Hans Blumenberg

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Grundlegungen
Frühes Scheitern:
Eine Geistesgeschichte der Technik

»Ich muß hart arbeiten«,1 schreibt Hans Blumenberg in einem Brief vom Oktober 1967 an Jacob Taubes. Und zwei Jahrzehnte später bekennt er gegenüber Hans Robert Jauß, »daß nur der Gang meiner Arbeiten alles andere bestimmt«.2 Für Henning Ritter war Blumenberg schlicht »Der Arbeiter«,3 für Martin Meyer gar »der Arbeiter par excellence«.4 Schon sein Zettelkasten stellt eine Beglaubigung von Blumenbergs Ausdauer dar, die ihm eine ungemeine Lektüreleistung ermöglichte. Seine Disziplin ist legendär. Für das Verfassen seiner umfangreichen Bücher hat er die Nacht zum Tag gemacht. Stand ein universitäres Forschungssemester an, wurde die Befreiung von der Lehre bis zur Neige mit Schreibprojekten gefüllt: Er werde »gleich nach Semesterschluß in die Neunmonatsfrist kontinuierlicher Arbeit am Schreibtisch eintreten«,5 verkündet er aus gegebenem Anlass in einem Brief. Als Blumenberg einmal von einem ›Hobby‹ sprach, mochte der Leser manches erwarten, kaum aber sein Geständnis, er habe sich als ein solches die erst 1945 in Nag Hammadi in Oberägypten entdeckten gnostischen Schriften erarbeitet.6 Er ließ die »Mühseligkeiten solcher Lektüre«7 nicht unerwähnt. Die Psychopathologie hat für diesen Arbeitstyp den Begriff Workaholic. Doch für Blumenberg ist seine Arbeitseinstellung Ausdruck moderner Selbstbestimmung. Er verweist darauf, »daß Arbeitswut den nachmittelalterlichen Menschen in dem Augenblick ergriff, als er die Aussicht vor sich sah, die Qualität und womöglich sogar die Quantität seines Lebens selbst und ausschließlich zu bestimmen«.8 Das trifft nicht allein auf eigener Hände Arbeit zu, sondern eben auch auf den Versuch, sich ein Leben als Philosoph aufzubauen und eigene Gedankenfelder zu erschließen. Nach einer Zeit der »Liquidation der nackten Existenz als solcher« erweist sich die Freiheit als »der radikale Grund des Daseins, sich selbst zu wollen, zu sich selbst zu stehen«,9 betont Blumenberg in seinem einzigen ausdrücklichen Beitrag zur Ethik aus dem Jahr 1953. Das Ziel der selbstbestimmten Lebensführung, hatte er schon 1946 geschrieben, »bedarf im Angesicht der geschichtlichen Erfahrungen unserer Zeit keines Wortes«.10

In Blumenbergs akademischem Leben setzte eine denkbiographische Etappe ein, die ich ›Grundlegung‹ nennen möchte. Mit dieser Metapher bezeichne ich jene Phase, in der Blumenberg mit großem Arbeitsaufwand sein philosophisches Terrain zu sichern unternommen hat – Philosophie der Technik, Metaphorologie, Mythos, Entstehung und Profil der Neuzeit – und das Fundament für seine klassischen Werke legte. Wie alle Etappen mit ihren Schwellen lässt sie sich nicht klar terminieren. Aber es ist eine Zwischenzeit nach den akademischen Qualifikationsschriften von 1947 und 1950 und vor den legendären Büchern ab 1966, als Die Legitimität der Neuzeit erschien. Sie markiert die Grundlegung einer philosophischen Eigenständigkeit, die sich nicht länger von den »Scheußlichkeiten« der Geschichte bestimmt sehen wollte: »Es gibt keine Bewältigung von Vergangenheit, nicht irgendeiner.«11 Blumenberg brach in sein eigenes Werk auf.

Von 1950 bis 1966 erschienen Dutzende von Zeitungsbeiträgen zu aktuellen Themen, vor allem aber publizierte Blumenberg an die fünfzig Aufsätze, Rezensionen und Lexikonartikel, die mitunter vor Materialfülle und Reflexionsdichte nur so strotzen. Sie erreichen oftmals den Umfang von Abhandlungen. Die von ihm besorgte Edition Die Kunst der Vermutung mit einer Auswahl von Texten des Nikolaus von Kues, 1957 als ein schönes Büchlein in der Sammlung Dieterich im Bremer Carl Schünemann Verlag erschienen, enthält eine sechzigseitige, eng gesetzte Einleitung! Schaut man sich Texte wie »Technik und Wahrheit« aus dem Jahr 1953 an oder die großen Beiträge für die Zeitschrift Studium Generale: »Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode« von 1952, »Kant und die Frage nach dem gnädigen Gott« von 1954, »Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen« von 1955, »Kosmos und System«, »Nachahmung der Natur« und »Licht als Metapher der Wahrheit« aus dem Jahr 1957, erscheinen sie im Rückblick wie die frühen Stenogramme späterer Werkthemen.

