Wie Kinder sprechen lernen

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Braucht der Säugling den Vater?

Väter kommen von Anfang an nicht nur als Spiel- und Sprechpartner, sondern auch als Betreuer in Frage, allein schon, um die Mutter zu entlasten. Bei Abwesenheit der Mutter braucht dann kein Fremder das Baby zu betreuen; die Konstanz und Regelmäßigkeit der Betreuung ist besser gesichert. Ein Ergebnis der Bindungsforschung lautet: Väter sind in ihrer »Spieleinfühligkeit« herausfordernder als Mütter. Sie sind es, die ihre Babys in die Luft werfen und wieder auffangen und dazu ermuntern, auf Bäume zu klettern. Mütter sind da zurückhaltender und behütender.

Aus kommunikativ-sprachlicher Sicht ist auch gegen eine Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen nichts einzuwenden: Beide Elternteile haben die – in weiteren Kapiteln näher beschriebenen – Fähigkeiten, ihren Säugling in kindgerechter Weise anzusprechen und ihn zur Sprache zu führen. Deshalb sprechen Mechthild und Hanus PapousekPapousek, Mechthild und Hanus auch von »intuitiver elterlicher Didaktikelterliche Didaktik« oder vom »intuitiven Früherziehungspotential« der Eltern, also nicht allein von dem der Mutter.1 Säuglingserziehung ist also auch Männersache! Selbst älteren Geschwistern gelingt es teilweise, ihr Sprachverhalten anzupassen und mit Säuglingen zu kommunizieren. Es kann wohl nur günstig für das Kleinkind sein, wenn ihm seine Muttersprache von mehreren Vertrauten mit den ihnen eigenen charakteristischen Sprechstilen zugesprochen wird. Und es vermindert Trennungsängste, wenn es gleich mehrere Menschen hat, denen es zutiefst zugetan ist. Auch Großeltern gehören dazu und können eine Brücke vom Elternhaus zur Welt draußen bilden. Denn wie kein anderes Wesen verbindet der Mensch Geselligkeit mit Kultur, d.h. der Weitergabe von Wissen durch die Generationen hindurch. Menschen lernen von anderen Menschen.

Kehren wir die Frage um: Brauchen Väter ihr Kind? Und brauchen nicht Großeltern ihre Enkel, um den Reichtum ihrer Lebenserfahrungen weiterzugeben? Um noch etwas zu haben, auf das hin sie leben können? Väter sollten sich den intimen Umgang mit ihrem Kleinkind nicht entgehen lassen – knuddeln, schmusen, Nähe versuchen, auf Körpersprache achten, einen erwachenden Verstand beobachten und dabei viel über sich selbst lernen. Ja vielleicht sogar die Zärtlichkeit neu lernen, um sie dann zurückschenken zu können. Denn Kinder sind »die geborenen Erzieher zur Zärtlichkeit. Wenn wir nur wollen, wecken sie das längst Verschüttete in uns auf«.2

Väter werden auf diese Weise auch mütterliches Verhalten besser verstehen, statt sich ausgeschlossen zu fühlen. Leider ist das Leben mit Kindern und Enkeln eine Erfahrung, die in unseren westlichen Gesellschaften immer seltener wird. Wenn dann die Kinder aus dem Haus gehen, bedauert so mancher Vater, sich weniger mit ihnen beschäftigt zu haben, als er es eigentlich gewünscht hätte: späte Klarheit im Moment des Verlustes.

Bewegend ist die Klage eines Vaters, der mit den nach seiner Erblindung geborenen Kindern nicht mehr so intensiv spielen kann, wie mit seinem ersten Kind. Diese Tatsache erzeugt ein »schneidendes Gefühl des Verlusts« und Panik bei dem Gedanken,

»daß dies alles nun an mir vorübergeht und daß diese goldenen Jahre des kindlichen Spiels nicht zurückgewonnen werden können.«3

Die Verhaltensforschung, die Tiere untereinander und mit dem Menschen vergleicht, sagt uns, daß in der Tierwelt alle möglichen Betreuungsarten vorkommen. Bei der überwiegenden Mehrheit der Säugetiere beteiligen sich die Väter nicht an der Aufzucht der Jungen. Beim Menschen ist das Ausmaß des väterlichen Fürsorgeverhaltens in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt und stark dem Wandel unterworfen.

