Wie Kinder sprechen lernen

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IchbewußtseinIchbewußtsein und Selbstbezeichnungen

Grundlage für die Entwicklung des Ichgefühls sind die Empfindungen des eigenen Körpers und seiner Grenzen und das eigene Körperhandeln. Das Baby, das auf der Wickelauflage seine strampelnden Füßchen aufmerksam beobachtet und dann in den Mund zu stecken versucht, gewinnt erst allmählich ein Gefühl dafür, daß die Beinchen zu ihm gehören. Die Hände öffnen und begegnen sich, gelangen ins Blickfeld des Säuglings, die eine spielt noch mit der anderen wie mit einem fremden Gegenstand. Langsam macht es Bekanntschaft mit seinem eigenen Körper, schaut an ihm hinunter, lernt seine Konturen kennen und trennt, was von der eigenen Haut umschlossen ist, von dem, was der Außenwelt angehört. Am klarsten ist die Schmerzempfindung: Das Füßchen stößt an, und es tut ihm weh. Immer wieder, ohne Ausnahme. Daß es nur ihm weh tut, muß es vielleicht noch lernen. Muß nicht auch ein junges Kätzchen, das herumwirbelnd auf den eigenen Schwanz Jagd macht, erst noch lernen, da nicht hineinzubeißen, also erst noch erkennen, daß das Schwänzchen zu ihm gehört?

Wer bin ich? Ich bin Bewohner und Eigentümer meines Körpers. Mein Körper ist, womit ich handle, worüber ich verfüge. Er ist meine stärkste Gewißheit, Zentrum meines Handelns. Mit der zunehmenden Beherrschung der willkürlichen Muskulatur bekommt das keimende Ich ein Mittel an die Hand, sich als ein Selbst zu entdecken. »Ich« ist mein Wille und Begehren, dem mein Körper Ausdruck verleiht. »Das Ichgefühl ist der Instinkt, die Einheit des Körpers zu erwerben, die Herrschaft über den Körper zu erobern.«Sacks, Oliver1 »Leben« kommt von »Leib«, und es sind zu allererst die Eigenwahrnehmungen des Leibes, die uns zu uns selbst führen.

So erhält auch das Wort »mein« seine Bedeutung von »zu mir selbst gehörend«. Die ersten Dinge, die mir gehören, sind jene, die physisch ein Teil von mir sind, der Ursprung unserer Eigentumsvorstellungen.2 Danach wird der Begriff auf andere Arten von EigentumEigentum ausgedehnt: »meine Milch«, »meine Schule«, »mein Beruf« sind Erweiterungen dieser Grunderfahrung, wie auch die folgende Verwendung von »mein«:


Gisa (3;0 = drei Jahre, null Monate alt) trommelt mit der Gabel auf dem Tellerrand herum.
Vater: Hör auf damit.
Gisa: Is doch mein Teller.

Nicht alle Sprachen kennen übrigens solche Erweiterungen; sie haben andere Wörter für unveräußerlichen Besitz wie »mein Kopf« oder »mein Vater« und wechselnden Besitz wie »mein Teddy«. – Eltern tun wohl instinktiv das Richtige, wenn sie ihr Kind nicht immer mit du anreden, sondern auch bei seinem Namen: »Lukas muß jetzt schlafen.« Lukas ist eben eindeutig, in der Welt des Lukas gibt es zumeist nur den einen. Der EigennameEigenname stiftet Identität. Wörter wie du und ich, mein und dein, hier und da aber sind vieldeutig; man hat sie auch Wechselwörter genannt. Abwechselnd sind wir du, ich, er oder sie, je nachdem, wer spricht. Es dauert eine Weile, bis die Kinder herausfinden, daß es vom Sprecher abhängt, wen oder was diese Wörter meinen. Lange werden ich und du, mein und dein miteinander verwechselt, bis – allmählich – der korrekte Gebrauch immer häufiger wird.3 Wie sehr hier ein Lernproblem besteht, zeigen uns Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung, die mitunter jahrelang die PronominaPronomina umkehren. Weil hier der Austausch meines Standorts mit dem des Partners verlangt wird, hilft ihnen ihr ausgesprochen imitatives Lernen hier nicht weiter.