Blumenberg war äußerst gründlich in seinen Vorbereitungen. Seine Bücher benötigten einen langen Anlauf. Es wird angesichts der enormen Produktivität dieses Autors leicht übersehen, dass er die Hälfte seines Lebens zurückgelegt hatte, als 1965 die erste Monographie Die kopernikanische Wende erschien. Zwar handhabte er den Sonderdruck der Paradigmen zu einer Metaphorologie von 1960 wie eine eigenständige Veröffentlichung, aber im Jahr des Erscheinens hatte er sein viertes Lebensjahrzehnt bereits vollendet. Die späte Autorschaft Blumenbergs, wenn man für sie die Königsgattung der Monographie ansetzt, ist aber nicht nur eine Folge des für seine Bücher notwendigen Erarbeitungsvorlaufs. Sie ist auch Folge einer – wie mir scheint – erst mit den klassischen Werken errungenen Fähigkeit der Entfaltung langer Erzählbögen. Der stets aufmerksame Henning Ritter hat die »Geburt eines großen Erzählers«12 erst mit der Genesis der kopernikanischen Welt von 1975 angesetzt. Auf die frühen Aufsätze, so lehrreich sie auch sind, trifft eine Bemerkung zu, die Blumenberg über William Faulkner hat fallen lassen: Dessen Stil mache es dem Leser nicht leicht, »immer noch keucht das Wort unter der Last der Aussage, die ihm aufgebürdet wird«.13 Mir geht es hier nicht um Literaturkritik. Es gilt vielmehr zu verstehen, warum Blumenberg sein erstes großes Projekt der frühen Jahre misslungen ist: eine ›Geistesgeschichte der Technik‹ vorzulegen. Trotz aller Pläne und Vorhaben, Ankündigungen und Teilveröffentlichungen vermochte er es nicht, monographisch zu verdichten, was ihn über zwei Jahrzehnte umtrieb.

Schon Ernst Kapp hatte mit seinem 1877 erschienenen Werk Die Grundlinien einer Philosophie der Technik eben diese Disziplin begründet und dabei, wie es im Untertitel heißt, die Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten in den Blick genommen. 1953 hatte Heidegger seinen – wie Blumenberg spöttisch anmerkt: »schwerbegreiflicherweise berühmten Vortrag«14 – »Die Frage nach der Technik« gehalten. Ein Jahr später legte Friedrich Klemm sein Buch Technik. Eine Geschichte ihrer Probleme vor, in dem er aufzuzeigen unternahm, »wie sich die eine Epoche bestimmenden geistigen Kräfte auch auf die Technik auswirken und wie umgekehrt die Technik die Gesamtkultur beeinflußt«.15 Mit Klemms Studie, so Blumenberg, sei ein erster Versuch gemacht, »die so dringend notwendige Geistesgeschichte der Technik«16 zu schreiben. Doch während Arnold Gehlen 1957 mit Die Seele im technischen Zeitalter sein erfolgreichstes Buch vorlegte und mit prägnanten Thesen zur Entstehung und den Auswirkungen der modernen Technik gleichsam die intellektuelle Szene besetzte, suchte Blumenberg nach »ihrer Verwurzelung in der Geschichte des Geistes«,17 ohne seine Studien zur markanten These verdichten zu können.

Überblickt man die seinerzeit veröffentlichten und nun aus dem Nachlass gehobenen Schriften zur Technik, wie sie inzwischen gesammelt vorliegen,18 fällt die Mühe auf, sich mit dem Problem der Technik als dem »dunkelsten und dringlichsten der Zeit« auseinanderzusetzen, sei man doch »weit davon entfernt, die leitende Fragestellung auch nur annähernd formulieren zu können«.19 Blumenberg tat sich schwer, den rechten Zugriff nicht nur einzufordern, sondern auch zu finden. Dabei ist die Grundidee bestechend: Die Entstehung und das Wesen der Technik sind nicht technikintern aufzuweisen, sondern sie bedürfen einer Einbettung in eine Geistesgeschichte, die die Technisierung erst möglich und zugleich notwendig gemacht hat.

