Hans Blumenberg

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Die Empörung gegen die Auslöschung des Humanen durch eine so empfundene Rücksichtslosigkeit der Welt lässt einen weiteren Aspekt in die Reichweite der frühen Lektüre Nansens zurückprojizieren, den modernen ›Heroismus‹. An Nansens Bericht beeindruckt die schier unfassliche Kraftanstrengung, sich in einer lebensfeindlichen Natur erhalten zu haben. Inbegriff der humanen Selbstbehauptung Nansens – in diesem Fall: der Sinnzuschreibung des Sinnlosen – ist allein schon die Idee, in einer abweisenden Eislandschaft einen geographischen und somit rein ideellen Pol erreichen zu wollen. Nur für den Menschen ist dieses Ziel überhaupt als bedeutsames formulierbar. Einem sich den menschlichen Bedürfnissen verweigernden Erdteil wird so eine Intention entgegengesetzt, die noch der Ödnis einen Ort im Bedeutungskosmos des Menschen zuweist. Eben diese Fähigkeit, »aus einer Fremdnatur eine Eigenwelt zu machen«,12 hat der von Blumenberg herangezogene Giambattista Vico mit dem Attribut des ›Heroischen‹ versehen. Damit ist für Blumenberg die Leistungskraft des Menschen bezeichnet, sich angesichts der Weltfremdheit Beheimatungen zu stiften: »Leben mit dem, was wir nicht gemacht haben und nicht machen konnten, ist unsere Kunst und ist alsbald die Kunst.«13

Nansens In Nacht und Eis ist ein Dokument einer jener »großen Proben, was der Mensch aushalten kann«.14 Es ist ein Zeugnis des menschlichen Behauptungswillens angesichts der Ausgesetztheit in einer Welt, die sich als stumm erweist gegenüber unseren Sinnbedürfnissen. Inmitten der Welt aus Eis stellt die Fram eine Enklave des kulturellen Überlebens dar: »Ich schaue in die weite Ferne«, schreibt Nansen, »über die große, öde Schneeebene, eine unbegrenzte, stille, leblose Eismasse in unmerklicher Bewegung. Man hört keinen Ton außer dem schwachen Murmeln des Luftzuges in der Takelung, vielleicht, in der Ferne, das dumpfe Getöse des sich zusammenschiebenden Eises. Inmitten dieser leeren weißen Wüste nur ein kleiner dunkler Fleck, das ist die ›Fram‹!«15 Das Schiff ist ihm der Inbegriff einer »kleinen Oase« inmitten dieser »ungeheuern Eiswüste«.16 Fast ein Jahrhundert später wird Blumenberg in seinem Buch Die Genesis der kopernikanischen Welt diesen Blick auf die fragile Sphäre des menschlichen Lebens in einer lebensfeindlichen Umwelt mit den nahezu identischen Worten im astronomischen Kontext erneuern. Vom stummen Weltall aus gesehen sei die Erde eine »kosmische Oase«, ein »Wunder von Ausnahme … inmitten der enttäuschenden Himmelswüste«.17 Näher sind sich Nansen und Blumenberg im Werk des Letzteren nie gekommen.

Über diese punktuell aufblitzenden Nachwirkungen seiner frühen Empfänglichkeit für die Fragilität des Menschen hinaus gibt es einen späten Beleg für die lebenslange Prägung durch die Lektüre Nansens. 1993, hundert Jahre nach dem Aufbruch der Expedition zum Nordpol, gedachte Blumenberg dieses Abenteuers und unausdrücklich seiner eigenen frühen Lektüre in einem Zeitungsartikel unter dem Titel »Vorstoss ins ewige Schweigen«. Darin erinnert er eben an jenes Schweigen der Eiswelt, »das Nansen drei Jahre lang wie im Nichts der Ungewissheit hatte verschwinden lassen«.18

