Feenders

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4 – Der schreiende Punkt

Rheidersum, im Frühjahr 1936

»Lilli?« Georg Feenders, dieser kleine drahtige Kerl, hatte sich vor seiner großen Schwester aufgebaut. »Wo bist du denn gerade mit deinen Gedanken?«

»Weit weg!«, antwortete Elisabeth. »Ich habe ein Problem!«

»Und welches?«

»Dabei kannst du mir sowieso nicht helfen mit deinen acht Jahren!«

»Wenn du es mir nicht sagst, bestimmt nicht!«

»Du hast ’ne Art, einen auszufragen. Aber wenigstens bist du nicht neugierig.«

Georg grinste. »Erzähl schon!«

»Ich würde so gerne mit der NS-Frauenschaft zum Reichserntedankfest auf dem Bückeberg fahren! Alwine Oltmanns war letztes Jahr schon da und hat mir davon vorgeschwärmt.«

»Wo ist denn das? Und wann?«

»Das findet in der Nähe von Hameln statt, am 4. Oktober.«

»Da hast du ja noch ’n büschen Zeit.«

»Das schon, aber ich habe mal bei Mama vorgefühlt und die war nicht gerade begeistert! Da wird Papa bestimmt ablehnen.«

»Was bekomme ich, wenn ich dir ’nen todsicheren Tipp gebe?«

»Georg!«

»Lass hören, Schwesterherz!« Georg grinste schon wieder.

»Na gut, eine Tafel Schokolade.«

»Abgemacht! Also, du erklärst unseren Eltern, dass du unbedingt zur Olympiade nach Berlin möchtest. Die ist im August.«

»Was soll das denn? Das will ich gar nicht. Außerdem, in die Großstadt lassen sie mich garantiert nicht.«

»Bist du heute schwer von Begriff. Du sollst doch nur so tun!«

»Und wozu?«

»Na, du gehst ihnen ordentlich auf den Wecker damit. Du erklärst ihnen, dass deine Glückseligkeit davon abhinge! Und wenn sie so richtig genervt sind, sagst du schließlich, du würdest dich notfalls auch mit dem Reichserntedankfest zufriedengeben, obwohl das ja kein vollwertiger Ersatz sei. Sollst mal sehn, wie sie dir dann zustimmen.«

»Georg, du bist vielleicht ein Schlitzohr!«

Das freche Lausbubengrinsen ihres kleinen Bruders wurde noch breiter und er sagte ganz trocken: »Tja, man kann ruhig dumm sein, man muss sich nur zu helfen wissen. Denk an die Schokolade!«

Elisabeth fuhr zum Reichserntedankfest. Das Borromäus-Hospital3, in dem sie seit einiger Zeit als Lernschwester arbeitete, hatte ihr außer der Reihe und ausnahmsweise freigegeben. Am besagten Tag wanderte sie mit ihrer Nachbarin in aller Herrgottsfrühe zum Bahnhof in Leer.

Zwei Tage später, gegen Abend, kehrte sie todmüde, aber sehr vergnügt zurück.

»Und?«, fragte Georg. »Wie war’s?«

»Fantastisch!«

»Ja, nun erzähl schon!«

»Also, einen durchgehenden Zug gab es nicht. Wäre ja auch zu schön gewesen. Oldenburg, Hannover, dort haben wir schnell etwas gegessen. Endlich kamen wir in Hameln an. Dieser letzte Zug war brechend voll. Zuerst sind wir in die Innenstadt gegangen. So schöne Fachwerkhäuser hab ich überhaupt noch nicht gesehen. Einfach toll. Und alles geschmückt mit Fahnen, Girlanden und Birkenzweigen. Nun wollten wir Kaffee und Kuchen haben, aber alle Cafés waren …«

»… brechend voll!«, unterbrach Georg sie.