Gewiß werden Kinder in erster Linie »bemuttert«. Hüten wir uns aber vor einem neuen Mutterkult.Christoffersen, Mogens NygaardVoland, EckartBischof-Köhler, Doris4 Es ist schon schlimm genug für ein Kind, wenn die Eltern sich scheiden lassen. Noch schlimmer aber, wenn es von einem Elternteil zum Besitzstand erklärt, damit zum Zankapfel wird und als Waffe gegen den anderen Elternteil mißbraucht wird. Es ist die Sehnsucht der Kinder, von beiden Eltern geliebt zu werden.

Darüber gibt es in der deutschen Literatur ein erschütterndes Zeugnis aus der Feder von Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp, der mit dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) die erste psychologische Zeitschrift deutscher Sprache gründete. Gleich zu Anfang seiner als »psychologischer Roman« getarnten Autobiographie heißt es:

Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward. Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm, und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes. Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten, und ihm doch einer so nahe wie der andre war. In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln. Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.5

Wenn ein Kind eine sichere Bindung zu ein oder zwei Betreuern aufgebaut hat, kann es ihm nur guttun, weitere Personen intim zu erleben und dabei auch andere Arten des Menschseins aus nächster Nähe kennenzulernen. Dann gilt wohl, was Lilli PalmerPalmer, Lilli in ihrer Autobiographie schreibt. Das Wichtigste für ein seelisch-geistig gesundes Heranwachsen des Kindes sei die liebevolle Zuwendung der Eltern zueinander. Alles andere folge daraus:

Wir hatten eine so glückliche Kindheit, weil meine Eltern nie einen Hehl daraus machten, daß sie einander mehr liebten als uns. Sie hatten uns lieb, sie sorgten sich um uns, sie waren auch manchmal stolz auf uns, aber in erster Linie kümmerten sie sich umeinander und erst in zweiter um uns. Dadurch herrschte im Haus ein entspanntes, ausgeglichenes Klima allgemeiner Unabhängigkeit. Kinder, normale, gesunde Kinder, fordern und erhalten ihren Anteil Liebe sowieso. Es ist besser, daß es an ihnen liegt, noch eine zusätzliche Portion aus ihren Eltern herauszuschmeicheln, anstatt von vornherein damit überschüttet zu werden, als sei es ihr Geburtsrecht. Kinder aller Altersstufen sollten um ihre Eltern werben. Davon profitieren beide Parteien.6

Yehudi Menuhin erinnert sich:

Später, in der Steiner Street, hörte ich ihn (=den Vater) manchmal, wenn ich in meinem Bett im Gartenhaus lag, der Mutter aus den Werken Scholem Alejchems vorlesen, und oft drang Gelächter zu mir herüber. Für mich waren es Augenblicke großen Glücks; sie bedeuteten die vollkommene häusliche Eintracht.7

Ehepaare, die besonders verständnisvoll miteinander umgehen, so bestätigt uns die amerikanische Forschung, sind zugleich diejenigen, die ihren Kindern im Auf und Ab der Gefühle am besten helfen.8

Ungleiche Partner und unfreiwilliges Verstummen

Es ist auch niemand sein eigner Lehrer im Sprechen.

(Johann Conrad AmmanAmman, Johann Conrad, 1692)

Spracherwerb ist Gemeinschaftsarbeit. Jeder Spracherwerb ist zugleich Sprachvermittlung. So gesehen können auch Lehrer, die in den Schulen unter ganz anderen Bedingungen eine Muttersprache, Zweit- oder Fremdsprache vermitteln, von der Art und Weise lernen, wie die Natur Unterricht quasi inszeniert. Ausgangspunkt ist das Einverständnis der Beteiligten.

Wie ungleich sind doch die Partner in diesem Spiel! Die einen kennen sich in der Welt aus, der andere muß sie sich noch erobern. Die einen haben die Sprache, der andere hat sie nicht. Sprache will Schritt für Schritt, ja Laut für Laut gewonnen werden. Dabei ist dem Neugeborenen nicht einmal gezielte Gestik möglich. So müssen die Eltern die Führungsrolle übernehmen und Einvernehmen herstellen. Sie tun das auf eine Weise, deren Raffinement ihnen zumeist gar nicht bewußt wird. Mit welcher Freude, mit welchem Stolz registrieren Eltern selbst kleinste Entwicklungsschritte ihrer Sprößlinge!