Blumenbergs Blick zurück auf Nansen verbietet sich jede Nostalgie. Mit wenigen Strichen wird die zeitgeschichtliche Distanz markiert und somit Nansens Erfahrungswelt als Teil des untergegangenen späten 19. Jahrhunderts situiert. Die Melancholie des Polarforschers wird eingebettet in die zeitüblichen Reflexionen über die entdeckte Endlichkeit der Dauer der Strahlkraft der Sonne als Bedingung des Lebens. Seit dieser Einsicht habe ein »düsteres emotionales Moment … über dem menschlichen Selbstverständnis«19 gelegen. Nansens »eschatologische Banalitäten«20 sind für Blumenberg eher Zeit- als Wissenschaftsgeschichte. Überhaupt sei dessen Nachdenken während der Eisdrift der Fram »nicht originell für dieses Jahrzehnt; nur hebt es sich vom zumeist in bildender Absicht Geschriebenen dadurch ab, dass es nicht bloss aus dem Wissensertrag des Jahrhunderts hervorgeht, Wissenschaft zu Wissen verbreiternd, sondern aus der Anschauung des gerade überlebten ersten Polarwinters auf oder in der ›Fram‹«.21

Das Grundmotiv, das Blumenberg in seiner Erinnerung an den Polarforscher schon im Titel seines Artikels hervorhebt, ist aber nicht in erster Linie die Kälte, das Eis oder die Finsternis, sondern etwas, von dem Nansen wiederholt berichtet, ohne es ins Zentrum gestellt zu haben: das Schweigen der Eiswelt. »Alles ist so seltsam still und ausgestorben«,22 heißt es bei ihm. Durch die Akzentuierung dieser Erfahrung akustischer Entbehrungen wird Nansen assoziativ in einer geistesgeschichtlichen Linie verortbar: Pascal hatte davon gesprochen, das ewige Schweigen der kosmischen Räume mache ihn schaudern,23 Camus hat das Absurde beschrieben als den »Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schweigen der Welt«,24 und Blumenberg schließlich hat auch festgestellt, die wissenschaftlich verobjektivierte Welt sei »stumm geworden auf die Frage, welche Stellung der Mensch in ihr einnimmt«.25

Damit ist ein erstes Leitmotiv für Blumenbergs diskrete Anthropologie gewonnen: Der Mensch ist in einer ihm nicht gewogenen Wirklichkeit ein Sonderwesen. Gegen den Absolutismus dieser sinnwidrigen Welt hat er sich zu behaupten. So sehr Blumenberg die weltanschauliche Tönung des 19. Jahrhunderts zu kritisieren wusste, so vertraut ist sie ihm doch auch geblieben. »Nicht nur, weil er Abenteuer der Grenzdurchbrüche wie die Driftfahrt der ›Fram‹ sucht, ist der Mensch ein riskantes Wesen. Er ist es schon kraft seiner biologischen Herkunft aus der schmalen Zone der letzten Zwischeneiszeit, aus der harten Schule zwischen den Eisrändern vorrückender Gletschermassen der im Wechsel ihres Vorrückens und Zurückgehens sich mühselig heranziehenden und behauptenden Lebenstüchtigkeit: das Naturwesen gegen die Natur …«26 Der Mensch ist das Wesen, das sich auf Zeit seine kulturellen Oasen zu erhalten vermag, um über Zonen des Überlebens zu verfügen.

Die Erfahrung der Fragilität und Vergänglichkeit des schützenden Raumes hatte Blumenberg schon als junger Mensch machen müssen. Er hatte Nansens In Nacht und Eis als Neunjähriger im Herrenzimmer seiner Lieblingstante auf dem Fußboden liegend verschlungen. »Zwölf Jahre später gab es das Zimmer, die Tante und den Nansen nicht mehr.«27

