Hans Blumenberg

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Dennoch lassen sich die Konturen dieses philosophischen Denkens zeichnen. Es erweist sich als möglich, wie in Aussicht gestellt, Hinweise zu geben, was Blumenberg macht und wie er es macht, um von ihnen aus leichter in die Fülle des kaum zu Referierenden einsteigen zu können. Dazu ist es sinnvoll, einen günstigen Ausgangspunkt zu wählen und einen perspektivischen Fluchtpunkt festzulegen, um Wege durch das labyrinthische Werk Blumenbergs aufzutun.

Eine diskrete Anthropologie

Gäbe man für einen Moment der Zumutung nach, in einem einzigen Satz sagen zu müssen, worum es der Philosophie Hans Blumenbergs geht, würde er lauten: Es geht ihr um den Menschen.

Auf den ersten Blick mag diese Auskunft so allgemein wie unbefriedigend erscheinen, vielleicht stimmig, aber ohne rechten Aufschlusswert. Sie besage alles und nichts, könnte man einwenden, und sie treffe so grundsätzlich auf das Philosophieren zu, dass für ein geistiges Profil dieses Denkers wenig gewonnen ist. Die Frage nach dem Menschen sei schließlich so alt wie der Spruch des Orakels von Delphi: Erkenne dich selbst! Doch würde man auch in einem einzigen Satz zu formulieren bereit sein, im Zentrum der aristotelischen Philosophie oder des Werks von Jürgen Habermas stünde der Mensch? Das Zögern entspringt dem Unbehagen, vielschichtige Werke mit dem Spektrum ihrer Themen auf einen zwar mitlaufenden, aber nicht ausschließlichen Aspekt verengt zu sehen. Blumenbergs Werk steht in seiner Fülle an Reflexionsfeldern den genannten Philosophien in nichts nach: Phänomenologie, Metaphorologie, Mythologie, Wissenschaftsgeschichte, Philosophie der Technik und Theologiegeschichte, um nur einige zu nennen. Erst seit der postumen Veröffentlichung der Beschreibung des Menschen ist Blumenbergs kontinuierliche Beschäftigung mit anthropologischen Fragen unübersehbar geworden – aber macht sie das kognitive Gravitationszentrum aus, auf das sich alle anderen Denkbewegungen ausrichten?

Dabei fällt eine Einordnung der Philosophie Blumenbergs in gängige Disziplinen ohnehin schwer. Sie steht quer zu üblichen Situierungen in philosophische Schulen und Lehren. Diese Passungenauigkeit hat zu einem Missverhältnis von Anerkennung und Wirkung beigetragen. Blumenbergs Bücher sind einschließlich ihrer Titel legendär, spielen aber in dem, was man ohne Abfälligkeit den akademischen Betrieb nennen kann, keine prägende Rolle. In philosophischen Lexika, Handbüchern und Einführungswerken findet Blumenberg kaum eine Erwähnung. Ich gebe drei Beispiele.

Zwar hat er sich zeit seines Lebens mit der Phänomenologie Husserls beschäftigt: Seine unveröffentlichte Habilitationsschrift Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls aus dem Jahr 1950 machte den Auftakt; während seiner Münsteraner Lehrtätigkeit war eine Vorlesung ›Ausgewählte Fragen der Phänomenologie‹ fester Bestandteil der Lehre, über viele Semester hinweg; und eines der bedeutendsten Nachlasswerke, eben die Beschreibung des Menschen, widmet sich einer subtilen Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls. Dennoch werden Blumenbergs Beiträge zur Phänomenologie innerhalb der Fachdiskussionen kaum als solche registriert.

Das faszinierendste Moment an Blumenbergs Philosophie der Geschichte ist seine Hermeneutik. Sie bietet subtile Analysen des Wandels geistesgeschichtlicher Hintergründe als Bedingung der Möglichkeit, dass sich im Vordergrund erkennbare Transformationen des Selbst- und Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen durchzusetzen vermochten. In immer wieder überraschenden Wendungen werden so auch sattsam bekannte Autoren einer innovativen Lesart unterzogen. Wenngleich die Leistungsfähigkeit dieser Hermeneutik nicht bestritten worden ist, kommen auch jüngere Gesamtdarstellungen der Geschichte der Hermeneutik ohne eine Nennung Blumenbergs aus. Obzwar von aufschließender Kraft, wird Blumenbergs Hermeneutik in der allgemeinen philosophischen Wahrnehmung von Hans-Georg Gadamers hermeneutischem Grundlagenwerk Wahrheit und Methode überdeckt. Wer hierzulande von philosophischer Hermeneutik im 20. Jahrhundert spricht, hat Blumenberg kaum im Sinn.