Wer mit »Peter« angeredet wird, ist der Peter. Das ist klar. Aber: Wer mit »du« angeredet wird, ist nicht »du«, sondern »ich«. Das finden Kinder verwirrend.

Es stellt aber keinen besonderen Einschnitt in der Entwicklung dar, wenn das Kind zum ersten Mal ich sagt:

In der Tat braucht das IchbewußtseinIchbewußtsein nicht schwächer zu sein, wenn ein Kind ruft: Paul Suppe haben, als wenn es ruft: i au (ich auch) Suppe haben; auch die Gegensätzlichkeit der eigenen Person bedarf nicht des Pronomens, sondern kann mit dem Namen bestritten werden, z.B. is nich Günthers Mütze, is Hildes Mütze.4

Die Ehepaare SternStern, Clara und William und ScupinScupin, Ernst und Gertrud, die schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Sprachentwicklung ihrer Kinder detailgetreu dokumentiert und analysiert haben, räumen auch mit dem Vorurteil auf, daß Kinder sich zuerst durchweg mit dem Eigennamen bezeichnen, bevor das Ich auftaucht. Dies gilt wohl nur für Erstgeborene. Wo schon Geschwister da sind, kann das Ich noch vor dem Eigennamen auftreten (zwischen 1;5 und 2;5); vielleicht weil häufig Situationen entstehen, in denen sich auf eine Frage der Mutter die älteren Geschwister mit ich, ich auch melden und das jüngste echot i au, i au.

Im übrigen läßt die Prioritätsfrage Eigenname oder ich? die Wirklichkeit einfacher erscheinen, als sie ist. Bei Bubi Scupin konkurrieren eine Zeitlang als Selbstbezeichnungen du, er, ich, Bubi, mein. Mädchen sagen manchmal die und meinen ich. Genau genommen wären noch Häufigkeitsverteilungen zu errechnen: ob eine Form nur vereinzelt oder gleich massiv auftritt, dann wieder verschwindet usw. Einige Beispiele:


Peter (2;1):
n Pipi mustu (ich muß ein Pipi machen)
balla hastu (ich habe den Ball)
Günther (2;7) hat eine Sonne aus Papier zerrissen:
Günther: Günther e Sonne erreisst.
Erwachsener: Warum denn?
Günther:

Im folgenden einige persönliche Notizen:


Gisa (2;1) fällt hin und steht wieder auf:
Wiedaaufateht. (Ich bin wieder aufgestanden)
Papa trinkt eine Tasse Tee.
Gisa (2;2): Gisa aucha Tasse Tee tunk hat.
Kinderärztin: Wie heißt du denn?
Gisa (2;2): Gisa.
Am selben Tag:
Tante: Wie heißt du denn?
Gisa: Mä(d)chen heiß-ich.
Mutter: Gisa, du gehst jetzt nicht mehr an die Stifte.
Gisa (2;3): Nein, die beiden darfa (darf er statt darf ich) haben.

Gisa ist mittlerweile sechs Jahre alt. Man könnte meinen, sie weiß inzwischen über Namen Bescheid. Aber sie muß noch weiterlernen:


Gisa: Eine Mutter kann doch nicht Gisa heißen.
Papa: Wieso? Man ändert seinen Namen nicht. Deine Mutter heißt Ingrid, und die hieß als kleines Mädchen auch Ingrid.
Gisa: Aber Gisa ist doch ein Kindname.

Sie kennt keine Erwachsenen, die Gisa heißen, ebenso wie die taubgeborene Emmanuelle keine gehörlosen Erwachsenen kennt und darum annimmt, nur Kinder seien gehörlosGehörlos, hörgeschädigt wie sie.8

 

Sprache ist also nicht allein entscheidend bei der Herausbildung eines Ichgefühls; vielleicht eher das Tüpfelchen auf dem i, indem sie das Ichbewußtsein faßbar macht und (humboldtisch gesprochen) »vollendet«. Sie wirkt klärend und bestimmend bei der weiteren Entwicklung mit, wenn es beim Menschen um Selbstbehauptung, schließlich um eine realistische Selbsteinschätzung und -bewertung geht.