Tradition und Ursprünglichkeit

In der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 wurde Lübeck durch Einheiten der britischen Luftwaffe über mehrere Stunden bombardiert. Es war das erste Flächenbombardement einer deutschen Stadt im Zweiten Weltkrieg. Die Folgen waren verheerend. Hunderte Tote und Verletzte waren zu beklagen, Tausende Lübecker wurden obdachlos. Ganze Straßenzüge der Altstadt brannten aus, auch die Marienkirche wurde schwer getroffen, vom Buddenbrookhaus in der Mengstraße 4 standen nur noch die Fassade und Seitenmauern. Thomas Mann zeigte sich aus dem fernen Amerika betroffen: »Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt.« Aber er sah eine Logik des Ausgleichs am Werk, nach der »alles bezahlt werden muß«. So schlimm die Zerstörungen auch sein mochten, waren sie nicht gerecht? »Hat Deutschland geglaubt, es werde für die Untaten, die sein Vorsprung in der Barbarei ihm gestattete, niemals zu zahlen haben?« Er rettete sich auf seine Weise in eine Zukunft, die der Zerstörung der Barbarei folgen mochte, indem er konstatierte, »solche Trümmer schrecken nicht denjenigen, der nicht nur aus der Sympathie für die Vergangenheit, sondern auch aus der für die Zukunft lebt. Der Untergang eines Zeitalters braucht nicht der Untergang dessen zu sein, der in ihm wurzelt und der ihm entwuchs, indem er es schildert.«28 Im Zuge der britischen Luftangriffe, die das Ziel hatten, das Nazi-Regime in die Knie zu zwingen, versank auch das Elternhaus von Hans Blumenberg in Schutt und Asche. Im späten Rückblick hat er bekannt, dass er – seiner Geburtsstadt zeit seines Lebens tief verbunden – »den Untergang Lübecks in der Palmsonntagnacht 1942 in der Innenstadt ›erlebt‹ habe« und dass ihm »das Fanal der Wendung des Krieges damals wichtiger war als das vermeintlich endgültige Verstummen der Lübecker Orgeln«.29 Es ging um Rettung, nicht um Bewahrung. Der spätere Philosoph wusste aus eigener Anschauung, was ›Destruktion‹ gewachsener Tradition bedeuten kann und warum sie mitunter notwendig ist.

Eine jüngere Generation, die Blumenberg nie im akademischen Umfeld erlebt hat, kennt die Scheu nicht, näher auf seine frühen biographischen Umstände einzugehen. Blumenberg selbst ist diskret mit seinen Erfahrungen während des Dritten Reichs umgegangen – als man noch bei ihm studieren konnte, wusste man darüber nur Ungefähres, und das reichte einem. Er hat einmal von der »Unziemlichkeit der Neugierde der Epigonen« gesprochen, »die uns mit einer Wendung des Blicks konfrontiert, die vielleicht nur privatim erlaubt ist«.30 Ein philosophisches Portrait, das kein biographisches zu sein unternimmt, hat gegenüber den privaten Lebensumständen Zurückhaltung zu üben.

Dennoch gehe ich mit einer knappen Skizze auf die Lebensanfänge Blumenbergs ein, aus drei Gründen. Zum einen sind die Erfahrungen, denen er ausgesetzt war, nicht nur privat und somit intim. Blumenberg teilte die Erlebnisse von Krieg und Verfolgung mit vielen anderen seiner Generation, wenn auch jeder sie von einer anderen Warte aus erfahren hat: Hannah Arendt etwa, Dolf Sternberger, Jürgen Habermas oder Johann Baptist Metz. Der prägende Eindruck dessen, was man aller Dramatik entkleidet die ›geschichtliche Situation‹ nennen darf, hatte nicht nur individuelle, sondern eben eine generationenübergreifende Kraft.

 

Zum anderen hat Blumenberg selbst immer wieder in seinen Publikationen einzelne Bemerkungen im Zusammenhang mit der »größten bisherigen Sinnkatastrophe der Geschichte«31 fallen lassen. So etwa, als er im Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als die militärische Leistung benannte, die er bewundere; oder als er in einem Zeitungsartikel über Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus auf sein eigenes Versteck in Lübeck zu sprechen gekommen ist, das ihm das Überleben sicherte.32 Über derartig eingestreute biographische Auskünfte hinaus finden sich auch ausdrücklichere Auseinandersetzungen mit den geschichtlichen Hintergründen seines Lebens: Ein zentrales Kapitel aus Lebenszeit und Weltzeit ist Hitler gewidmet, und Arbeit am Mythos enthält eine implizite Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. Noch allgemeiner gewendet, merkt man der Philosophie Blumenbergs an, welche Erfahrungen ihr in den Knochen steckt. »Der Fliehende spürt im Rücken, was ihm nachsetzt«,33 heißt es einmal.

Schließlich sind die frühen biographischen Koordinaten Blumenbergs für das rechte Verständnis einer Ausdrucksschicht seiner beiden Qualifikationsschriften, der Doktorarbeit und der Habilitationsschrift also, unerlässlich. In ihnen hat Blumenberg den Stellenwert der Tradition und die radikale Erfahrung der geschichtlichen Erschütterung als ›Ursprünglichkeit‹ reflektiert und bis in die herangezogene Terminologie hinein sich seine zeitgeschichtlich bedingten Prägungen einzeichnen lassen.