Die Fluchtlinien von Blumenbergs Werk laufen auf eine philosophische Anthropologie zu. Immer wieder lassen sich leitmotivisch Befragungen und Bestimmungen des Menschseins in seinen Texten auffinden. Die zentrale Kategorie der Selbsterhaltung der Vernunft als Notwendigkeit in einer auf sie nicht abgestimmten Wirklichkeit rückt seine Überlegungen in die Nähe klassischer philosophischer Anthropologien. Dennoch wird Blumenberg im Vergleich zu Arnold Gehlen, Helmuth Plessner und Max Scheler nicht zu einem ihrer bedeutenden Repräsentanten gezählt. Er hat keinen eigenen, klar umrissenen Beitrag zu ihr geleistet, der in die entsprechenden Annalen der philosophischen Anthropologiegeschichte eingegangen wäre.

Blumenbergs Denken zeichnet sich durch eine Eigenwilligkeit aus, die eine fugenfreie Einfügung in das Design der jeweiligen philosophischen Teildisziplinen vereitelt. Das hat auch damit zu tun, dass Blumenberg seine methodischen Ansätze in seinen Werken stets anwendete und am Quellenmaterial erprobte, aber kaum in eigenen Schriften vorstellte. Er hat keine expliziten Aufsätze zu seiner Hermeneutik des Hintergrundes vorgelegt, er publizierte zu Lebzeiten weder eine philosophische Anthropologie noch eine Monographie, die sich ausschließlich und unmittelbar der Phänomenologie Husserls widmete. Warum aber soll sich seine Philosophie im Kern als eine Vergewisserung über den Menschen ausweisen lassen?

Blumenbergs Art von Anthropologie hat sich der Einbettung in die klassischen Formate verweigert. Der vergleichende Blick auf jene Klassiker, welche die Anthropologie zu einer disziplinären Ausdrücklichkeit vorangetrieben haben und sie gleichsam als Wissenschaftsauftrag institutionell zu verankern vermochten, verdeckt eher Blumenbergs eigenen Zugang. Wiederum in einen Satz gefasst, lässt sich über seine Philosophie sagen: Sie verfolgt eine diskrete Anthropologie. Ich nenne sie ›diskret‹, da sie der Frage, was es mit dem Menschen auf sich hat, indirekt nachgeht. Sie ist oftmals unauffällig am Werk. Sie wendet sich zunächst dem implizit Anthropologischen in Kontexten zu, die auf den ersten Blick nichts mit der Lehre vom Menschen zu tun haben müssen. Sie fragt nach den latenten, unbemerkt vorhandenen Einschlüssen des Humanen in unseren artikulierten Wirklichkeitsbeziehungen. Überspitzt gesagt: Das Menschliche ist ein Implikat. Zwar gibt es auch im direkten Zugriff etwas über den Menschen zu sagen, aber wie dürftig sind diese Selbstauskünfte gegenüber der Fülle an Weltbeziehungen, denen man das jeweils spezifisch Menschliche erst ablesen muss.

Eine diskrete Anthropologie reagiert somit mit ihrer zurückhaltenden Beantwortung der Frage nach dem Menschen auf die Verlegenheit, dass niemand von uns auf Anhieb zu sagen vermag, was es mit dem Menschen auf sich hat, obwohl jeder von uns einer ist. Alle Anthropologie geht somit von einem befremdlichen Befund aus: »So paradox es klingt: obwohl wir Menschen sind, wissen wir nur ganz ungenau, was ›das Menschliche‹ ist.«61 Gerade der Mangel an Eindeutigkeit verlangt nun nach umwegigen Formen der Auskunft. Blumenbergs diskrete Anthropologie scheut daher jene starken Thesen, die sie von anderen referiert und in ihrer Gegenüberstellung relativiert. In der Beschreibung des Menschen listet er an die fünfzig verschiedene Annäherungen an Definitionen des Menschen auf, um eben die sich damit ausdrückende Verlegenheit zu dokumentieren, dass der Mensch nicht auf einen Begriff gebracht werden kann.62