Das Bedürfnis nach ZugehörigkeitZugehörigkeit

So ist Sprache mit allem, was wir Menschen tun, verwoben, besonders mit den sozialen Prozessen. Es sind die ersten Lebensmonate bis zum Ende des 2. Lebensjahres, wenn es schon spricht, in denen sich das Schoßkind individuell an seine Eltern bindet: eine nicht mehr aufkündbare Beziehung. Eltern bilden die eigentliche Umwelt des Kindes. Dabei brauchen sie nicht die leiblichen Eltern zu sein. Unter Mutter verstehen wir ab jetzt die Hauptbezugsperson, an die sich der Säugling bindet. Es ist diejenige, die ihn hauptsächlich betreut, füttert, wickelt, badet, aufnimmt und herumträgt, wenn er weint, und die mit ihm spielt und spricht. Sie ist faktisch und psychologisch die Mutter, auch wenn eine andere Frau ihn zur Welt gebracht hat. Und es ist ihre Sprache, die das Kind lernen wird.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist zugleich auch das nach Sicherheit durch Anschluß an vertraute Personen. Es äußert sich auch in der Tatsache, daß der Säugling besonders gerne und intensiv Gesichter studiert.Darwin, Charles1 An ihnen kann er sich nicht satt sehen, während andere Dinge ihn nur eine Zeitlang fesseln, bis er sich an sie gewöhnt hat und sie ihm langweilig werden. Dem entspricht nun auf Seiten der Mütter die intuitive Bereitschaft, ihr Kind in einem vergleichsweise verkürzten Auge-zu-Auge-Abstand von 20 bis 25 cm vor sich zu halten, d.h. genau in dem Bereich, in dem Säuglinge scharf sehen können, bis die Sehfähigkeit weiter ausreift. Daß Erwachsene dies intuitiv tun, ist erstaunlich, da sie üblicherweise im Abstand von ca. 31 cm scharf sehen.

Im zweiten Monat beginnt das soziale Lächeln. Vorher hat man schon ein rein reflexhaftes Lächeln beobachtet, das auch schon mal über das Gesicht des schlafenden Säuglings huscht. Der drei Monate alte Säugling begrüßt regelrecht die Mutter mit einem Lächeln oder lächelt zurück und heißt schließlich jedes ihm zulächelnde Gesicht freudig willkommen.

Zwischen dem sechsten und achten Monat engt sich das Feld der bevorzugten Bindungspersonen ein. Das Baby spart sich sein Lächeln oft nur für eine Person auf. Es ist das Gesicht, auf das es immer wieder forschend geblickt hat und das es sich einprägt hat, wenn es gehalten und gestillt wurde. Andere lächelnde Gesichter verschrecken es. Es fängt an zu weinen oder äußert sein Verstörtsein, indem es demonstrativ wegschaut, klammert und den Körper versteift. Das ist das vorübergehende FremdelnFremdeln, das bis ins zweite Lebensjahr andauern kann.

Das Kind will jetzt nur seine Eltern, am liebsten die eine Dauerbezugsperson. Dies ist zum einen ein untrügliches Zeichen, daß es seine Eltern sofort wiedererkennt und von anderen unterscheidet; zum anderen, daß es sich unerhört intensiv auf sie konzentriert. Als ob das Baby an dieser Stelle ein für allemal feststellen möchte: zu euch gehöre ich, hier gehöre ich hin. Es ist also keine Sache des Nicht-Leiden-Mögens freundlicher Besucher.2

Wenn die Reaktion wieder verschwindet, hat das Kleinkind die Sicherheit gewonnen, die es braucht, um sich auch anderen zuzuwenden. Mit seinen Eltern verschworen, kann es sich auch mit der Welt verbrüdern – oder ihr die Stirn bieten.

»Ich saß am Arm der Mutter und spürte durch sie hindurch den sichern Gang der Welt.«3

Ein Kleinkind muß möglichst lange in dem Zustand naiver Wundergläubigkeit und Unverletzbarkeit verharren, in dem es fest darauf vertraut, daß die Eltern alles heilen können, welche Übel auch kommen mögen. »Daß ich sterben muß, wird die Mama nie erlauben«, soll der kleine Bernt von HeiselerHeiseler, Bernt von seinem älteren Bruder gegenüber behauptet haben.4 NabokovNabokov, Vladimir beschreibt das unverlorene Paradies der Kindheit:

Alles ist, wie es sein sollte, nichts wird sich je ändern, niemand wird jemals sterben.5

Nach HassensteinHassenstein, Bernard ist dieser erste BindungsvorgangBindung, personale B. mit etwa zwei Jahren abgeschlossen. Er bildet die Grundlage dafür, daß der Mensch später dauerhafte, verläßliche Bindungen eingehen kann.