Was also macht den biographischen Hintergrund aus, vor dem sich das geistige Profil dieses Autors abhebt? Der im Anhang der Doktorarbeit obligatorisch beigegebene Lebenslauf – eine der seltenen offiziellen biographischen Selbstauskünfte Blumenbergs – besticht durch das, was er unerwähnt lässt oder nur andeutet: »Geboren am 13. Juli 1920 zu Lübeck als Sohn des Kaufmanns J. C. Blumenberg, deutscher Staatsangehörigkeit, habe ich nach der Grundschule das Gymnasium des Lübecker Katharineums besucht und dort 1939 das Reifezeugnis erhalten. Sodann studierte ich scholastische und neuthomistische Philosophie, und zwar 1 Semester an der Philosophisch-theologischen Akademie in Paderborn und 2 Semester an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen bei Frankfurt am Main, hier vor allem bei Caspar Nink. Nachdem ich 1941 mein Studium abbrechen musste, setzte ich meine Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiete der mittelalterlichen Philosophie, bis 1943 privat fort. Dann nahm ich eine Tätigkeit in der Industrie auf. Nach Kriegsende brachte ich mein philosophisches Studium an der Universität Hamburg, vor allem bei Ludwig Landgrebe, zum Abschluss. Als Nebenfächer wählte ich Griechisch und Deutsche Literatur.«34 Diese knappen Ausführungen bedürfen einer Anreicherung und verdienen die eine oder andere Akzentuierung.35

Der Vater Josef Carl Blumenberg – von seiner Mutter ist nicht die Rede – war Kunsthändler, genauer: er handelte mit Radierungen und kirchlichen Devotionalien, Marienstatuen und Kunstdrucken von Marien- und Engelbildern. »In zahllosen Schlafzimmern hängen ehebettbreite Farbdrucke mit Engeln«,36 heißt es einmal in einem Text, an die rege Kaufmannstätigkeit des Vaters erinnernd. Die Familie Blumenberg stammte aus dem Bistum Hildesheim und verzeichnet etliche katholische Priester in ihrem Stammbaum. Blumenbergs Mutter Else, geborene Schreier, entstammte einer jüdischen Familie. Sie konvertierte vor der Hochzeit zum katholischen Glauben, was aber nichts daran änderte, dass ihr Sohn der Rassenideologie der Nazis zufolge als ein sogenannter ›Halbjude‹ galt. Nach dem frühen Tod seines jüngeren Bruders blieb er das einzige Kind. Drei Schwestern seiner Mutter wurden im Dritten Reich ermordet, darunter jene Tante, in deren Bücherbeständen der Nordpolbericht Nansens zu finden gewesen war. Blumenberg besuchte, wie vor ihm Thomas Mann, das Lübecker Katharineum. Als der dortige Direktor Georg Rosenthal, der den Nobelpreisträger 1931 nach Lübeck eingeladen hatte, 1933 von den Nazis abgesetzt wurde, bewirkte das im Quartaner Blumenberg »die unbestimmbare Wahrnehmung eines bedrohlichen Gewaltaktes, der an den Nerv der Schule gehen mußte«.37 Thomas Mann hatte mit dem Untertitel des Romans Buddenbrooks, der im häuslichen Bücherschrank stand, das Stichwort gegeben: Verfall einer Familie. »Da war etwas von einer möglichen Nähe der für exotisch gehaltenen Wendung des vermeintlich Beständigen zur Katastrophe. ›Verfall‹ konnte sich auch hier und jetzt abspielen«, nahm der Schüler erschrocken zur Kenntnis: »Dieser ›Verfall‹ kam von oben, und es gehört zu den lebenslang zu verarbeitenden Erfahrungen dessen, der gerade noch vergleichen konnte, daß es auch die wirklich gab, die sich nicht mitziehen ließen, die etwas zu bewahren hatten.«38 Darunter waren Klassenkameraden, aber auch Lehrer wie Wilhelm Krüger, Blumenbergs Deutsch- und Klassenlehrer bis zum Abitur. Der Nachfolger Rosenthals hingegen, Robert Wolfanger, war überzeugtes Mitglied der NSDAP, und mit ihm hielten antisemitische Schikanierungen Einzug, unter denen Blumenberg zu leiden hatte. Als Klassenprimus – er war der Jahrgangsbeste von ganz Schleswig-Holstein – stand ihm die Abiturrede zu, die er zwar verfassen, aber nicht vortragen durfte. Das Abiturzeugnis bekam er auf degradierende Weise, zum Direktor zitiert, ausgehändigt. Blumenberg war nach eigener Auskunft einer »Welle der Empörung«39 antisemitischer Art ausgesetzt, neben den Amtsträgern wohl vor allem durch die Parallelklasse. »Sie traf ihn als Schüler spät und prägte ihn für sein ganzes Leben«, erinnert sich der Schulfreund Martin Thoemmes, Blumenberg sei »buchstäblich bis zu seinem Tod stigmatisiert von den Demütigungen seiner Heimatstadt Lübeck«40 gewesen. Ein anderer Klassenkamerad berichtet, Blumenberg habe auf seinem täglichen Schulweg an einem Schaukasten des Stürmer vorbeigehen müssen, in dem zu lesen gewesen sei, Menschen wie er hätten kein Recht zu leben und müssten wie ›Ungeziefer‹ beseitigt werden.41