Wie schon Blumenbergs Zettelkasten eine Materialisierung der Notwendigkeit einer Philosophie der Umwege darstellt, steht auch seine Anthropologie für ein Abschreiten der vielen Denkwege, um sich – am bedachten Gegenstand entäußernd, doch diskret – darüber zu vergewissern, was es mit dem Menschen auf sich hat. Paradox formuliert sucht die diskrete Anthropologie den Menschen in den Blick zu nehmen, indem sie ihn – zumindest zunächst – nicht zum Thema macht: »Je allgemeiner der Gegenstand ist, von dem wir sprechen«, und mit dem Menschsein ist etwas Allgemeines erfragt, »um so weniger vollziehen wir dieses Sprechen dadurch, daß wir den Gegenstand selbst im Blick zu behalten suchen, im Gegenteil: vom Allgemeinen spricht es sich am besten, indem man von ihm absieht.«63 So fragen Blumenbergs groß angelegte Relektüren der gedachten Welt expressis verbis nach dem Wandel der epochalen Wirklichkeitsverhältnisse – beiläufig hat in ihnen eine jeweilige Welt- und Selbstinterpretation des Menschen ihre mitunter nicht eigens artikulierte Gestalt gefunden. Seine Bücher handeln vom Mythos und von der Kosmologie, von der Allmacht Gottes und der Lesbarkeit der Welt, sie reflektieren die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte, fragen nach der Leistung des Begriffs und der Notwendigkeit der Metapher. Doch in all dem ist der Mensch stets mit erfragt. Es käme daher einer Fehleinschätzung gleich, die Beschreibung des Menschen als Blumenbergs monographisch verdichtete Anthropologie neben die thematisch anders gelagerten Bücher zu stellen. Sie ist nur der ausdrücklichste Beleg einer im gesamten Werk im Hintergrund wirksamen anthropologischen Ausrichtung.

Für diese inwendige Perspektivenausrichtung gibt es bedeutsame Selbstauskünfte Blumenbergs. Auf die Frage, was Philosophie zu leisten habe, hat er geantwortet, sie sei im Kern »nichts anderes als werdendes Selbstbewußtsein des Menschen«.64 Die innerdisziplinären Ausprägungen der Philosophie finden für ihn ihren inneren Zusammenhalt in dem Versuch einer humanen Selbstverständigung: »Ob Philosophie wesentlich als Geschichte des Geistes, als Theorie der Erkenntnis, als Anthropologie, Ethik, Ontologie oder gar als formale Logik auftritt und verstanden wird – dies alles sind im Grunde nur Spielarten des einen Willens zu dieser einen Sache: zur Sprache zu bringen, was menschlich ist und was sich im Menschlichen zeigt.«65 Blumenberg hat den anthropologischen Fluchtpunkt seines Philosophieverständnisses wiederholt herausgestellt: »Die Aufgabe, die der Philosophie im Verband der Wissenschaften zufällt, läßt sich auf ihre Funktion im geistigen Haushalt des Menschen überhaupt zurückführen. Die zahllosen Definitionen, die für die Leistung der Philosophie in ihrer Geschichte gegeben worden sind, haben ihren Kern in einer Grundformel: Philosophie ist werdendes Bewußtsein des Menschen von sich selbst.«66 Ganz gleich also, wovon die Philosophie handelt, stets handelt sie auch vom Menschen. Noch in der Hinwendung zu Gegenständen, die außerhalb des Radius einer Anthropologie zu liegen scheinen – Atome etwa oder Sterne –, kommt der Mensch mit in den Blick: »Der Mensch begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg.«67 Oder anders gewendet: »Nichts, was uns die Welt zu verstehen hilft, kann vergeblich sein, unsere Welt zu verstehen.«68 Insofern besitzen alle Formen wissenschaftlicher Theorie für ihn eine latente Ausrichtung auf den Menschen: »Die Beliebigkeit des Gegenständlichen, die so weithin den ausgebildeten und spezialisierten wissenschaftlichen Betrieb kennzeichnet, darf nicht verdecken, daß alles wissenschaftliche Forschen in einer originären Bedeutsamkeit für das menschliche Dasein wurzelt«,69 schreibt Blumenberg schon in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1950.