Worin lag das Problem? Worin die Faszination? Warum ist das Projekt gescheitert? Und welchen Trumpf hat Blumenberg vielleicht zu früh aus der Hand gegeben? Um auf diese Fragen mögliche Antworten zu geben, gilt es, einen Blick in die verschiedenen und ein wenig verstreut publizierten Überlegungen Blumenbergs zu werfen. Um eine höhere Konsistenz des von ihm Anvisierten zu erreichen, werde ich dabei die eine oder andere Lücke im Gedankengang durch Ausführungen aus seinen späteren Werken zu schließen suchen.20

Blumenbergs früheste Überlegungen standen noch unter dem Eindruck, Technik als drohendes Verhängnis erfahren zu haben. Dafür gab es zwei historische Anlässe. Am 6. August 1945 war über Hiroshima die erste Atombombe gezündet worden. Nicht nur für den 25-jährigen Jungakademiker ein epochaler Einschnitt, wie er ein Jahr später schreibt: »In dieser Situation nun vollzog sich etwas Einzigartiges in der Geschichte des Menschengeistes: im Kulminationspunkt der Entwicklung einer theoretischen Leistung schlug diese gleichsam um in reale Wirklichkeit von weltverwandelnder Macht. Hinter den undurchdringlichen Schleiern des Zweiten Weltkrieges und aus seinen unmittelbaren Antrieben heraus setzte sich die abstrakteste und diffizilste Denkleistung der Gegenwart, die theoretische Physik, um in die geballteste und gedrängteste Wirkkraft, in die universalste Gefährdung, die der Menschheit bisher entstanden ist und wohl überhaupt entstehen konnte.«21 Zum anderen hatte sich der Nationalsozialismus als ein technisch hochgerüsteter Faschismus ausgewiesen. Für Blumenberg war dessen schrecklicher Versuch, »die Selektion wiederum technisch verfügbar zu machen und durch ›Maßnahmen‹ Evolution zu erzeugen«, eben »nicht eine zufällige Aneignung eines bereitliegenden Gedankens«, offenbare er doch die ins Maßlose übersteigerte »innere Tendenz der neuzeitlichen Wissenschaftsidee«.22 Die moderne Technik hatte ihre schlimmste Fratze gezeigt, die Rede von ihrer »Dämonie« wurde landläufig. Blumenberg greift diese Kennzeichnung zwar auf, ohne ihr aber recht zu folgen, handelt es sich für ihn doch nicht um eine Dämonie des technischen Wirklichkeitszugriffs, sondern vielmehr um die »Dämonie seines Erzeugers«.23

 

Blumenberg ist daher diesen Vorbehalten gegenüber der modernen Technik nicht erlegen. Er setzte vielmehr zu ihrer grundsätzlichen Verteidigung an. Das muss nicht überraschen. Wie er es unternahm, aber schon. Denn seine Rechtfertigung der Technik als Signatur der Neuzeit führt in die Tiefen des späten Mittelalters hinab, zu subtilen Überlegungen über die Macht Gottes, und darüber hinaus weiter zu dem antiken Naturbegriff klassischer Prägung. Damit sucht er die Annahme zu korrigieren, Technik sei ursprünglich angewandte Naturwissenschaft. Diese Vorstellung, zuerst sei die moderne Naturwissenschaft ausgebildet worden, die dann technische Errungenschaften hervorgebracht habe, greift für ihn nicht tief genug: Denn »noch bevor die empirisch-mathematische Naturwissenschaft das Rüstzeug der Konstruktion zur Verfügung stellen konnte, war der eigentlich ›technische‹ Wille da, der sich selbst zum Prinzip einer ganz dem Geist entspringenden Wirklichkeit setzt, weil er nicht mehr auf ein von Gott dem Menschen überlassenes dominium« – also einer Herrschaft – »über die Welt vertraut. So gehört der technische Wille viel mehr zu den Antrieben der neuen Naturforschung als zu ihren Wirkungen24 Die moderne Technik sei zwar durchaus eine Anwendung der modernen Naturerkenntnis, »aber daß es zu solcher dynamischen Transposition der Erkenntnis ins Reale kommt, hat seinen hinreichenden Grund nicht in diesem inneren Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Technik selbst, sondern in der Konsequenz jenes Verständnisses der Stellung der Existenz in der Natur. Für die Entstehung der spezifischen modernen Wirtschaftsform ist man diesen Zusammenhängen intensiv nachgegangen; für die Technik fehlt es noch an einer Analyse des geistesgeschichtlichen Hintergrundes ihrer Ursprünge.«25 Mit dem Verweis auf den nicht namentlich genannten Max Weber und dessen legendäre These von der protestantischen Ethik als dem Geist des Kapitalismus ist die Messlatte denkbar hoch gelegt.