»Schlauberger! Schließlich fanden wir einen Platz. Wir hatten unseren Kuchen gerade mal halb auf, da kam der Kellner schon wieder und sagte zu uns, wir möchten jetzt bitte gehen, andere deutsche Volksgenossen wollten sich auch noch stärken. Wir haben dort nicht einmal eine Viertelstunde sitzen können! Egal. Wir also wieder zum Bahnhof und rein in den nächsten Sonderzug, der uns zum Festgelände brachte. Man hatte dort extra eine kleine Station gebaut. Die hatte so einen komischen Namen, Tündernscher Bahnhof. Danach mussten wir noch ein ziemliches Stück laufen, bis wir endlich zum Bückeberg kamen. Ein Fesselballon zeigte uns den Weg in dem Gewühl. Solche Menschenmassen hast du noch nicht gesehen. Dort traten Trachtengruppen und Musikkorps der SA und Wehrmacht auf. Das wollte ich einfach mal erlebt haben. Es war wundervoll!«

»Und?«, fragte Georg gespannt. »Hast du unseren Führer gesehen?«

»Den Adolf?« Lilli lachte. »Ja, den habe ich gesehen. Oder besser gesagt gehört. Das war nämlich der kleine schreiende Punkt in der Ferne!«

Alle aus der Familie hörten sich gerne Lillis Erlebnisse an. Nur Theodor Strodthoff wechselte mit seiner Nichte kein einziges Wort darüber. Ihr Onkel ging ihr in den folgenden Tagen geradezu aus dem Weg. Der überzeugte Sozialdemokrat hatte schon vor Zeiten in seinem nunmehr stummen Protest im Kontor ein Porträt von Otto Wels angebracht. Onkel Theo hatte ihr einmal vom früheren Vorsitzenden der SPD erzählt. Dieser hatte in seiner letzten freien Rede im Deutschen Reichstag gesagt, man könne ihnen Freiheit und Leben nehmen, die Ehre aber nicht. Nach dem Ausschluss der KPD aus dem Parlament hatte nur noch die SPD gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt. Es reichte nicht mehr, die Nationalsozialisten von der uneingeschränkten Macht fernzuhalten.

Elisabeth war ein wenig unglücklich über das Verhalten ihres Onkels. Sie wagte es aber nicht, ihn darauf anzusprechen. Sicher, im Umerziehungslager hatten sie ihn schrecklich gequält. Andererseits, hatte sie nun irgendetwas Schlimmes getan, weil sie zu diesem größten Fest der nationalsozialistischen Bewegung gefahren war? Sie hatte doch nur ihren Spaß haben und diese gewaltige Veranstaltung einmal selbst erleben wollen, von der ihr schon mehrfach vorgeschwärmt worden war. Und es war auch wirklich beeindruckend, so viele begeisterte Menschen, so viele schöne Darbietungen.

Nur eines hatte ihr zu denken gegeben auf dieser imposanten Kundgebung. Das war die Vorführung der Wehrmacht. Die Truppen eroberten ein Dorf, das daraufhin in Flammen aufging. Natürlich waren es Theaterkulissen, die dort zerstört wurden. Unwillkürlich hatte sie bei diesem Anblick wieder an Onkel Theos Worte denken müssen. Wie hatte er gesagt? Hitler will Land im Osten gewinnen, weil wir angeblich ein Volk ohne Raum seien. Weißt du, was das in letzter Konsequenz bedeutet? Krieg – das gibt den nächsten Krieg!

Ihrer Familie hatte sie von dieser Inszenierung militärischer Gewalt nichts erzählt. Ihr war es wie ein Menetekel erschienen.

Elisabeth fand keinen gedanklichen Schluss zu den Eindrücken dieses Festes, die sich letztlich als zwiespältig erwiesen. Ein Jahr später fuhr sie nicht mehr zum Reichserntedankfest, dem letzten, das die Nationalsozialisten am Bückeberg bei Hameln veranstalteten.

3 Späteres Marinehospital beziehungsweise Marinelazarett. Nach dem Krieg wieder in Borromäus-Hospital umbenannt.

5 – Was geschah in der Pfännergasse?