 

Den Menschen als Fluchtpunkt der humanen Neugierde an der Welt anzusehen, trotz der disziplinären Ausdifferenzierung dieses Interesses, macht einen Grundzug der Moderne aus. »The proper study of mankind is Man«,70 postulierte Alexander Pope in seinem zuerst 1733 erschienenen Essay on Man. Dem Einzelnen stehe es offen, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anziehe, heißt es in Goethes Wahlverwandtschaften, »aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch«.71 Und Ernst Cassirer sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sein Interesse an psychologischen, ontologischen und epistemologischen Fragen, an Mythos und Religion, Sprache, Kunst, Naturwissenschaft und Geschichte ergebe nichts als eine zusammengewürfelte Ansammlung aus disparaten und heterogenen Elementen. Er hielt dem entgegen, alle erwogenen Themen bildeten »letzten Endes ein einziges Thema«, sie seien »verschiedene Straßen, die zu einem gemeinsamen Mittelpunkt führen«.72 Um diesen Mittelpunkt zu bestimmen, hat Cassirer eine Philosophie der Kultur auf den Weg gebracht, in deren Zentrum der Mensch steht.

Blumenberg zeichnet daher in großen Bögen Bewusstseinsgeschichten nach, die der diskreten Anthropologie zuarbeiten. Als ein Stück historische Anthropologie sucht er gewesene Bedeutsamkeitshorizonte des Menschen zu sichern, da für ihn die moderne Einsicht in die Historizität jedes humanen Wirklichkeitsverständnisses unhintergehbar ist. Zugleich ist diese Anthropologie eine unfertige, also eine sich noch im Werden befindliche, da wir erst wissen werden, was der Mensch ist, wenn er alles gewesen sein wird, was zu sein er in der Lage war.

In der Art einer Bedeutungsarchäologie widmet sich Blumenbergs diskrete Anthropologie den Bewusstseinsschichtungen: Wie eine einzelne Person nicht einfach Erinnerungen hat, sondern ihre Erinnerungen ist, so ist auch der kulturierte Mensch – und einen anderen gibt es nicht – eingebettet in Bewusstseinsgeschichten, »in Geschichten verstrickt«,73 wie es bei Wilhelm Schapp heißt. Eine diskrete Anthropologie ist schon ihrer Konzeption nach spezifisch modern, ist doch die Neuzeit eine »Epoche des Bewußtseins«74 – um jede Spur eines Hegelianismus und mit ihm die Erwartung teleologischer Entwicklungen zu vermeiden, spricht Blumenberg von ›Bewusstsein‹ und nicht von ›Geist‹. Blumenbergs Philosophie will herausstellen und, wo nötig, zur Ausdrücklichkeit bringen, was in den Sedimenten der Bewusstseinsgeschichte des Menschen markant oder oftmals bis zur unkenntlichen Selbstverständlichkeit eingelagert ist.

Eine diskrete Anthropologie der vielen Denkwege ist letztlich von einem »geschichtlichen Respekt vor der Gleichrangigkeit der menschlichen Selbsthilfen im Weltverständnis«75 getragen. Kaum etwas hat Blumenberg mehr verachtet als die »Mediatisierung der Vergangenheit für die Gegenwart, für eine Gegenwart, für deren Relevanzforderungen, ihre Aktualitätsmaße, die nur das auf diese Gegenwart Durchschlagende gelten lassen«.76 Was er als die Geschichte der Bewusstwerdung des Menschen nachzuzeichnen sucht, setzt auf eine nacherzählbare Kontinuität, für die man keinen Fortschrittsglauben unterstellen muss. Jedes für uns lesbare Dokument aus den Tiefen der Geschichte des Menschen, wie auch jedes von uns der Nachwelt vermachte Zeugnis unserer selbst, beglaubigt die nicht korrumpierbare Verwandtschaft aller Menschen vor der Aufgabe der Selbsterhaltung. In dem Titel seines 1981 erschienenen Aufsatzbändchens Wirklichkeiten in denen wir leben hat Blumenberg das leicht übersehbar zum Ausdruck gebracht: Denn es sind ›wir‹, die in Wirklichkeiten leben. Manfred Sommer hat darauf hingewiesen, mit diesem ›wir‹ seien keinesfalls allein die Gegenwärtigen gemeint, verdanke sich doch das, was unser Leben ausmacht, in unaufhebbarer Weise unseren Vorfahren; doch auch die, die noch kommen, gehören zu diesem ›wir‹.77