Die Entfaltung eines anzunehmenden geistesgeschichtlichen Hintergrundes jenseits der unmittelbaren Technikgeschichte machte aber für Blumenbergs Projekt eine grundsätzliche Korrektur notwendig: Zunächst hatte er noch, von Arnold Gehlen inspiriert, auf eine anthropologisch fundierte Antithese von Natur und Technik gesetzt. Zu den Grundannahmen der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert gehört die Behauptung, der Mensch sei ein von der Natur unversorgtes Mängelwesen. So spricht Gehlen von der »Unspezialisiertheit und Unangepasstheit des Menschen an eine natürliche Umwelt«, die seinen »Charakter als ›Mängelwesen‹«26 bestimme. Kultur und Technik erscheinen demnach als Kompensationsleistungen, die ein Überleben sichern, wo die natürliche Einpassung fehlt. »Das Kunststück eines so riskierten Wesens, sich am Leben zu erhalten«, führt Gehlen aus, »kann in der elementaren Schicht nur in einer Überbietung und Kompensation seiner Mängelausstattung bestehen, und wo wir früheste Kulturen ausgraben, finden wir denn auch die lebensnotwendigen Werkzeuge, die Faustkeile, Feuersteinmesser, Lanzenspitzen, stets in verlorengegangenen Techniken hergestellt, die Feuerspuren usw.«27 Blumenberg pflichtet Gehlen zunächst bei, indem er die Konstanz der Technik als ein die Geschichte des Menschen begleitendes Kompensationsmittel bestätigt: Als ein Wesen, »dem seine Existenz nicht durch organische Anpassung an die natürliche Umwelt geleistet ist, das daher in den Daseinsmodus der Selbstbehauptung und Selbstproduktion seiner Lebensbedingungen hineingezwungen ist, bringt der Mensch die Technik als Antwort auf seine spezifische Seinsproblematik hervor«.28 Doch bald schon wird ihm die anfangs »ganz selbstverständlich«29 aufgenommene anthropologische Antithese von Natur und Technik fraglich. Ihn interessiert zunehmend, inwiefern und warum die Technik als ein »konstitutives Element der Neuzeit«30 begriffen werden muss. Er fragt also nicht länger vorrangig anthropologisch nach den Defiziten, die durch Technik kompensiert worden sind, sondern er wendet sein Augenmerk der Geschichte der Technik zu. Und für diese Geschichte gibt es einen überraschenden Befund: Sie stellt sich nicht als eine allmähliche, ihren Ausgang bei den Anfängen der Menschheit nehmende und kontinuierlich sich steigernde Fortschrittsgeschichte dar. Vielmehr soll ein signifikanter Wandel zu verzeichnen sein, der erst die Epoche der Neuzeit, nach langen Menschheitsphasen der technischen Stagnation, zu einem Zeitalter der Technik hat werden lassen. Diesen Einschnitt angemessen zu rekonstruieren, ist eine Geistesgeschichte der Technik angetreten.

Es tut hier nichts zur Sache, dass uns auch Gehlen auf diese Frage eine Antwort angeboten hat, soll sich doch in der Moderne eine originäre ›Superstruktur‹ aus Naturwissenschaft, Kapital und Technik herausgebildet haben. Aber Blumenberg setzt grundsätzlicher an, indem er zunächst Gehlens anthropologischen Basissatz infrage stellt, der Mensch sei ein Mängelwesen. Für eine sich geschichtlich vergewissernde Anthropologie sei diese Annahme nicht universalisierbar, sei diese anthropologische Selbsteinschätzung doch über die längste Zeit der abendländischen Geschichte nicht zustimmungsfähig gewesen: »Die Menschheit hat zu allen Zeiten die Not einer bedrängenden Natur und den Mangel gekannt, aber die Verallgemeinerung solcher Erfahrungen als Bewertung der Gesamtwirklichkeit hat zusätzliche Voraussetzungen, die mit jenen Erfahrungen nicht schon selbst gegeben sind.«31 Nachdrücklich weist Blumenberg darauf hin, der Mensch habe sich sehr wohl – vornehmlich in christlich-stoischer Lesart – als das von der Natur versorgte Wesen verstanden, und das über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende hinweg. Der stoische Begriff der pronoia, der Vorsehung, ist der prominenteste Ausdruck einer teleologisch verfassten Welt, die um unseretwillen geschaffen worden sein soll: mundus propter nos conditus – so wird es noch Kopernikus als Grundlegung seines Wirklichkeitsverständnisses formulieren.32