Nach dem Abitur begann Blumenberg im Wintersemester 1939/40 in Paderborn katholische Theologie zu studieren. Zum Sommersemester 1940 wechselte er an die Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen bei Frankfurt. Von seinen dortigen Lehrern hat er in seinem oben zitierten Lebenslauf nur Caspar Nink hervorgehoben. 1941 musste Blumenberg sein Studium infolge der verschärften rassenpolitischen Bestimmungen des Kulturministeriums abbrechen. Als ›wehrunwürdig‹ erklärt und somit nicht in die Wehrmacht eingezogen, setzte Blumenberg, wie es im Lebenslauf verharmlosend heißt, seine Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiet der mittelalterlichen Philosophie, bis 1943 privat fort. Es folgte eine Beschäftigung im Werk des Lübecker Industriellen Heinrich Dräger, der ihm Arbeit und einen gewissen Schutz vor Verfolgung bot. Im Februar 1945 wurde Blumenberg verhaftet und zur Zwangsarbeit in das Lager der Organisation Todt – benannt nach dem Bauingenieur Fritz Todt, der im Dritten Reich unter anderem für die Erbauung des Westwalls und für die Schaffung von Reichsautobahnen zuständig war – auf dem Militärflughafen Zerbst nahe Dessau verbracht. Die Bedingungen im Lager glichen denen in einem Konzentrationslager. Blumenberg gelang die Flucht, als das Lager aufgrund der vordringenden Amerikaner aufgegeben werden musste, er schlug sich bis Lübeck durch. Bis zum Kriegsende konnte sich Blumenberg bei einer Lübecker Familie verstecken, der Ungewissheit ausgesetzt, wie lange er unterzutauchen gezwungen sein würde. Als der Terror endlich vorbei war, bedankte sich Blumenberg in einem Brief an Heinrich Dräger für dessen Schutz und Menschlichkeit und bemerkte, die »wohl schwersten Jahre meines Lebens«42 lägen hinter ihm. Ausgestattet mit 6000 Reichsmark, die Heinrich Dräger seinem Schützling zur Verfügung stellte, konnte Blumenberg 1945 in Hamburg das Studium der Philosophie, der Germanistik und der Klassischen Philologie aufnehmen. Das Geld war gut investiert.

Die biographischen Hintergründe sind aufschlussreich für Blumenbergs 1947 in Kiel eingereichte, von Ludwig Landgrebe betreute und zu Lebzeiten unveröffentlichte Doktorarbeit Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Denn ihre Grundausrichtung nimmt bereits jene Spannung in sich auf, die sich durch die biographischen Verwerfungen ergaben, auch wenn man das weder dem Titel noch der Thematik auf Anhieb abzulesen vermag.