Blumenbergs Blick auf die weitverzweigte Geistesgeschichte stellt also den Versuch dar, in oftmals groß angelegten Spannungsbögen nachzuerzählen, wie sich in der Bewusstseinsgeschichte zur Sprache gebracht hat oder zur Sprache bringen lässt, was menschlich ist und was sich – bisher – im Menschlichen gezeigt hat. Dadurch unterläuft seine Philosophie die akademischen Erwartungen eines Formats von Aussagen, die für eine philosophische Anthropologie unmittelbar von Relevanz sind. Ihre Postulate und Einsichten sind oftmals zu indirekt formuliert, um als genuine Beiträge auf die Frage, was der Mensch denn sei, wahrgenommen zu werden: Die Glossen zu Fontane etwa, die Ausdeutung von Gipfeltreffen prominenter Zeitgenossen, die Achtsamkeit gegenüber Anekdoten – all das droht vorschnell einer literarischen Ambition Blumenbergs zugeschlagen und somit klammheimlich um seine philosophische Bedeutung gebracht zu werden. Für Blumenberg gibt es aber nichts, was zu entlegen wäre, um nicht einer diskreten Anthropologie hilfreich sein zu können. Jeder der von ihm herangezogenen Funde belegt, »daß in der Geschichte nichts so abseitig und abwegig sein kann, wie es sein müßte, um nicht die Spur eines menschlichen Sachverhalts, einer emotionalen Last, einer Bedrängnis im Denken zu liefern«.78

Henning Ritter hat Blumenberg daher einen »Physiognomiker der vielen Gesichter des Denkens«79 genannt. Ein philosophisches Portrait des Menschen besteht für Blumenberg aus all den gewesenen und möglichen Gestalten, die das Bewusstsein von der Wirklichkeit annehmen kann. Daher hat für ihn die Tradition selbst »einen selektiven Effekt, und zwar auf das ›menschlich‹ Bedeutsame hin: was den Menschen zentral affiziert, was unabhängig von den Aussichten theoretischer Verifikation seinem Selbstverständnis zur Artikulation verhilft«.80

Die nicht erreichbare letzte Eindeutigkeit und das zugestandene Ausbleiben definitorischer Klarheit über den Menschen prägen nicht nur die Vorgehensweise einer diskreten Anthropologie, sondern auch die Art und Weise, wie sie ihre Einsichten präsentiert. Blumenbergs diskrete Anthropologie erweist sich gleichsam vom intellektuellen Temperament her als taktvoll, da sie ihre Einsichten dem Leser durch eigenen Nachvollzug anzubieten und nicht in der Gestalt von starken Thesen aufzudrängen sucht. Der in seinen Einschätzungen feinsinnige Henning Ritter hat davon gesprochen, Blumenberg lehre »Umwege zu gehen, auf denen man sich nicht verfehlen kann«.81 Vielleicht macht der diskrete Charakter dieser Art von Anthropologie, wie Blumenberg sie offeriert, einen Teil ihrer Attraktivität aus: Ganz gleich, womit Blumenberg sich beschäftigt, wartet auf den Leser die Erfahrung: Es geht zumindest indirekt und somit diskret auch um sein eigenes Leben.

Bei aller Wuchtigkeit der Bücher ist dieses Angebot dezent. Für Blumenberg ist Philosophie eine »Disziplin der Aufmerksamkeit« und dem »Dienst an der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit im weitesten Sinne«82 verpflichtet. Aufmerksamkeit aber ist »geradezu eine Form von Freiheit«, die es auch im Angesprochenen zu wahren gilt: »Belehren läßt sich ohne Einbuße an Autonomie keiner, aufmerksam machen jeder.«83 Und sei es darauf, was es wohl mit dem Menschsein auf sich hat.

Destruktionen
Frühe Einstimmung:
Das Schweigen der Welt

Wann jemand begonnen habe zu philosophieren, führte Hans Blumenberg in einer seiner Vorlesungen aus, könne nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Nur wann er aufgehört habe, Philosophie zu betreiben, lasse sich mit Sicherheit bestimmen: mit seinem Tod. Dieser letzten Eindeutigkeit steht die Unschärfe des Anfangs gegenüber. Schwellen machen das Leben aus: Niemand zweifelt aufgrund der Prägnanz der Differenzen an der sinnvollen Unterscheidung von Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben und Alter, auch wenn die Übergänge so unmerklich sind wie der Wechsel von Tag und Nacht mit dem Zwischenreich der Dämmerung. Harte Zäsuren sind die Herausforderung der biographischen Kontinuität und Identität. Sie kommen vor, stellen aber den Grenzfall des Lebens, nicht dessen normalen Fluss dar.