Zwar gab es auch in einer Welt, die als auf den Menschen ausgerichtet verstanden wurde, das Phänomen des Mangels, ohne dass aber daraus ein denkerisch nicht zu bewältigendes Problem erwachsen wäre. Zwei Erklärungen lassen sich auf Anhieb nennen, die in einer für den Menschen geschaffenen Welt Mängel verständlich gemacht haben: Zum einen die christliche Lehre vom Sündenfall, die dem Mangel als nachparadiesisch auferlegter Strafe moralische Legitimität verliehen hat, haben wir doch demnach verdientermaßen unsere Existenz im Schweiße unseres Angesichts zu sichern. Zum anderen erscheint der Mangel lediglich als das Resultat des unbewältigten Problems der unzureichenden Verteilung des von Natur aus Ausreichenden.

Diese historische Korrektur vereitelt nicht die Möglichkeit, die Technik als ein anthropologisches Merkmal ersten Ranges und als eine Kompensationsleistung zu begreifen. Aber ohne eine geistesgeschichtliche Vergewisserung muss nach Blumenberg unklar bleiben, wie und warum es erst in der Neuzeit zu einer ungeahnten Evolution technischer Möglichkeiten gekommen ist: »Der Mensch ist, biologisch betrachtet, als ein mangelhaft ausgerüstetes und angepaßtes Wesen auf die Bühne der Welt getreten und hat von Anfang an Hilfsmittel, Werkzeuge und technische Verfahren zu seiner Selbstbehauptung und zur Sicherung seiner Bedürfnisse entwickeln müssen. Aber dieses Instrumentarium der Selbsterhaltung ist über lange Zeiträume und im Spielraum minimaler Varianten stabil geblieben …«33 Erst mit der Neuzeit ist ein signifikanter Anstieg von Innovationen zu verzeichnen, der die Einschätzung zu belegen hilft, diese Epoche sei nicht allein ein Zeitalter, das über Techniken verfügt, sondern ein technisches Zeitalter. Um den Siegeszug der modernen Technik, und noch grundlegender: um überhaupt das Auftreten der Technik im modernen Umfang verständlich machen zu können, reicht daher eine immanente Geschichte der Technik als Chronologie ihrer Erfindungen und Erfolge nicht aus. Was Technik ist, lässt sich eben nicht allein durch einen Blick auf die Technik klären. Vielmehr gilt es zu bestimmen, »aus welchen Antrieben die Organisation einer neuen Realität hervorgegangen ist«.34

Der Wille zur technischen Bewältigung der Wirklichkeit in großem Maßstab ist keineswegs selbstverständlich, er lässt sich nicht zureichend aus anthropologischen Grundannahmen ableiten und stellt keine geistesgeschichtliche Konstante dar. Blumenberg erinnert an vergessene Vorbehalte gegen technische Eingriffe in die Welt als Landschaft: Für Aischylos und Herodot war die Überbrückung des Hellespont ein Frevel.35 Das Ideal der unverletzten Erde, der inviolata terra, machte selbst den Bergbau begründungsbedürftig.36 Diese Beispiele illustrieren, dass Technik nicht als eine unproblematische Fortsetzung der Natur mit anderen Mitteln verstanden wurde, sondern als eine durchaus fragwürdige Korrektur am Bestehenden. Erst der technische Eingriff, und sei es die in die Landschaft eingepasste Überbrückung eines Flusses, macht einen Mangel offenbar, mehr noch: formuliert ihn und bringt ihn somit zu jener Ausdrücklichkeit, die seine Behebung legitim erscheinen lassen soll. Die Anwendung von Technik setzt somit implizite Werturteile über das als wirklich Erfahrene voraus. Erst die technischen Hilfsmittel machen die Defizite des Wirklichen aus der Sicht des Menschen anschaulich. Unter christlichen Vorzeichen wäre eine gravierende technische Verbesserung der Welt sogar einem Schöpfungstadel gleichgekommen. Im Paradies dagegen gab es keine technischen Erfindungen, da sie zu nichts hätten gut sein können.

Die Geschichte der Technik besteht daher keineswegs aus einer Abfolge voraussetzungsloser und zufälliger Erfindungen, auf die man gekommen ist, wie der Bauer bei Aristoteles den verborgenen Schatz im Acker beim Pflügen findet. Erst ein veränderter Bezug zur Wirklichkeit hat technische Innovationen möglich und durchsetzungsfähig gemacht. Erst die Auflösung von Denkblockaden eröffnete den Spielraum für die jeweiligen Erfindungen. Eine Geistesgeschichte der Technik ist daher vornehmlich an den Bedingungen der Möglichkeit technischer Errungenschaften interessiert, weniger an den Erfindungen selbst.