Umso schlimmer, wenn Eltern sterben oder auch sonst kein Einverständnis da ist. Manchem hat es gar die Sprache verschlagen (Fachjargon: elektiver oder selektiver MutismusMutismus, das Erstummen nach Erwerb der Sprache bei Intaktheit der Sprachorgane). Die Mutter des amerikanischen Schriftstellers Harold BrodkeyBrodkey, Harold (Die flüchtige Seele) starb, und der trinkende Vater verkaufte das Kind regelrecht für 350 Dollar an Verwandte, die ihn adoptierten:

Als meine Mutter starb, war ich zwei Jahre alt. Das Trauma dieses Verlustes war so stark, daß ich nicht mehr das Englisch meiner Mutter sprechen konnte – ich verstummte, sagte zwei Jahre kein Wort mehr.1

Nichts vermag die Macht der Affekte über die Sprache besser zu verdeutlichen als dieses plötzliche Verstummen. Kinder, die sprechen können, sprechen plötzlich nicht mehr!

Extremfälle sind lehrreich. Sie zeigen uns, wie wenig wir im Grunde über die sprachliche Verfaßtheit des Menschen wissen und wie sensibel wir als Kommunikationspartner sein sollten.

Ein Therapeut schreibt ein Buch über seine Arbeit mit Laura. Laura wird von ihren Eltern, unzurechnungsfähigen Alkoholikern, aufs Blut gepeinigt und entrinnt knapp dem Tode, als sie mit eineinhalb Jahren mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert wird. Von dort kommt sie ins Kinderheim und spricht zwölf Jahre lang kein Wort, bleibt stumm und teilnahmslos. (Kommen wir aber deshalb nicht auf die Idee, daß ein solches Trauma Ursache für Mutismus sein muß!) Später führt der Autor mit ihr eine Therapie durch: er spricht wie gegen eine Wand, hält fast drei Jahre lang wöchentliche Monologe vor ihr. Sie liefert ihm nicht die geringsten Angriffspunkte für eine gezielte Therapie. Die Schwestern im Heim behaupten aber, daß Laura Sprache verstehe.

 

Dann stellen sich erste Erfolge ein: Sie nimmt ein Stück Schokolade an. Oder: der Therapeut möbliert ein Puppenhaus vor ihren Augen, und plötzlich reagiert sie, greift hinein und stellt die Möbel um, wie sie es haben will. Und so schmilzt ganz langsam der Eispanzer, der sie umgibt. Dabei wird immer klarer: Laura kann im Grunde sprechen (das jedoch hatte der Therapeut bislang ja nie erlebt), aber auch wenn sie möchte, scheint sie zum Zuschauen verdammt, braucht unendlich viel Liebe und Geduld. Die Sprache ist ein Hauptmittel für uns, die Welt vernünftig zu erfassen, und ein Kind benennt die Dinge aus Liebe, erklärt der sie behandelnde Therapeut, der ihr schließlich die Zunge löst.2

Ich bin, weil du bist

Das Kind lernt, ein Gespräch zu führen – lange, bevor es sprechen kann. Das ist viel mehr, als zu wissen, wie man sich dabei abwechselt, wann wer an der Reihe ist. Das Kind entdeckt sich als ein in eine Partnerschaft und Gemeinschaft eingebundenes Wesen. Es beginnt, sich selbst als ein »Ich« zu verstehen und das »Du« als ein anderes »Ich«, das ebenso fühlen kann und mit dem man eins werden kann. Es beginnt, erste soziale Signale zu lesen.

Was das bedeutet, wird einem erschreckend klar, wenn man auf autistischeAutismus Kinder trifft, denen diese grundlegenden kommunikativ-emotionalen Fähigkeiten weitgehend fehlen. Ihr Blick geht durch einen hindurch. Hat man ihren Blick doch einmal gefunden, kann man ihn nicht halten. Sofort schweifen die Augen wieder ab. Auch wenn sie sprechen können, bleiben Ansprechversuche oft ohne Reaktion. Anreden oder Fragen werden einfach überhört. Es ist, als ob man als Partner nicht existiere. Auch die jahrelang schweigende Laura war, solange sie schwieg, für ihren Partner kein soziales Wesen, das im anderen den Mitmenschen sah und suchte. Sie muß todunglücklich gewesen sein.