Bei der Dissertation handelt es sich um ein 107-seitiges, einzeiliges, schreibmaschinengeschriebenes Manuskript. Es fällt ins Auge, wie sehr Blumenberg bereits in dieser frühen Arbeit mit umfangreichen Bildungsbeständen der Tradition vertraut ist. Er argumentiert mit einer souveränen, wenngleich eklektizistischen Kenntnis der Geistesgeschichte von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart; schon während seiner Schulzeit verfügte Blumenberg über eine über 1200 Titel umfassende, vornehmlich mit theologischen Titeln bestückte Arbeitsbibliothek – sie wurde Opfer des Luftangriffes vom März 1942. Zugleich ist seine Untersuchung, die sich der mittelalterlichen Seinslehre widmet, von einer kognitiven Unruhe erfüllt, die der Unmittelbarkeit der existenziellen Situation zumindest einen indirekten Ausdruck zu verleihen sucht. Die Erfahrungen, die er im Dritten Reich hatte machen müssen, waren auch ein Angriff auf die Stabilität der Tradition, und für die Erschütterung suchte der junge Blumenberg nach einer Sprache. Er fand sie in der Philosophie Martin Heideggers.

Das mag aus heutiger Sicht überraschen. Doch als 1927 Heideggers Sein und Zeit erschien, war es – neben allen philosophischen Anstößen – zuallererst ein Sprachereignis. George Steiner hat darauf verwiesen, die tiefgreifende Krise nach dem Ersten Weltkrieg habe zwischen 1918 und 1927 eine ganze Reihe von Büchern hervorgebracht, »die anders waren als alles andere, was in der Geschichte des abendländischen Denkens und Fühlens zuvor produziert worden war«, und die ihrem Umfang und ihrem extremen Charakter nach »mehr als Bücher sind«:43 Ernst Blochs Geist der Utopie, Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, Karl Barths Kommentar zum Römerbrief, Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung und eben Heideggers Sein und Zeit – Steiner lässt es offen, ob Hitlers Mein Kampf zu diesem Kanon expressionistischer Literatur hinzuzuzählen ist. Es sind für Steiner »gewaltsame Bücher«, und er zitiert als Beleg aus Barths Römerbrief-Kommentar: »Gott spricht Sein ewiges Nein zu der Welt.«44 Diese Bücher glichen literarischen Erdbeben, die im damaligen Leser Erschütterungen verursachten. Ihre Sprache stand bereit, der neuesten Katastrophe einen gebotenen Ausdruck zu verleihen.

Der junge Blumenberg fand in der ihm von Heidegger gebotenen Terminologie der ›Faktizität‹, der ›Nichtigkeit‹ oder der ›Geworfenheit‹ Ausdrucksformen, die er mit seinen Erfahrungen und denen seiner Generation zu füllen vermochte. Das moderne Bewusstsein, schreibt Blumenberg 1947, sei »nicht bei der Erfahrung seiner Selbstmächtigkeit stehen geblieben; im Gegenteil, es wurde zurückgeworfen in zuvor unbekannte Tiefen von Entmächtigung und Verzweiflung. Nichtigkeit, Geworfenheit und Faktizität wurden die beherrschenden Momente der existenziellen Selbsterfahrung. Dem um einen neuen Grund seiner Existenz verzweifelt ringenden Menschen blieb eine Erfahrung, ähnlich jener augustinischen von ›Wahrheit‹ in uns selbst, versagt. In seiner Geworfenheit wurde er immer nur auf sich selbst zurückgeworfen. In der verzweifelt angestrengten und atemlosen Bejahung der eigenen Faktizität suchte der Mensch Grund zu fassen, neue Selbstmächtigkeit zu erringen. Es blieb ihm nichts, als sich der Mündung entgegenzustürzen, in der endlich die Faktizität des Daseins versinkt: es blieb ihm die ›Entschlossenheit zum Tode‹. Es ist so die in der Selbsterfahrung des modernen Menschen erschlossene Verfassung der ›auf sich selbst geworfenen Existenz‹, die in Heideggers Existenzialanalyse ihre Auslegung fand – und in der sich zweifellos ein Zeitalter wiedererkennt.«45