Darüber hinaus wäre eine Geschichte der nicht gemachten Erfindungen möglich und durchaus im Aufmerksamkeitsradius einer Geistesgeschichte der Technik. Sie hätte durch Weltbildrekonstruktionen aufzuweisen, warum bestimmte Entdeckungen zu bestimmten Zeiten nicht möglich waren. Ein prägnantes Beispiel hierfür sind optische Linsen. Es ist davon auszugehen, dass seit der Antike der die Optik verändernde Einfluss von Glasscheiben bekannt gewesen ist. Aber erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat man begonnen, Linsen so zu schleifen, dass die bekannten optischen Effekte der Vergrößerung und somit der Steigerung der Sichtbarkeit eintreten. Blumenberg verweist darauf, dass diese Erfindung in der Antike deshalb nicht zu erwarten war, weil das Wirklichkeitsparadigma einer vollständigen Sichtbarkeit alles Wirklichen dies vereitelte: »Daß es in der Welt für den Menschen nicht nur zeitweise und vorläufig, sondern seiner natürlichen Ausstattung definitiv Entzogenes und Unsichtbares geben könnte, war eine der Antike wie dem Mittelalter unbekannte, unter bestimmten metaphysischen Voraussetzungen auch unvollziehbare Unterstellung.«37 Das mit bloßem Auge zu verfolgende Auftreten von neuen Sternen am Himmel ließ zu Zeiten Keplers diese Vollständigkeitsannahme brüchig werden und stellte das Sichtbarkeitspostulat infrage: 1572 war im Sternbild der Kassiopeia ein neuer Stern aufgetaucht, der 1574 wieder verschwand; 1604 erschien im Sternbild des Ophiuchus – des Schlangenträgers – neben Saturn, Jupiter und Mars, ein vierter, sehr heller Stern. Für Johannes Kepler war das Auftauchen dieses neuen Sterns im Jahr 1604 »nit ein gemein ding … sondern ein grosses wunder«,38 da es den tradierten Kenntnisstand, den Hipparch, Ptolemäus und alle nachfolgenden Astronomen besaßen, signifikant erweiterte. Mit dem Verdacht, es sei vielleicht nicht alles Wirkliche auch prinzipiell sichtbar, entstand erst jener Bedarf an technischer Abhilfe, auf den Galilei mit dem Fernrohr reagieren sollte. Beim Anblick des Sternbildes des Orion durch das Fernrohr ist er »überwältigt« (obrutus) von der »ungeheuren Menge« (ingens frequentia) an Sternen, er schätzt sie auf mehr als fünfhundert.39

 

Eine Geistesgeschichte der Technik hat sich an diesen Änderungen der Hintergrundannahmen zu orientieren, die einen Bruch mit der Tradition und eine Antizipation neuer Techniken überhaupt erst haben plausibel werden lassen. »Ob und wie aus einem bestimmten neuen Verständnis der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen innerhalb dieser Wirklichkeit technischer Wille entsteht, wird Thema einer Geistesgeschichte der Technik sein müssen, die nicht nur Selbstdeutungen der technischen Tätigkeit und Urheberschaft sammelt und registriert, sondern die Motivationen eines auf Technik zielenden und von Technik getragenen Lebensstils faßbar werden läßt.«40 Erst eine philosophische Interpretation der Geschichte der Technik vermag jene Veränderungen des Wirklichkeitsverhältnisses freizulegen, welche den Willen zur Technik aus seiner Latenz gerissen hat und zu einem Signum der Neuzeit hat werden lassen.

