem ihrer Leser auf, dass die Schmutzzeitungen, die solches begierig druckten, dem gleichen Konzern gehörten wie die meisten der Reedereien? Dass der Polizeipräsident im Aufsichtsrat der Hafengesellschaft saß und an ihrem Gewinn beteiligt war? Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis alle es wüssten. Dafür wollten sie sorgen, die auf den Straßen sangen – und für manches andere auch noch. Alles eine Frage der Zeit, und die war erst dabei, so richtig Schwung zu holen.

Beim Verlassen des Goethe-Instituts, mit schamroten Wangen und ohne Geld in der Tasche, stachen dem wieder einmal Abgewiesenen Plakate ins Auge. Mit Riesenlettern wurde nach Arbeitern gesucht. WE NEED YOU!!! Sofort und zu großzügig erhöhten Löhnen! Meldestellen für die Arbeitswilligen waren an markanten Ecken der Stadt eingerichtet. Das Wort „Streikbrecher“ fiel nicht, und die meisten Suchenden hätten es gar nicht verstanden oder es absichtsvoll überlesen. Von Arbeitskampf war an keiner Stelle die Rede. Mit offenen Armen und einer Flasche lauwarmem Bier als Willkommensgruß wurde der heimatlose Lehrer angenommen, zusammen mit anderen Ahnungslosen in Busse verladen und unter Polizeischutz zum Hafen gekarrt. Die hasserfüllten Gesichter auf der anderen Seite der Barrikaden schmerzten, galten sie doch offensichtlich auch ihm. Die Beschimpfungen, die sie brüllten, verstand er nicht. Hassverzerrt kamen sie an und waren kaum menschliche Sprache zu nennen. Darauf ließ sich nicht antworten. So schwieg er und konnte doch den Blick nicht abwenden von ihnen. Die meisten im Bus lachten und verhöhnten die Menge draußen mit obszönen Gesten. Schrittweise krochen die Busse in Richtung Meer. Der Kampf der Verlierer, die einander hassten, ohne einander zu kennen, wurde dann von Knüppeln entschieden, an deren Griffen uniformierte Staatsdiener hingen, denen man Ansätze von Mitgefühl mitsamt der Erinnerung daran längst heraustrainiert hatte. So gewannen sie allmählich freiere Fahrt. Steine flogen ihnen hinterher, bis auch diese Geste der Ohnmacht niedergeschlagen war. Als Stunden später endlich die Silhouette des Hafens mit Schiffen, Kränen und Lagerhäusern aus dem Dunst auftauchte, fühlte er, der überall Fremde, sich fast wie geborgen.