Dank der Führungskunst der Eltern lernen wir aber nicht nur, wie man mit anderen spricht und sie versteht. Wir neigen auch dazu, die Art und Weise ihres Umgangs mit uns auf uns selbst zu übertragen. Reden sie uns gütig und verständnisvoll zu, fällt es uns leicht, uns selbst zu lieben. Bauen sie auf den sanften Zwang des besseren Arguments, statt uns nur herrisch in die Pflicht zu nehmen, lassen wir auch im Umgang mit uns selbst Vernunftgründe gelten. Geben sie uns die Möglichkeit, zu sagen, was wir empfinden, können wir uns über die eigenen Befindlichkeiten klar werden und die anderer mitbedenken. Die Kommunikationsmuster der frühen Kindheit legen Grundlagen für die Weise, wie wir mit uns selbst ins Gespräch kommen und dabei Entscheidungen treffen. Wir verlegen die Zwiegespräche auf eine innere Bühne und lernen somit, uns selbst zu finden oder zu verfehlen.

»Der Mensch wird am Du zum Ich«, lautet ein berühmtes Wort von Martin BuberBuber, Martin. So kommen wir wohl nur über die Bilder, die die anderen uns liefern, zu uns selbst. An ihren Reaktionen und Gefühlen gelingt es uns, die eigenen zu verstehen. Später kehrt sich das Verhältnis um. Wir lernen von uns auf andere zu schließen und verstehen ihre Eifersucht, weil wir sie schon in uns selbst gespürt haben.

Kommunikative und sprachliche IntelligenzIntelligenz, IQ-Test

Nach GardnerGardner, Howard umfaßt das Spektrum der Intelligenzen die sprachliche (1), die musikalische (2) und die logisch mathematische (3). Dazu kommen die räumliche, wie sie etwa Architekten oder auch Schachspielern zu eigen ist (4), und die Bewegungsintelligenz und Körperbeherrschung (5). Zu seinen sieben separaten Begabungsfeldern zählt Gardner noch die schon genannte soziale oder kommunikative Intelligenz (6) und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis (7) und faßt sie als personale (intra- und interpersonale) Intelligenz zusammen. Insgesamt ein Sortiment, das man noch unterteilen, aber auch erweitern könnte. Wie wäre es beispielsweise mit der (8) handwerklichen Intelligenz, dem gekonnten Zusammenspiel von Handfertigkeit, Materialgefühl und Kombinationsfähigkeit?

Interessanterweise ist also die soziale oder kommunikative Intelligenz von der sprachlichen geschieden. Auf andere Menschen eingehen und mit ihnen umgehen zu können, die Kunst des Miteinander, erfordert zwar oft erhebliches sprachliches Geschick, ist aber im Kern etwas anderes als eine besondere Begabung für Sprache, wie sie etwa bei Schriftstellern und anderen Wortkünstlern sichtbar wird. Soziale Intelligenz findet sich auch bei gesellig lebenden Tieren. In der Gruppe muß man mit anderen Individuen der eigenen Art auskommen, deren Handeln vorhersagen, ihre Wünsche, Stimmungen oder Ziele erraten können, einen passenden Sexualpartner finden, den Nachwuchs erziehen, einweisen, trainieren. Schimpansen haben so etwas wie Schimpansenkenntnis und Menschen Menschenkenntnis – und zwar in individuell sehr unterschiedlichen Graden. Menschen wie auch Schimpansen können sich vorstellen, was andere vielleicht fühlen und wie sie reagieren werden. Erkenne die anderen, und du lernst dich selbst besser verstehen. Dann auch umgekehrt. Erkenne dich selbst, und du verstehst auch die anderen. Jeder Monolog, jedes Gespräch mit sich selbst ist Fortführung und Verwandlung des ursprünglichen DialogsDialog.

Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und das Sich-hinein-Versetzen in andere entwickeln sich miteinander. Milan, noch nicht ganz fünf, fliegt mit seinem Vater nach Argentinien. Da sagt er vor der Abreise aus Frankreich, wo sie leben: »Maman, tu me manques, et moi, je te manque.« (Du fehlst mir und ich fehle dir.) So einfühlsam können Kinder sein. Zwischenmenschliche Intelligenz ist zwar schon ein Geburtsrecht des Kindes, bedarf aber auch der Mutter-Kind-Symbiose, um heranzureifen. Die Kindheit, später die Pubertät, sind wahrscheinlich besondere Zeitfenster, um diese Intelligenz zu formen. Wir haben es hier mit einem Komplex von Fähigkeiten zu tun, die weiter unterteilt werden könnten. Daher auch die unterschiedlichen Bezeichnungen: zwischenmenschlich/sozial/personal/kommunikativ. GolemanGoleman, Daniel hat diesen Bereich bestsellerwirksam als »emotionale Intelligenz (EQ)« bezeichnet. Darin steckt dann ein ganzer Tugendkatalog. Ihm wie GardnerGardner, Howard geht es darum, andere Fähigkeiten gegenüber dem bekannten IQ aufzuwerten.1 Zwar sind Gefühle per se weder intelligent noch dumm. Sie sind einfach da, fragen auch nicht danach, ob sie berechtigt sind oder nicht. Es geht dann darum, die eigenen und die der anderen zu beobachten, zu verstehen und klug mit ihnen umzugehen. Gefühle sagen uns selbst und unserem Gegenüber, was uns momentan bewegt, welcher Antrieb uns beherrscht. Gefühle sind Dauerbegleiter unseres Tuns. All unser Wissen und Verstehen, Tun und Lassen sind emotional eingefärbt. Was wir aus der Selbstbeobachtung wissen, bestätigt uns die moderne Hirnforschung. Ständig schießen Impulse hin und her zwischen der Großhirnrinde, in der Wahrnehmen, Denken, Erinnern stattfinden, und einem anderen Hirnteil, dem limbischen System mit dem sog. Mandelkern, das für Triebe, Affekte und die gefühlsmäßige Bewertung des Tuns zuständig ist. Ohne solche Mithilfe der Gefühle wären wir entscheidungsunfähig, würden uns im endlosen Für und Wider verfransen.Damasio, Antonio2

Ein Schritt auf dem Weg, die eigenen Gefühle und die der anderen richtig zu deuten, sind die Phantasie-Phantasiespiele, Fiktions-, Illusions- oder Deutungsspiele sowie die eigentlichen RollenspieleRollenspiele, die etwa im zweiten Lebensjahr auftreten und im dritten bis sechsten Jahr überschwenglich gespielt werden. Dabei kann sich alles in alles verwandeln, und die Rollen werden ohne Schwierigkeit gewechselt: Gast und Gastgeber, Kunde, Kassierer und Kaufmann, Autofahrer und Astronaut. Als Fiktionsspiele und Rollenspiele listet Charlotte BühlerBühler, Charlotte auf:

Am Finger rauchen, den Stuhl mit Papier abstauben, das Spielzeug füttern, streicheln, mit ihm sprechen, Puppe und Papagei wie einen Kameraden behandeln, Schlafen spielen, sich in die Rolle der Tante, des Schornsteinfegers, Schaffners, Soldaten, Kutschers, Kellners, Kaufmanns, Briefträgers, Großvaters und Jägers hineinversetzen, sich zu einem Affen, Löwen, Hund oder zu Rotkäppchen und Wolf machen.3


Die Mutter hat Lukas (1;9) gehäkelte Fingerpuppen aufgesteckt und singt dazu ein Liedchen: »Alle meine Fingerlein/wollen lustige Tiere sein. Dieser Daumen dick und rund/ist der schwarze Schäferhund …« Lukas singt die Reimwörter am Zeilenende mit.


Es macht nichts, daß die Fingerpuppen Giraffe und Pfau darstellen, die im Lied nicht vorkommen. Im Gegenteil. Es geht auch ohne Puppen. Die Kinder haben keine Schwierigkeiten, im nackten Daumen den schwarzen Schäferhund zu sehen usw. Das wäre das »symbolische« oder »Als-ob-SpielAls-ob-Spiel« (vgl. S. 124ff.).