Nachdem die Nationalsozialisten im März 1933 in Deutschland endgültig die Macht übernommen hatten, setzten sie sehr bald alles daran, sich diese auch in Österreich anzueignen, dem Heimatland Hitlers. Ihre intensive Untergrundarbeit gipfelte am 25. Juli 1934 zunächst im sogenannten Juliputsch. Etwa einhundertfünfzig illegale Nationalsozialisten, getarnt als Offiziere und Soldaten des Bundesheeres, überrumpelten die Wache des Kanzleramtes in Wien. Bei dem nachfolgenden Handgemenge wurde Bundeskanzler Dollfuß von zwei Kugeln zweier Putschisten tödlich getroffen. Das österreichische Bundesheer lief keineswegs zu den Aufrührern über, sondern schlug den zeitgleich an mehreren Orten losgebrochenen Aufstand blutig nieder. Es folgten weitere Jahre der NS-Untergrundarbeit. Am 12. Februar 1938 zitierte Hitler den amtierenden Bundeskanzler Österreichs, Kurt Schuschnigg, zu sich nach Berchtesgaden. In einem zweistündigen Gespräch setzte Hitler den österreichischen Kanzler derart unter Druck, dass dieser der Berufung von Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister und der Legalisierung der österreichischen Nationalsozialisten zustimmte. Am 9. März kündigte Schuschnigg für den 13. März überraschend eine Volksabstimmung über die weitere Unabhängigkeit Österreichs an. Diese wollte er mittels restriktiver Teilnahmevoraussetzungen zu seinen Gunsten entscheiden. Hitler setzte Schuschnigg erneut unter Druck. Unter der Drohung eines Einmarsches deutscher Truppen erklärte der österreichische Kanzler am 11. März seinen Rücktritt und benannte den bisherigen Innenminister Arthur Seyß-Inquart zu seinem Nachfolger. Der Diktator, dem seine Versprechen zu keiner Zeit etwas bedeuteten, gab in der Frühe des 12. März 1938 der 8. Armee den Befehl, Österreich zu besetzen. Die deutschen Truppen wurden allenthalben bejubelt und mit offenen Armen empfangen. Es gab keinerlei Gegenwehr. Die wenigen Gegner der Nationalsozialisten verhielten sich stumm, denn offener Widerstand wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Als »Blumenfeldzug« ging die Besetzung Österreichs in die Geschichte ein und wurde verharmlosend als »Anschluss an das Deutsche Reich« bezeichnet.

*

Linz, Österreich, Sonntag, 13. März 1938 am Vormittag

Matthias Holiczek, der elfjährige Bub, war unterwegs zu seinem Freund, dem um ein Jahr jüngeren Stefan Holzner. Die Ereignisse des gestrigen Samstags gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Schule? Ach wo! Schon am Vormittag waren deutsche Militärfahrzeuge in Linz eingetroffen. Spähpanzer vorneweg, danach voll besetzte Mannschaftswagen und schwere Zugmaschinen mit angehängten Kanonen. Aber wie ein Krieg – den kannte er nur aus den Erzählungen seines Vaters, der mit seinen Kameraden wieder und wieder die Italiener an der Isonzo­front zurückgeschlagen hatte – war ihm das wahrlich nicht vorgekommen. Kaum standen die Fahrzeuge auf dem Hauptplatz, da waren sie schon von begeisterten Menschen umringt gewesen. Blumensträuße wurden den Soldaten überreicht, manchmal gleich in die Läufe der Gewehre und Kanonen gesteckt. Lachende deutsche Soldaten, lachende Österreicher – es ging zu wie auf dem Kirtag4. Eigentlich konnte man die Piefkes ja nicht so recht leiden, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr.

 

Matthias und Stefan waren den ganzen Tag auf dem Hauptplatz geblieben und auf den Militärfahrzeugen herumgeklettert, bis ein energischer Feldwebel sie heruntergescheucht hatte: »Des is koa Spuizeug, machts, dass ihr ’nunterkummt, bevor’s an Unglück gibt!« Ein Bayer, na ja.