Das führt zu einer Grundannahme, die bis in die Antike zurückreicht. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen gehört für Blumenberg die Überwindung des antiken Paradigmas, Technik sei lediglich eine Nachahmung der Natur und die angewandte Wissenschaft somit eine Fortsetzung der Natur mit anderen Mitteln.41 Das antike Denken habe dem Menschen keine kreative Schöpfungskraft zugeschrieben. Dabei konnte ihm durchaus die Rolle des Vollstreckers zufallen, nicht aber die des naturunabhängigen Erfinders. Die »Kunstfertigkeit« des Menschen, heißt es in der Physik des Aristoteles, »bringt teils zur Vollendung, was die Natur nicht zu Ende bringen kann, teils eifert sie ihr nach«.42 Sollte das von Natur aus auf Entwicklung Angelegte mitunter durch ungünstige Umstände in seiner Verwirklichung behindert werden, kann der Mensch helfend einspringen. Jeder Gärtner, der bei Trockenheit die Aussaat mit Wasser versorgt, ist ein Vollender einer gefährdeten Teleologie. Technische Neuerungen dagegen, die nicht durch die Natur schon auf Verwirklichung angelegt sind, kann es nach diesem Paradigma des Vollendens und Nacheiferns nicht geben. Wenn wir Häuser bauen, führt Aristoteles aus, tun wir das so, wie die Natur es tun würde, wenn sie Häuser wachsen ließe.43 Der Innovationsradius technischer Anwendungen ist somit stark begrenzt. Technik ahmt nach, ist imitatio, mehr nicht, wie Blumenberg resümiert: »Was die Welt im ganzen ist und sein kann, als Kosmos, das ist schon immer und ein für allemal determiniert; also ist auch das Vollenden des Unvollendeten nur Mimesis, und die menschliche ›Technik‹ springt für die Natur nur ein.«44

Auf ein Detail kommt es hier besonders an. Alles wirklich Gewordene ist die Realisierung dessen, worauf es kraft seiner Möglichkeit angelegt ist: Im Samenkorn ist die Pflanze als Potenz enthalten, aber noch nicht entfaltet. Die Verwirklichung des Möglichen ist ein festgelegter Ablauf, denn aus dem Samen einer Sonnenblume kann kein Kaktus erwachsen. Die Welt ist nun nach Aristoteles eine prinzipiell ausgeschöpfte Realisierung aller wesentlichen Möglichkeiten.45 Wenn er in der Metaphysik ausführt, es könne »offenbar nicht wahr sein, wenn man sagt, das und das sei zwar möglich, aber es werde nicht eintreten«,46 ist damit nicht gemeint, jede individuelle Möglichkeit müsse realisiert werden: Es hat nicht aus jedem Samen einer Sonnenblume eine solche zu erwachsen, es gibt vielfältige Gründe, wie etwa Trockenheit, die das verhindern können. Aber das Ausfallen individueller Verwirklichungen stellt noch nicht infrage, dass es in der Welt überhaupt Sonnenblumen als Glied der gestuften Seinsordnung gibt. Anders gesagt: Die Welt ist im Wesentlichen vollständig. Ihr fehlt es an nichts. Damit aber sind dem Spielraum des Menschen für Neuschöpfungen enge Grenzen gezogen. Er kann nichts Neues, von der Natur nicht auf Verwirklichung Angelegtes erfinden. »Der Anblick der Natur entmutigt, weil sie so aussieht, als könne sie nicht anders sein, und weil ihr Reichtum suggeriert, es könne außer ihr nichts geben.«47 Technik – darauf kommt es an – wird sich als das erweisen müssen, was möglich ist, obwohl es die Natur gibt.

Der Gedanke, die Natur könne auch anders und vielleicht in ihren Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sein, wurde erst unter christlichen Vorzeichen im Spätmittelalter möglich. Der antike Gott, wie ihn Aristoteles gedacht hatte, war metapyhsisch gezähmt. Er besaß keinen Willen, mit dem er in die Welt einzugreifen geneigt war, sondern stellte den Inbegriff einer mit sich selbst beschäftigten Vernunft dar. Und Platon überließ einem Demiurgen die Schaffung der Welt, der dabei freilich nicht frei war, sondern nachahmend auf die ewigen Ideen als Vorbilder zu schauen hatte. Einige Theologen des 14. Jahrhunderts dagegen nahmen die Auskunft des apostolischen Glaubensbekenntnisses beim Wort, Christen glaubten an einen allmächtigen Gott. Das sagte sich leicht, war aber schwer zu verstehen. Was das heißen sollte, wurde nun spekulativ durchdekliniert. Vielleicht, so der erregende Gedanke, hätte Gott mit seiner unbeschränkten Macht die Welt auch anders schaffen können. Oder in dieser Welt noch anderes. Noch Descartes hat erwogen, mit welchen Möglichkeiten angesichts eines allmächtigen Gottes zu rechnen ist: »Aber was wissen wir von dem, was Gott außerhalb dieser Erde in den Sternen etwa hervorgebracht hat? Wissen wir, ob er nicht noch anderen Geschöpfen ganz verschiedener Art, anderen Lebewesen, ja geradezu Menschen oder dem Menschen wenigstens ähnlichen Wesen dort einen Platz zugewiesen hat? Vielleicht können dort körperlose Seelen oder andere Geschöpfe leben, deren Natur uns entgeht.«48 Das Mögliche hatte gegenüber dem Faktischen an Reiz gewonnen.