Es mag daher durchaus erinnerbare Anfänge und klar bestimmbare Auslöser für das Philosophieren geben. Allgemein vorauszusetzen ist aber doch eher ein diffuser Anfang des Nachdenkens, des Fragens und Antwortens, der irgendwann einen bestimmten Grad der Ernsthaftigkeit erreicht. Den ersten Gedanken eines Philosophen gibt es nicht, und die dokumentierten Äußerungen, seien sie veröffentlicht oder als private Niederschrift erhalten, sind bereits ein spätes Stadium einer sich im Ungefähren verlierenden »Geistesfrühe«.1 Warum ist das von Bedeutung? Warum begnügen wir uns nicht damit, etwa die erste Publikation eines Philosophen als Startpunkt seiner denkerischen Biographie anzusetzen? Wir wissen von Blumenberg nicht, wann er begonnen hat zu philosophieren. Aber bevor jemand Autor wird, ist er ein Leser. Damit erhellt sich der biographische Schritt zum eigenen Philosophieren zwar nicht auf wünschenswerte Weise, aber frühe Lektüren eines Philosophen sind von Bedeutung, wenn sie im späteren Werk ein Echo gefunden haben und somit eine Gedankenspur noch vor die biographisch ersten Niederschriften führt. Das ist bei Hans Blumenberg der Fall.

Nun mag man im Rückblick manches erwarten, was zu den eindrücklichen Leseerfahrungen des heranwachsenden Blumenberg gehört haben könnte: Klassiker der Antike, Wegmarken der neueren Geistesgeschichte oder Gegenwartsautoren der Philosophie. Hannah Arendt, zum Vergleich, hat als Jugendliche Kants Kritik der reinen Vernunft gelesen und war für die Philosophie gewonnen. Ernst Mach studierte als 15-Jähriger Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die auf ihn einen gewaltigen und unauslöschlichen Eindruck gemacht haben. Für Blumenberg dagegen war eine andere frühe Lektüre atemberaubend: Bei seiner Lieblingstante, »in einem nie beheizten ›Herrenzimmer‹«, las er als Kind »auf dem Fußboden liegend und zitternd – nicht vor Kälte – vor Aufregung«2 das zweibändige Werk des Polarreisenden Fridtjof Nansen In Nacht und Eis. Die Norwegische Polarexpedition 1893–1896. Diese »Nansen-Lektüre mit 9 Jahren« habe »lebenslang«3 auf ihn gewirkt.

Diese Auskunft ist bemerkenswert. Blumenberg ist zu Lebzeiten in nur einer einzigen Veröffentlichung, drei Jahre vor seinem Tod, auf Nansen zu sprechen gekommen.4 Und doch behauptet er eine lebenslange Nachwirkung? Bei genauerer Betrachtung finden sich in seinen Büchern gedankliche Echos der frühen Lektüre, von den weltanschaulichen Tönungen ihrer Entstehungszeit gereinigt, aber für den Leser, der Blumenberg mit Nansen abzugleichen unternimmt, erkennbar.

Fridtjof Nansen, 1861 in der Nähe von Oslo in Norwegen geboren, war eine der führenden Gestalten der Polarforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 1888 führte er die erste Durchquerung Grönlands auf Skiern und stellte mit seinem zwei Jahre später erschienenen Buch Auf Schneeschuhen durch Grönland ein erstes Mal seine Doppelbegabung als Expeditionsleiter und Autor unter Beweis. Nansens Bücher über seine Vorstöße in die unwegsame Natur waren literarische Ereignisse. Wie kein anderes hat sein zweibändiges Werk In Nacht und Eis seinen literarischen Ruhm begründet. Ein Jahr nach der norwegischen Fassung war es 1897 als deutschsprachige Ausgabe im Brockhaus-Verlag mit über zweihundert, die Anschaulichkeit steigernden Abbildungen, vier Karten und acht »Chromotafeln«, also damals sehr aufwendigen Farbdrucken, erschienen. Es erzählt von Nansens Vorstoß zum seinerzeit noch unerreichten Nordpol.