Der größere Teil der Kolonne hatte sich bald wieder in Bewegung gesetzt, weiter ins Landesinnere. Stefan stieß den ­Matthias auf einmal an: »Host g’hert? Der Führer kummt!«

Es war die Sensation des Tages. Blitzschnell sprach es sich herum. Aber wann er kommen sollte, das konnte keiner sagen. Nachdem beim Überschreiten der Grenze durch die ersten deutschen Truppen kein Schuss gefallen war, das österreichische Bundesheer sich nicht blicken ließ und allenthalben nur Begeisterung herrschte, hatte Hitler sich spontan entschlossen, über Braunau am Inn, seinen Geburtsort, nach Linz zu fahren, in die Stadt seiner Jugendjahre. Immer wieder wurde die Wagenkolonne von seinen jubelnden Landsleuten aufgehalten, sodass er Linz erst am Abend erreichte.

Gegen neunzehn Uhr trat Hitler auf den Balkon des Rathauses am Hauptplatz, um seine Rede zu halten, nachdem er von Arthur Seyß-Inquart und August Eigruber, dem gerade ernannten Gauleiter von Oberösterreich begrüßt worden war: »Ich danke Ihnen für Ihre Begrüßungsworte. Ich danke aber vor allem euch, die ihr hier angetreten seid und die ihr Zeugnis ablegt dafür, dass es nicht der Wunsch und der Wille einiger weniger ist, dieses große volksdeutsche Reich zu begründen, sondern dass es der Wunsch und der Wille des deutschen Volkes selbst ist …«

Immer wieder wurde Hitler durch lang anhaltenden Jubel, Applaus und das Skandieren von Beifallsrufen unterbrochen, bis seine Rede schließlich in einem geradezu religiösen Bekenntnis geendet hatte:

»… für unseres Reiches Macht, für seine Größe und für seine Herrlichkeit, jetzt und immer – Deutschland, Sieg Heil!«

Heute gab es kein anderes Thema. Der Führer weilte noch in Linz! Matthias Holiczek hatte mittlerweile die Wohnung seines Freundes erreicht: »Du, kummst mit? Hab g’hert, der Führer isst im Hotel Weinzinger zu Mittag. Da können wir ihn noch mal sehen und vielleicht sogar mit ihm sprechen!«

Außer Atem trafen die beiden Buben nach einiger Zeit vor dem Hotel ein, nachdem sie sich durch Hunderte wartender Menschen bis zum Eingang vorgedrängt hatten.

Aber dort war eine Wache aufgezogen, die niemanden hineinließ.

»Könn’ wir bittschön den Herrn Führer noch oamal sehn?«

Der Wachposten, ein bayrischer SS-Mann, wehrte sie lachend ab: »Schauts, Buben, seids vernünftig. Der Führer muss amal in Ruhe essen kenna. Außerdem hat er mit einigen wichtigen Herren etwas zu besprechen. Da könnts ihr net stören. Gehts halt hoam, eure Mütter warten b’stimmt scho!«

Wie zwei begossene Pudel schlichen die beiden nach Hause, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Zu betroffen waren die beiden. Bis – ja, bis sie die Pfännergasse erreichten. Ein Menschenauflauf, aber kein jubelnder. Schreie und Schluchzen, ein Stöhnen erklang aus der Menge. Dazwischen SS-Leute: »Hier gibt’s nichts zu sehn. Schleichts euch, gehts weiter, Leut!«

Die beiden Buben schauten sich an. Ein Unfall?

Da sahen sie es: Eine Frau lag in einer großen Blutlache. Sie rührte sich nicht mehr. Daneben eine zweite, augenscheinlich ebenfalls schwer verletzt. Sie stöhnte noch, wimmerte und bewegte sich dann ebenfalls nicht mehr. Matthias und Stefan kannten die beiden. Es waren die Frau des Buchhändlers Silberstein und ihre Schwester. Wie vor den Kopf geschlagen, standen die beiden Buben dort. Rund um sich sahen sie nur betroffene Mienen.