Manche Gerüchte schleichen über versteckte Pfade, andere überschwemmen uns wie eine Grippewelle und wieder andere werfen ihre Mondschatten lautlos voraus, wie der Flug der räuberischen Nachtvögel. Vielleicht war es eine Mischung aus allem, vielleicht Magie, vielleicht auch purer Zufall, was die Menschen an diesem für uns entscheidenden Abend ins Fog trieb. Jedenfalls stauten sich schon eine Stunde vor Beginn die Menschen am Eingang und drängten hinein, um Plätze zu ergattern. Wir benutzten den versteckt liegenden Hintereingang. Keiner wusste, wer unter allen jener Agent sein mochte. Wir wussten nicht einmal, ob er wirklich da war oder alles vielleicht nur ein geschmackloser Scherz auf unsere Kosten. Die wachsende Anspannung drohte jeden Augenblick in Aggression umzukippen. Beim Soundcheck zitterten unsere Hände, was wir so gut es ging zu verbergen suchten. Während unsere Herzen wie wild gegen die Rippen schlugen, improvisierten wir düstere Tonfolgen und Ray präludierte ausdauernd auf seiner Orgel, als sollte mit uns, den Doors, nun endlich die polyphone Ära der Rockmusik beginnen. Seine Sicherheit beruhigte uns ein wenig. Ich selbst hielt mich im Hintergrund und gab das am Erfolg uninteressierte Genie. Dabei zeigte ich dem Publikum meinen Hintern. Das kitzelte die Leute und machte sie neugierig. Als ich mich dann abrupt nach vorne drehte und ihre hungrigen Augen sah, wie sie jeder meiner Bewegungen folgten wie Fliegen dem Fleisch, da spürte ich wieder deutlich die dunkle Energie, die von mir ausging. Als besonderen Effekt für diesen Abend hatte ich mir vorgenommen, schlecht von meinem Vater zu sprechen. Mehr als nur schlecht. Dabei stellte ich mir vor, dass er gezwungen war, mir zuzuhören. Um die Spannung zu steigern, sprach ich mit raunender Stimme davon, dass einige tausend Kilometer von hier entfernt die US-Air Forces ihre Bombenteppiche über Vietnam entrollten, über den Städten und über dem Urwald und über den flüchtenden Menschen, den Männern, den Frauen, den Kindern. Dass es mein Vater war, der als Admiral eines der Schiffe befehligte, von denen diese Bomber aufstiegen, erwähnte ich nicht. Oder ich hob es mir auf für einen späteren Moment. Da war ich mir noch nicht ganz sicher. Die meisten Menschen in diesem Saal gierten nach Erregung, nicht nach Erklärungen. Dazu brauchten sie uns ja, brauchten Sänger, Helden, Stars, Dichter, Führer, um ihr Leben in Feuer zu baden, es in eine Form zu brennen, irgendeine Form. Lieber noch waren sie Soldaten in einem Dreckskrieg als gar nichts. Zeremonien brauchten sie, um etwas zu erleben, Rituale, Theater, Tänze. Weil ich immer noch nicht richtig loslegte, sondern mich in dunklen Prophezeiungen verlor, waren meine drei Freunde an ihren Instrumenten unruhig geworden, obwohl sie einiges von mir gewohnt waren. Diesmal wussten sie nicht genau, wohin ich mit ihnen wollte und was wir als Nächstes spielen würden. In ihrer Unsicherheit boten sie mir simple Moll-Akkorde an, die nach vielen Richtungen offen waren. Ray ritt auf einem verminderten Septakkord in Cis-Dur herum, der zugleich cool und aufreizend wirkte, was in mir unangenehme Erinnerungen weckte. Mit ähnlichen Akkorden hatte ich mich als Kind getröstet, wenn Vater in geheimnisumwitterten Fernen weilte und Mutter sich als seine Stellvertreterin aufspielte.

 

„Hör auf mit dem Lärm!“

Befehlston. Klavierdeckel zuknallen. Das Kind schreien lassen. Fernsehverbot. Hungrig schlafen gehen.

Aber da hatte ich bereits wirklich geschrien, aus der Tiefe meiner Erinnerung heraus, wie nur verzweifelte Kinder schreien können, wenn sie nahe daran sind, ihren kleinen Verstand zu verlieren. Hier auf der Bühne des Fog klang dieser Schrei wie das Echo von Rays Improvisationen. Dankbar strahlte er zu mir herüber. Die anderen verstanden dies als Startschuss zu unserem gewohnten Hit und wollten loslegen. Ich aber hatte anderes im Sinn. Ganz anderes. Mit dem Schrei hatte ich einen Song eingeleitet, den wir gemeinsam noch nie so richtig geprobt hatten. So dauerte es eine Weile, ehe wir zu einer Melodie zusammenfanden. Dann aber geschah das Wunder der gemeinsamen Inspiration. Text und Musik vereinten sich zu etwas Unvorhersehbaren, aus dem neues Leben wuchs. Ich fühlte die erregende Wirkung meines Gesangs an mir selbst, fühlte, wie sich die Hose zwischen meinen Beinen spannte. Genau so musste es sich anfühlen, wenn einer der Piloten meines Vaters den Steuerknüppel seines Jets nach hinten zog und abhob, mit einem Bauch voller Bomben unter sich. Aber noch hielt ich, was ich am stärksten in mir fühlte, in mir zurück.