Die Welt schien mit einem Mal zu klein geworden zu sein und zu eng, ihre Möglichkeiten schienen nicht ausgeschöpft. Für die Emphase des Aufbruchs aus dieser neu entdeckten Begrenztheit gibt es einen eindrucksvollen Beleg, den auch Blumenberg heranzieht. Er stammt von Marcellus Palingenius Stellatus, ein Pseudonym, hinter dem sich wahrscheinlich Pier Angelo Manzolli verbirgt, ein Autor des 16. Jahrhunderts. Palingenius ist der Verfasser des theologisch-kosmologischen Lehrgedichtes Zodiacus vitae, das 1534 in Venedig gedruckt und 1560 sowie 1565 in einer englischen Übersetzung von Barnabe Googe erschienen ist. Allein im 16. Jahrhundert brachte es dieses Buch auf etwa dreißig Ausgaben. Die aristotelisch-christliche Welt war limitiert gewesen, in ihrem Aufbau überschaubar, wohlgeordnet und abgeschlossen. Ihre angenommene Ausdehnung – im Raum wie in der Zeit – mochte für das einzelne Menschenleben groß erscheinen, noch aber war die Möglichkeit einer heilsgeschichtlichen Zentralstellung des Menschen in ihr nicht gefährdet. Die Welt war endlich, da es – außer im Wesen Gottes – keiner Unendlichkeit bedurfte. Palingenius aber stellte in seinem Lehrgedicht die elektrisierende Frage, die die Beschränkung der weltschaffenden Kreativität Gottes zur Aporie werden ließ: »Why hath not God created more?«49

Damit war die in sich ruhende Statik einer sich selbst genügenden Welt, die allein vom Absoluten überboten werden konnte, infrage gestellt. Und wenn Gott weniger geschaffen haben sollte, als er vermochte, und somit die Möglichkeiten einer zu entgrenzenden Welt vielleicht nicht ausgeschöpft hat, obliegt es dann nicht dem Menschen, Neues zu schaffen? Technik im modernen Sinne ist die Nutzung des nun entdeckten Freiraums, mehr und anderes hervorbringen zu können, als die Welt von sich aus bietet.

Man könnte nun vermuten, der Siegeszug moderner Technik habe sich in einer gradlinigen Entwicklungsgeschichte entfaltet und gründe in einem Akt der Hybris, bei dem der Mensch die Stelle Gottes eingenommen habe. Hat sich nicht der Mensch zum Schöpfer aufgeschwungen und zu einem zweiten Gott – zu einem alter deus – gemacht, der sich eine neue Welt, eine Welt der Technik erschafft? Gegenüber den prometheischen Selbstverherrlichungen heutiger technischer Spitzenleistungen nehmen sich die Anfänge bescheiden aus. »Der Mut, die ›Erfindung‹ als etwas aufzufassen, was nicht irgendwie ›vorgefunden‹ wird, ist ein ganz später, nur zaghaft gewagter Schritt der Geschichte menschlicher Selbstdeutung.«50 Einen solchen ersten, verhaltenen Schritt macht Blumenberg an Nikolaus von Kues aus, der in seiner Schrift Idiota de mente einen Laien – den idiota – einführt. Dessen handwerkliche Fertigkeit, in klare Opposition zu den scholastischen Gelehrten gestellt, bringt durch das Schnitzen einen Löffel hervor, also einen Gegenstand, der nicht durch imitatio der Natur, sondern eben durch inventio in die Welt gekommen ist. »Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild«, führt der Laie bei Cusanus aus, und er »ahme … nicht die Gestalt irgendeines Naturdinges nach«.51 So bescheiden das Resultat des Löffels anmuten mag, er ist eine technische Erfindung, welche die Welt des Menschen jenseits natürlicher Vorgaben zu bereichern vermag. Dennoch bemerkt Blumenberg an Cusanus die Tendenz, den löffelschnitzenden Laien als Demutsfigur auftreten zu lassen, der gegen den Hochmut der Gelehrten eingeführt wird. »Die neu gesehene Würde seiner erfinderischen Arbeit dient der Heraushebung einer Haltung, einer im mittelalterlichen Sozialsystem mißachteten Lebensform, und nicht der neuen Begründung des Ursprungs technischer Gebilde als solcher. Damit wird verständlich, daß dieses Zeugnis des Cusaners im 15. Jahrhundert einsam und zunächst wirkungslos bleibt.«52

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