Wortfetzen …

»Die armen Frauen … aus dem Fenster gesprungen … aus dem Fenster geworfen … Holts oana den Sanka5!«

Matthias Holiczek blickte nach oben: An der Front des nahen Bürgerhauses stand ein Fenster offen. Die Gardinen bauschten sich im Wind. Die Frauen waren allem Anschein nach aus dem dritten Stock …

… ein SS-Mann beugte sich über die beiden reglosen Gestalten: »Ooh, Sarah, des tut ma jetzt leid. Wenn mir mit eich fertig san, brauchts koane von eich no an Sanka!«

Ein Aufschrei aus der Menge: »Ihr verdammten Schweine, was habt ihr mit den beiden gemacht?«

Der SS-Mann ging drohend auf die Leute zu: »Passts bloß auf, sonst kummts ihr nach Dachau!«

Weitere Schreie: »Ihr habt sie misshandelt … missbraucht … aus dem Fenster geworfen!«

»Ja spinnts ihr denn«, knurrte der SS-Mann erbost. »Wir werden uns doch nicht an solchen Judenv… vergreifen!«

Die SS-Leute begannen, die Menge mit Schlagstöcken auseinanderzutreiben. Auch Matthias Holiczek und sein Freund suchten ihr Heil in der Flucht. Es war nicht klar – und offiziell verlautbart wurde später schon gar nichts –, ob es sich um einen Selbstmord der beiden Frauen handelte oder ob die SS daran beteiligt gewesen war. Aber das schockierende Erlebnis und die menschenverachtenden Reaktionen der SS-Leute brannten sich den beiden Buben geradezu unauslöschlich ins Gedächtnis ein. Für sie stand fest, die hatten es getan!

Jahre später – um genau zu sein, kurz vor Ende des Krieges – sollte aus diesem Erlebnis und den Reaktionen der jungen Österreicher darauf eine Situation entstehen, in der es zumindest für den Älteren der beiden um Leben und Tod ging.

*

Am 29. September 1938 wurde zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien das Münchner Abkommen unterzeichnet. Die Tschechoslowakei musste das großenteils von Volksdeutschen bewohnte Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten. Dies wurde über die Köpfe der tschechischen Regierung hinweg beschlossen, die an den Verhandlungen nicht teilnehmen durfte. Deutsche Truppen besetzten das Gebiet am 2. Oktober 1938.

Aufgrund der dafür erforderlichen Transportkapazitäten sagte man das Reichserntedankfest kurzfristig ab. Und 1939 wurde diese größte nationalsozialistische Propagandaveranstaltung wegen des Polenfeldzuges gestrichen. Eine Wiederaufnahme der jährlichen Veranstaltung war für die Zeit nach dem Endsieg vorgesehen …

4 Kirchweih, Jahrmarkt.

5 Sanitätskraftwagen.

6 – Mord und Brand

Rheidersum, Freitag, 11. November 1938

Elisabeth starrte auf den Zeitungsartikel. Wild schossen ihr die Gedanken durch den Kopf. Vor vier Tagen hatte das Unheil seinen Anfang genommen.

Die Stimme des Sprechers im Großdeutschen Rundfunk hatte sich regelrecht überschlagen.

Herschel Feibel Grynszpan, ein polnischer Jude von siebzehn Jahren, hatte am 7. November 1938 in Paris auf den deutschen Legationsrat Ernst Eduard vom Rath geschossen. Dieser starb zwei Tage später an seinen schweren Verletzungen.

Gestern Morgen, kurz nach Melkzeit, war Onkel Theodor plötzlich im Stall aufgetaucht, absolut ungewöhnlich für diese Stunde. Helfried, ihr Vater, hatte ihn erstaunt angeschaut.