„Ich habe Gott gesehen …“, flüsterte ich stattdessen ins Mikrofon, „… er ist unfassbarer als der Tod. Er ist das vollkommene Mandala. Er ist das Ganze und die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, denn alles, was war, kommt zurück. Jeder Anfang ist zugleich das Ende von allem, was sterben muss. Und das Ende ist der neue Anfang! Um euch das zu zeigen, bin ich hier.“

Die Laute aus meinem Mund verschmolzen mehr und mehr zu einem Strom. Nicht ich sang, sondern es. Wie von selbst fügten sich die Worte aneinander. John an den Drums antwortete mit einem virtuosen Wirbel sich überschlagender Rhythmen, beschleunigte immer weiter, brach ab, schwieg. Wie wehrlos erlagen die Hörer dem Bann, den wir um sie zogen. Robby quälte die Saiten seiner Gitarre mit seinem zerborstenen Flaschenhals bis an die Grenze des Erträglichen.

„Gott ist überall. Er stirbt mit den Menschen und kommt mit ihnen wieder auf die Welt. Du kannst ihn sehen, in der Sonne, die täglich in einem Blutmeer versinkt. Im roten Fleisch schmecken, als Wein lässt er sich trinken. Ein Engel läuft durch das Licht, schattenlos, und ein Geist schwebt uns voran, wo immer wir gehen, es ist der Geist unserer Jugend. Die rohe, rücksichtslose Kraft des Lebens. Aber ein Schatten folgt uns auf den Fersen, der übergroße Schatten des Vergangenen. Bedrohlich kommt er näher. Wirft sich auf uns. Also weiter! Der Schatten ist riesig, trotzdem ist er nicht mächtig genug, uns zurückzuhalten. Wer sich aufhalten lässt, ist im nächsten Augenblick verloren. Wer stehen bleibt, stirbt einen grausamen Tod. Aber wir halten nicht an, wir bleiben nicht stehen. Schlagt kaputt, was euch kaputt macht! Schlagt kaputt! Schlagt!“

Ich weiß nicht mehr, was ich sonst noch über die Schar der Tanzenden unter mir hinweg rief oder sang. Immer mehr von ihnen hörten zu tanzen auf, versuchten meine Botschaft zu verstehen. In diesen stilleren Momenten, in denen nur ein leises Klappern von den Drums kaum vernehmbar das Heranschreiten eines hölzernen Gespenstes nachahmte, fiel mir Vater wieder ein. Mein Vater, der wollte, dass ich wurde, was er war. Mein Vater, der die blutigen Schiffe befehligte. Er war der Schatten hinter mir, der die Bomben losschickte. Ich hasste ihn mehr denn je, und ich spürte, wie dieser Hass meinen Geist lähmte, wie er mich dumpf machte. Wenn wir fliegen wollten, mussten wir auch den Hass abwerfen, wie eine Last, die uns in die Tiefe zog. Den Vater loswerden, wie er die Bomben loswurde, die er vom Himmel tropfen ließ, um das Land mit Feuer zu überschwemmen. Ich fühlte, wie die Menschen vor und unter mir im Dunkel keinen Willen mehr hatten für sich selbst. Über die wogenden Köpfe hätte ich hinweg zu schreiten vermocht wie Jesus über den See. War ich zum König der Eidechsen geworden, der alles vermochte? Trug ich nur deshalb meine Schlangenlederhosen, meine Stiefel, um unerkannt zum Ziel zu gelangen, zum Ende?

„Und das wird dann das Ende sein, mein und euer aller Ende. Aber auch das Ende der Schatten, die uns erdrücken. Wir müssen durch dieses Ende hindurch. Durch die wohldurchdachten Pläne, durch alle Sicherheiten, nichts mehr habt ihr zu erwarten, so lange ihr zögert. Aber dann, danach, werden wir ohne Grenzen sein, ohne Gesetze und wirklich frei.“

Längst war ich selbst zum Zuhörer meiner Worte geworden, gespannt wie alle, wohin sie mich führen wollten.

„Noch sind wir verloren in der Wildnis unseres Schmerzes. Ich aber reite die Schlange, sie ist sieben Meilen lang. Ein blauer Bus aus Träumen trägt uns weit hin über den Highway. So reitet auch ihr die Schlange!“

Ein neues Bild tauchte auf, ein Bild, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich selbst musste in das Bild eintreten.