Blumenbergs erregte Verwendung der Heidegger’schen Terminologie – in einer ansonsten eher spröden, scholastischen Diktion der Dissertation –, die er für eine Beschreibung seiner Erfahrungen im Dritten Reich heranzieht, freilich ins existenzialistisch Grundsätzliche gewendet, stellt keine ungebührliche Überstrapazierung des originären Wortgebrauchs dar. Blumenberg hat später mit Nachdruck darauf verwiesen, in Heideggers Sprache habe bereits die weltgeschichtliche Zäsur des Ersten Weltkriegs ihr Echo gefunden: »Dieses geschichtliche Ereignis hat die Grunderfahrung von der Unzuverlässigkeit lebensweltlicher Konstanten verschärft wie nichts zuvor, was auch sonst sich durch den Bruch mit dem 19. Jahrhundert verändert haben mochte. Darf man in dieser Frage Selbstaussagen überhaupt trauen, so wäre die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die letzte gewesen, für die die Annahme fester und Generationen überdauernder Bewußtseinsbestände noch zutreffend gewesen war.«46 Insofern sei Heideggers Entdeckung des Zusammenhangs unter den Begriffen Sinn, Zeit und Geschichte unmittelbarer »Ausdruck der ersten Nachkriegswelt«.47

 

Das Sprachgewand, das Blumenberg seinen eigenen Erfahrungen umhängt – so ausgeliehen es erscheinen mag, um nicht gleich von ›Jargon‹ zu reden –, mag Ausdruck einer Verlegenheit sein, eigene Worte für das Unfassbare zu finden. Es ist aber nicht mit einer fugenfreien Übereinstimmung mit Heideggers Philosophie zu verwechseln. Darin besteht eine weitere Überraschung, die die Dissertation bereithält: Blumenberg argumentiert von Beginn an mit Heidegger gegen Heidegger. Mag auch sein späteres Verhältnis zum Denker des Seinsgeschickes ein äußerst distanziertes gewesen sein, das bis zur polemischen Abgrenzung reichte, in seiner Studie zur mittelalterlichen Ontologie ist es Heidegger, dem Blumenberg wegweisende Impulse verdankt, die in Paderborn und Sankt Georgen erarbeiteten Kenntnisse des mittelalterlichen Seinsdenkens aus der gegenwärtigen Situation heraus zum Sprechen zu bringen.

Hat man das spätere Werk des Philosophen im Blick, ist an der Dissertation bemerkenswert, wie stark Blumenberg in ihr von der philosophisch reflektierten Theologie des Mittelalters ausgeht, wie er sie bei Augustinus, Thomas von Aquin, Bonaventura und Duns Scotus vorfindet; er begreift sich in dieser Frühphase seines akademischen Werdeganges noch wie selbstverständlich als Ontologe. Zugleich dient ihm die kritische Auseinandersetzung mit der Fundamentalontologie Heideggers dazu, die mittelalterliche Ontologie auf Gegenwärtigkeit zu eichen, seine Darstellung mittelalterlichen Denkens ist »typologisch und nicht historisch«48 gemeint – Blumenberg unternimmt es, dem mittelalterlichen Denken Typen des Selbst- und Weltverständnisses zu entnehmen, mithilfe derer sich gegenwärtige Wirklichkeitserfahrungen fassen lassen sollen. Er sucht keinen Rückgriff auf mittelalterliche Traditionalität, um den Katastrophen der Gegenwart restaurativ zu entkommen, vielmehr prüft er, ob Innovationen des mittelalterlichen Denkens den gegenwärtigen Daseinserfahrungen standzuhalten vermögen. Ausdrücklich fragt er – mit Heidegger – nach der »Forderung und Leistung eines Neuansatzes der Ontologie als der Fundamentallehre der Wirklichkeitserfahrung«, denn »wie vielleicht niemals zuvor« seien »alle ›Einschlüsse‹ der Vergangenheit, alle formalen und gehaltlichen Bindungen an das Überholte infrage gestellt«.49 Der Versuch, mittelalterliches Denken innovativ für die Gegenwart aufzuschließen, ist für jene Zeit radikaler Umbrüche nicht so ungewöhnlich, wie es heute erscheinen mag: Karl Rahner revolutionierte die katholische Theologie durch eine Neuinterpretation der Theologie des Thomas von Aquin, indem er mit ihm eine neue Theologie der Welt beginnen ließ, auf die es der Gegenwart ankommen musste; sein Schüler Johann Baptist Metz ist ihm darin gefolgt, indem er eine Theologie nach Auschwitz entwarf. Es ließen sich also auch aus den Klassikern des Mittelalters Funken schlagen, die die gegenwärtige Situation zu erhellen vermochten.