Das Kind versenkt sich in unterschiedlichste Rollen und spürt beim Ausagieren ihrem Gefühlsgehalt nach. Wie ist das, wenn man Briefträger ist und die Post durch den Türschlitz steckt, hinter dem ein Hund wütend kläfft? Das Kind lernt sich selbst auf dem Umweg über das Bewußtsein von anderen kennen. Indem es andere nachahmt oder darstellt, d.h. sich mit einem Nicht-Ich identifiziert, erreicht es »ein kontrastierendes Selbstgefühl«.4

Worin könnte nun – im Unterschied zur kommunikativen – eine ausgesprochene sprachliche IntelligenzIntelligenz, IQ-Testsprachliche Intelligenz im engeren Sinne bestehen? Dazu gehören auf jeden Fall ein besonderes Ohr für den typischen Tonfall einer Person, ihre typische Sprechweise, ihren verbalen Habitus, auch eine bestimmte Leichtigkeit, Dialektalisches aufzunehmen und wiederzugeben, dazu wohl auch die Neigung zu allerlei Wortverdrehungen und Wortspielereien. Es sind Gaben, die man am ehesten bei Künstlern des gesprochenen Wortes, Kabarettisten, Parodisten, auch Stimmenimitatoren findet, die sich im Nu sprachlich-gestisch-mimisch in einen anderen Menschen verwandeln können und diesen Menschen durch seine Sprache darstellen und entlarven können. Es sind meist auch Menschen mit Lust am Fabulieren, geborene Erzähler und genaue Beschreiber mit einem guten Gedächtnis für die verbalen Macken und Ticks ihrer Mitmenschen. Und etwas ganz Eigenartiges, Verschrobenes: professionelle Rückwärtssprecher. Sprachlich begabt sind auch die brillanten Plauderer und Verbalisierer, die sich einfach gut ausdrücken können, in jeder Diskussion mitreden, sich in Szene setzen und auch einmal fehlende Ideen durch geschickte Rhetorik überdecken oder sich herausreden können. Hier kommen sich sprachliche und kommunikative Intelligenz sehr nahe. Ein anderer Baustein könnte die Begabung sein, mehrere Fremdsprachen zugleich fließend sprechen (und behalten) zu können. Ein Sprachgenie wie Georg Sauerwein soll an die sechzig Sprachen beherrscht haben. Unfaßbar!5 Hinzuzurechnen wäre wohl auch die Sprachgewandtheit des guten Übersetzers: Hierin kann er dem Autor, den er übersetzt, durchaus ebenbürtig sein. Was ihm der Autor voraus hat, sind andere Eigenschaften wie etwa die Originalität des Denkens, die erfinderische Kraft, die kompositorische Gabe oder die Intensität des Gefühls. Andererseits sind Ideenlieferanten und Denker mit Tiefgang nicht zwingend auch besonders sprachmächtig.

Die Forschung differenziert und sortiert verschiedene Fähigkeiten, die im Menschen aber stets zusammenspielen. Das »Erkenne dich selbst« ist für jeden eine Aufgabe, die ganz früh einsetzt und nicht, so lehren uns die Kinder, auf dem Weg monologischer Selbstversenkung ans Ziel gelangt. Zwar geht die Eigenerfahrung oft voraus: Ich verstehe, daß andere hungrig sind, weil ich Hunger schon selbst verspürt habe. Aber es gibt auch den umgekehrten Weg: Weil dem Kind Liebe entgegenschlägt, entdeckt es Liebe schließlich auch in sich selbst. »Ich bin richtig traurig« sagt die Mutter, und das Kind beginnt nachzufühlen und zu begreifen, was Traurigsein ist. Das Verstehen der eigenen Gefühlswelt wie der Innerlichkeit der anderen ist an Kommunikation gebunden. Und hier sind Kinder zunächst mehr Empfänger als Geber. Menschen sind soziale Wesen; sie finden sich, indem sie Zwiesprache mit anderen, dann aber, und sich daraus entwickelnd, ZwiespracheDialog mit sich selbst halten. Der Mensch, der mit sich spricht, hat in sich selbst ein Gegenüber gefunden. Er ist ein sprechendes Wesen, nach Kant das einzige, das sich zu sich selbst verhalten und »Ich« sagen kann.