 

Nansens Vorhaben war tollkühn. Er hatte den riskanten Plan gefasst, mit einem eigens dafür konstruierten Schiff in die Arktis aufzubrechen.5 Die »Fram« – der Name des Schiffes bedeutet »vorwärts« – war so gebaut, dass sie die Möglichkeit bot, sich im Packeis einfrieren zu lassen, ohne von den Eismassen zerdrückt zu werden. Nansen hatte die Idee, die Eisdrift im nördlichen Polarkreis auszunutzen und sich auf diese Weise dem Pol zu nähern. Am 24. Juni 1893 brachen sie auf, beladen mit Proviant für fünf Jahre. Rasch ließen sie die norwegische Küste hinter sich, fuhren westlich entlang der sibirischen Küste und trafen gut einen Monat nach ihrem Aufbruch auf erstes Packeis. Am 17. September nahmen sie Kurs auf den Nordpol. Zwei Wochen später war die Fram eingefroren, unbeweglich im Eis. Das Schiff überstand in den folgenden drei Jahren alle Eispressungen. Nansens Konstruktionsidee war aufgegangen. Aber die Eisdrift nahm einen anderen Verlauf als erwartet. In einem zermürbenden Zickzackkurs näherten sie sich nur mühsam dem Pol. Am 12. Dezember 1894 erreichten sie zwar mit 82 Grad und 30 Minuten eine nördlichere Breite als jedes andere Schiff zuvor, aber noch trennten sie etwa 780 Kilometer von ihrem Ziel. Nansen traf die Entscheidung, zusammen mit Hjalmar Johansen von Bord zu gehen, um sich mit Schlitten, Kajaks, Hunden und Proviant auf das Wagnis einzulassen, über das Eis den Pol zu erreichen. Otto Sverdrup übernahm das Kommando auf der Fram. Der Aufbruch von Nansen und Johansen im März 1895 hatte etwas Ungeheuerliches an sich: »Nie hat irgendjemand je die Brücke hinter sich so entschieden abgebrochen. Wenn wir umkehren wollten, wir hätten absolut nichts, wohin wir uns wenden könnten, nicht einmal eine öde Küste. Es wird unmöglich sein, das Schiff wiederzufinden, und vor uns liegt das große Unbekannte.«6

Auf Nansen und Johansen wartete ein unbeschreiblicher Kampf. Schonungslos und minutiös hat Nansen in seinem Tagebuch, der Grundlage für sein späteres Werk In Nacht und Eis, die Entbehrungen und Strapazen dieses Versuchs festgehalten. Immer wieder mussten sie die mit Kajaks beladenen Schlitten über Eisrinnen und Hügelketten hinweghieven. An manchen Tagen kamen sie kaum einen Kilometer durch das zerklüftete Eis voran. Am 8. April 1895 erreichten sie mit 86 Grad, 13,6 Minuten ihren nördlichsten Punkt. Kein Mensch war jemals so hoch in den Norden vorgestoßen, doch aufgetürmte Eismassen vereitelten jedes weitere Vorankommen. Der Pol schien zum Greifen nah und war unerreichbar. Sie kehrten um.

Der Rückweg erwies sich als die eigentliche Tortur. Ohne Aussicht auf Wiederkehr zur in der Eisdrift sich entfernenden Fram hatten sie sich auf eigene Faust zu retten. Ihr Ziel war das Franz-Josef-Land, eine heute zu Russland gehörende Inselgruppe, die beinahe 1000 Kilometer weiter südlich gelegen war. Um zu überleben töteten sie nach und nach ihre Schlittenhunde. Da sie nicht schnell genug vorankamen und zunehmend die Orientierung verloren, mussten sie den arktischen Winter in einer kleinen, selbstgebauten Hütte überstehen, die so niedrig war, dass sie in ihr kaum sitzen konnten. Immerhin gelang es ihnen, die Innentemperatur um den Nullpunkt zu halten. Nach ihrem erneuten Aufbruch war es reiner Zufall, dass sie am 23. Juni 1896, über ein Jahr, nachdem sie die Fram verlassen hatten, am Kap Flora am südlichen Franz-Josef-Archipel auf den Anführer einer britischen Polarexpedition stießen. Das war die Rettung. Wenige Wochen nach ihrer Rückkehr traf auch die Fram mit der restlichen Mannschaft unversehrt in Norwegen ein.