»Was machst du denn schon hier in aller Herrgottsfrühe?«

»Den Herrgott lass lieber aus dem Spiel. Der hat damit nichts zu tun. Die Synagoge in Leer brennt! Und die SA hat sie angezündet!«

»Sind die jetzt völlig übergeschnappt?«

»Und weißt du, wer dabei war?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte Theo hinzugefügt: »Unser lieber Herr Bürgermeister Drescher! Der soll persönlich die Vorhänge angezündet haben!«

In der Ostfriesischen Tageszeitung, dem amtlichen Organ der NSDAP und aller Behörden Ostfrieslands im Gau Weser-Ems, war an diesem Freitagmorgen ein kurzer Bericht mit Fotos des aufgebahrten vom Rath und der Überführung der Leiche ins Deutsche Reich abgedruckt. Darunter einige wenige Zeilen voller Pathos.

Elisabeth ließ die Zeitung sinken und schaute ins Leere. Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. Sie schrak hoch: »Ach, du bist es, Onkel Theo!«

Theo Strodthoff tippte auf die Zeitungsseite: »Lies das mal vor, ich habe meine Brille nicht dabei!«

»Den Text von Goebbels?«

»Genau den!«

Elisabeth zitierte:

Aufruf Dr. Goebbels’ an die Bevölkerung

Berlin, 10. November

Reichsminister Dr. Goebbels gibt bekannt:

Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsmaßnahmen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen.

Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung bzw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.

Elisabeth legte die Zeitung auf den Tisch.

Theodor Strodthoff holte tief Luft: »Da soll uns weisgemacht werden, dass diese Gewalttaten spontan vom Volk ausgegangen seien. Im ganzen Deutschen Reich gleichzeitig und mit Sicherheit die SA immer vorneweg. Für wie blöd halten die uns eigentlich?«

Lilli zuckte ratlos mit den Schultern: »Wie haben die Leute reagiert? Du warst doch gestern früh da.«

»Abgesehen von den SA-Schreiern haben die Leute eigentlich nur stumm dagestanden oder sind gleich erschrocken weitergegangen. Von großer Zustimmung konnte ich nicht viel merken. Übrigens hat die SA jüdische Geschäfte zusammengehauen und die Leute herausgetrieben.«

Lilli schaute ihn entsetzt an: »Und was haben sie mit ihnen gemacht?«

»Zum Viehhof haben sie sie gejagt, später auf Lastwagen geladen und weggefahren!«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht. Ich hörte nur einen der SA-Männer sagen: ›Jetzt kriegt das Pack die richtige Behandlung.‹ Es waren auch alte Leute und Kinder darunter!«

Elisabeth schwieg.

»Du sagst ja gar nichts.«

»Mir fällt auch nichts mehr ein!«

Dabei fiel ihr in dem Moment doch etwas ein. Sie wusste nicht, warum es ausgerechnet diese Begebenheit vor etwa vier Jahren war. Die beiden jüdischen Viehhändler David und Salomo de Vries, die immer zusammen auf einem schweren Motorrad kamen, hatten von ihrem Vater wieder einmal mehrere Rinder gekauft. Der Abschluss des Handels war traditionell mit Handschlag besiegelt worden. Anschließend gab es zum Tee Rosinenstuten. In die Butter, die Lilli dazu auftrug, hatte sie vorher mit einem Messer ein großes Hakenkreuz gezogen.

In diesem Moment schämte sie sich entsetzlich dafür. Was mochte wohl aus David und Salomo de Vries geworden sein?

Und was war mit …?

»Onkel Theo, du erinnerst dich noch an Gesa Hellmann?«

»Ja, natürlich. Wohl niemand wird sie vergessen haben.«

»Sie war damals meine beste Freundin.«

»Ich weiß. Nach dem Mord warst du völlig verstört, verständlicherweise. Deine Mutter hat es dir zwar so schonend wie möglich beigebracht, aber das änderte ja nichts an dem schrecklichen Geschehen.« Theodor Strodthoff schaute seine Nichte an. »Es beschäftigt dich immer noch?«

»Ja, aber – ich weiß auch nicht, wie ich jetzt darauf komme – was ist eigentlich damals aus dem Täter geworden?«