Worum also geht es in Blumenbergs Dissertation? Auch wenn eine philosophische Schrift nicht allein auf Späteres gelesen werden sollte, möchte ich an einen zentralen Punkt heranführen, der sich leitmotivisch im weiteren Werk Blumenbergs fortsetzt: die theologische Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts durch den freien und rational nicht verstehbaren Willen Gottes, der die Kontingenz der Welt begründet. Mit der Kontingenz kommt die Faktizität der geschichtlichen Erfahrung in den Blick, die es in ihrer Ursprünglichkeit zu erfassen gelte. Dies ist der kognitive Glutkern, auf den Blumenberg – gegen Heideggers Seinsgeschichte gewendet – verweist und der bis in die späteren Schriften wie der Legitimität der Neuzeit nachstrahlt.

Heidegger hatte Sein und Zeit damit eröffnet, es gelte – nach zweieinhalb Jahrtausenden Philosophiegeschichte – die Frage nach dem Sinn von Sein neu zu stellen: »Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort ›seiend‹ eigentlich meinen? Keineswegs.«50 Nicht einmal eine Verlegenheit darüber stelle sich ein, den Ausdruck ›Sein‹ nicht zu verstehen. Heidegger hebt also an, die Frage nach dem Sein zu erneuern und die Zeit als möglichen Horizont eines jeden Seinsverständnisses anzunehmen. Die Tradition des Seinsdenkens seit Platon bis in die Gegenwart erweist sich ihm als eine Verdeckungsgeschichte, als ein Verfehlen der eigentlichen Frage, als Verfallsgeschichte, weshalb sich die Aufgabe einer »Destruktion der Geschichte der Ontologie«51 stelle. Wieder einmal nimmt eine Philosophie sich vor, eine verhängnisvolle Tradition abzuräumen, um mit dem Denken neu ansetzen zu können. »Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden«, führt Heidegger aus, »dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.«52

Blumenbergs Anliegen besteht nun darin, gegen das von Heidegger gezeichnete Bild vom abendländischen Seinsdenken als einer epochenübergreifenden Verfehlung die Beiträge des mittelalterlichen Denkens als Formen ursprünglichen Denkens zu verteidigen. Die Scholastik sei »nicht nur Vermittlung und Durchgang für das antike Erbe«, sie besitze eine »ausgeprägte ursprüngliche Eigenleistung«,53 die es wertzuschätzen gelte. In einer früheren Arbeitsfassung trug Blumenbergs Dissertation den das Ziel seiner Arbeit eindeutiger herausstellenden Titel Die Leistung der scholastischen Metaphysik, im Hinblick auf den ontologischen Ansatz bei Martin Heidegger; für die Publikation, die nicht zustande kam, hatte Blumenberg seinem Doktorvater, Ludwig Landgrebe, den Titel Tradition und Ursprünglichkeit. Studie zum geschichtlichen Sinn des mittelalterlichen Denkens vorgeschlagen.54 Was sich angesichts des Titels der eingereichten Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie wie ein Spezialproblem der mittelalterlichen Ontologiegeschichte ausnehmen mag, reicht thematisch weit über den mit dem Titel bezeichneten Gedankenradius hinaus und ist für Blumenbergs weiteres Werk von großer Aufschlusskraft. Erste Leitmotive klingen an: Gegen Heidegger verteidigt Blumenberg die Geschichtlichkeit der Geschichte; der mittelalterliche Gott Blumenbergs tritt als ein voluntaristischer, in seinen Schöpfungsabsichten freier Akteur auf die Bühne des Denkens; damit taucht der zentrale Begriff am Horizont des Blumenberg’schen Denkens auf, um den sein Werk kreist: die Kontingenz der Welt. Schon an diesen drei Denkmotiven lässt sich Blumenbergs früh einsetzender Umgang mit überkommenen Traditionsbeständen ablesen: Durch interpretatorische Zuspitzungen gelingt ihm eine Dramatisierung der Bewusstseinsgeschichte, deren erzeugte Prägnanz und problemgeschichtliche Kontinuität an Faszination gewinnt, wo es ihr mitunter an Differenzierung fehlt. Das lässt sich kurz anhand der Einführung dieser Motive in der Doktorarbeit zeigen.