Nansens In Nacht und Eis stellt einen Höhepunkt der Expeditionsliteratur dar. Sein Bericht ist von großer erzählerischer Kraft und fesselt die Aufmerksamkeit des Lesers. Darüber hinaus – und darauf kommt es hier an – ist er mit jenen intellektuellen Stimmungen angereichert, die das europäische 19. Jahrhundert in seinen letzten Jahrzehnten ausmachten und die mit ihren Pessimismen bis in das folgende ausstrahlen sollten. Nansen war ausgebildeter Zoologe und mit jener Disziplin vertraut, die durch Darwin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Leitwissenschaft aufgestiegen ist – Nansen lässt nicht unerwähnt, dass er während der langen Abende an Bord der Fram zu Darwins Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl gegriffen hat. Die traditionell seit zwei Jahrtausenden unter christlichen Vorzeichen verbürgte Stellung des Menschen im Weltganzen war durch die Annahme einer Evolution aller Lebewesen erschüttert worden. Damit nicht genug: Die 1867 von Rudolf Clausius veröffentlichte Lehre von der ›Entropie‹ als dem Endpunkt allen Energieaustausches ließ das Ende der Welt in einem Zustand der Erstarrung denkbar werden. Das Ergebnis dieses Prozesses, wie Carl Friedrich von Weizsäcker ausführt, ist der »Wärmetod«: Er besteht aber »meist nicht darin, daß die Gestalten aufgelöst werden, sondern darin, daß sie erstarren. Wenn keine Energie mehr umgesetzt wird, so können Gestalten von nun an weder entstehen noch vergehen.«7

Nansen lieferte dazu die plastischen Beschreibungen: Das arktische Eis, so führt er in einer längeren Passage aus, verweist auf die »Welt, die kommen wird! … Langsam und unmerklich nimmt die Wärme der Sonne ab, und in derselben langsamen Weise sinkt die Temperatur der Erde. Tausende, Hunderttausende, Millionen von Jahren entschwinden, Eiszeiten kommen und gehen, und die Wärme nimmt immer mehr ab; ganz allmählich dehnen sich die treibenden Eismassen weit und immer weiter aus, immer weiter dringen sie nach südlichen Breiten, ohne daß jemand es bemerkt, bis endlich alle Meere der Erde eine einzige Eismasse sind. Das Leben ist von der Erdoberfläche verschwunden und nur noch in den Tiefen des Ozeans zu finden. Aber die Temperatur fährt fort zu sinken; das Eis wächst, es wird dicker und immer dicker, die Herrschaft des Lebens verschwindet. Millionen von Jahren rollen vorüber, bis das Eis den Meeresgrund erreicht. Die letzte Spur von Leben ist verschwunden, die Erde ist mit Schnee bedeckt. Alles, wofür wir gelebt haben, besteht nicht mehr, die Früchte all unserer Mühen und Leiden sind schon vor Millionen von Jahren hinweggelöscht, begraben unter einem Leichentuch von Schnee.«8

Der zeitgeistsensible Leser wurde in diesem dramatischen Stück Futurologie – so unstimmig die Illustrationen aus heutiger astrophysikalischer Sicht auch sein mögen – auf das Ende der Welt vorbereitet. Das war – jenseits der antiken Weltbrandszenarien und jenseits der christlichen Apokalyptik – ein neuer Gedanke. Der Physiker Walther Nernst geriet 1938 regelrecht in Zorn, als ihm der junge Carl Friedrich von Weizsäcker nach seiner Entdeckung des Kohlenstoff-Zyklus als Energiequelle der Sonne eröffnete, »die Welt könne ein Ende haben«.9 Die kosmische Endlichkeit als Destruktion aller menschlichen Hoffnungen auf Fortdauer. Jahrzehnte nach seiner frühen Nansen-Lektüre ist bei Blumenberg zu lesen, es stelle die »bitterste aller Entdeckungen, die empörendste Zumutung der Welt an das Leben« dar, »daß die Welt dieselbe wäre, wenn es uns selbst nie gegeben hätte, und alsbald dieselbe sein wird, als ob es uns niemals gegeben hätte«.10 Erst das Prinzip der Entropie habe »allen Illusionen über die Frontseite der Evolution, über die Zukunft der Gattung Mensch und ihrer Werke, ein Ende gesetzt«.11 Derartiges ließ sich auch ohne die Lektüre Nansens formulieren, keine Frage. Aber von einer rezeptionsgeschichtlichen Abhängigkeit ist hier auch nicht die Rede, eher von einer Empfänglichkeit für spätere Gedanken und ihre intellektuelle Temperierung durch frühe Lektüren.