»Berend de Buhr? Wegen seines schwachen Geisteszustandes wurde er von einem Professor für Psychiatrie und Rechtsmedizin untersucht. Es war übrigens derselbe, der damals das Gutachten über den Massenmörder Fritz Haarmann erstellt hat.«

»Haarmann war voll zurechnungsfähig und wurde hingerichtet – richtig?«

»Ja.«

»Und Berend?«

»War eindeutig schwachsinnig. Dieser Professor Schultze hat ihn für schuldunfähig erklärt. Das Gericht hat daraufhin Berends Einweisung in eine geschlossene Psychiatrie verfügt.«

»Das hatte ich schon vermutet.«

»Vor einiger Zeit erhielten die Eltern die Mitteilung, dass Berend verstorben sei. Auf dem Totenschein stand Lungenentzündung als Todesursache.«

»Du glaubst nicht recht daran, Onkel Theo?«

»Wäre es ein Einzelfall, hätte ich nicht unbedingt Zweifel.«

»Welchen Fall gibt es denn noch?«

»Volli Knockmol …«

»Ach du lieber Gott, der arme Kerl!«

Der Junge hieß mit Vornamen nicht etwa Volker, wie man hätte annehmen können. Die Bezeichnung Volli verdankte er dem bedauerlichen Umstand, dass er absolut schwachsinnig war und daher umgangssprachlich Vollidiot oder in Kurzform eben Volli genannt wurde. Er hatte die besondere Fähigkeit, dass er sich seine Kniegelenke aus- und wieder einrenken konnte, was ein knackendes Geräusch verursachte. Andere Kinder trieben bisweilen ihren bösen Schabernack und sagten zu ihm: »Volli, knockmol!« Der arme Junge glaubte, damit die Anerkennung der anderen Kinder erringen zu können, und tat ihnen immer diesen Gefallen. Einige Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er in eine Anstalt eingewiesen und verstarb dort.

 

*

Am 1. Januar 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Während der NS-Zeit wurden etwa dreihundertfünfzigtausend Menschen »von Amts wegen« sterilisiert, wobei mehrere Tausend bleibende gesundheitliche Schäden erlitten oder zu Tode kamen.

Offiziell begann die Vernichtung des im NS-Jargon »lebensunwerten Lebens« am 1. September 1939, zeitgleich mit dem Kriegsbeginn. Ebenso offiziell eingestellt wurde dieses Euthanasieprogramm nach öffentlichen Protesten, denen vor allem der katholische Bischof von Münster Clemens August Graf von Galen im August 1941 eine nicht zu überhörende Stimme verlieh.6

Bei weiteren derartigen Todesfällen außerhalb dieser Zeit liegt zumindest der Verdacht nahe, dass man auch hier im Sinne der NS-Ideologie verfuhr.

Es gab unterschiedliche Arten des Umgangs mit Menschen, die an geistigen Behinderungen litten, oder unheilbar Kranken. In manchen Anstalten brachte man diese gezielt mit Giftinjektionen oder Gas um, in anderen »Pflegeeinrichtungen« ließ man sie ohne jede medizinische Hilfe dahinvegetieren oder schlicht verhungern.

Schon in der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift Nummer 34 aus dem Jahr 1936 war Folgendes zu lesen: »Sehr interessant und in Deutschland wohl nur noch einmal in Schleswig vorkommend, sind die im Dorf Neusandhorst7 entstandenen drei Pflegehäuser, die von Bauern betrieben werden, und wo der Stallraum des niedersächsischen Bauernhauses in kleinste, ärmliche Schlafkabinen für Geisteskranke umgebaut ist. Jeder Bauer hat ca. zwanzig Patienten. Es sind Fälle, die sonst als Familienpfleglingsfälle von den Anstalten einzeln vergeben werden. Hier haben die Erbhofbauern diese in eigener Regie – ohne ärztliche Kontrolle – genommen. Es muss ein ganz gutes Geschäft sein! …«

6 Für die drangsalierten und verfolgten Juden fand sich leider keine Stimme, die ein solches Gewicht gehabt hätte.

7 Nordöstlich von Aurich.