Die Kinderpsychologie wird hier durch hirnphysiologische Beobachtungen in gewisser Weise bestätigt. Das hinter der Stirn gelegene Hirnareal verbindet Gefühle mit vernünftigem Handeln. Es gilt als eine der Konvergenzzonen, in denen Reize zu sinnvollen Erfahrungen gebündelt werden, eine Art Emotionsgedächtnis, mit dem wir Gefühle einordnen und steuern.6 Genau dieser Bereich ist zwischen dem sechsten und zwanzigsten Lebensmonat besonders aktiv, wie man mit PET-Aufnahmen (Positronen-Emissions-Tomograph) beweisen konnte, die den Stoffwechsel des lebenden Gehirns abbilden. In eben dieser Zeit bauen Babys ihre Bindung zu festen Bezugspersonen auf.

Die Hirnforschung hat ebenfalls herausgefunden, daß Menschen einen besonderen Wahrnehmungsschlüssel für das Erkennen von Gesichtern besitzen. Wird dieser Funktionskreis – etwa durch eine Hirnverletzung an einer ganz bestimmten Stelle – gestört, so entfällt die Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen. Es ist schon kurios, wenn ein erwachsener Mensch, der ansonsten normal sieht, plötzlich seinen Arzt, seine Freunde und Verwandten, ja seine eigene Mutter am Gesicht nicht mehr identifizieren kann, sondern erst ihre StimmeStimme hören muß.7 Gesichter sind ihm nur noch der Ort, von dem die Stimmen herkommen. GesichtsblindheitGesichtserkennung, Gesichtsblindheit (Prosop-agnosie, von prosopon = Gesicht und agnosis = Nichtwissen) kann auch angeboren sein. Inzwischen gibt es Gesichtserkennungssoftware, die sogar mehr leistet als menschliche Gehirne.

Verläßlichkeit der Menschen und der Dinge

Studien über Gefängnisinsassen förderten zutage, daß ein hoher Prozentsatz während der Kindheit nicht die Zuwendung einer zentralen Betreuungsperson genossen hat. Bei 50 % der Insassen wechselten die Betreuer bis zum 14. Lebensjahr. Zu oft wechselnde Bezugspersonen, auch wenn sie sich Mühe geben, entmutigen und überfordern das Kind.1

Ähnlich sieht es in schlecht geführten Säuglingsheimen aus. Sehen die kleinen Heimbewohner immer wieder andere Gesichter und hören sie immer wieder andere Stimmen, so führt dies schließlich zur Resignation. Die Lächelreaktion des Halbjährigen stirbt ab. Er hat seine Vertrauten gesucht und nicht gefunden. Die Verlassenheitsangst wird ihn nie mehr ganz loslassen. Was das für das Neugier- und Erkundungsverhalten des Kleinkindes und damit für seine geistige Entwicklung bedeutet, kann man sich unschwer vorstellen. Das Kind, das sich nicht hat binden können, versäumt weitere Lern- und Erfahrungsschritte. So urteilt die Schweizer Logopädin Barbara ZollingerZollinger, Barbara, die sich auf eine langjährige kindertherapeutische Praxis berufen kann: Wenn das Kind sich ständig vergewissern muß,

daß die Bezugsperson noch anwesend ist, wird es sich der Gegenstandswelt nicht auf die Art widmen können, daß es die Bedeutung seiner Handlungen entdecken kann. Ist es einem Kind nicht möglich, eine gute Beziehung zu einer anderen Person aufzubauen, kann es sich auch von den Gegenständen nicht rufen lassen.2

Nie mehr in unserem Leben brauchen wir soviel Fürsorglichkeit und soviel Gegenwart der uns vertrauten Personen wie in den ersten drei Lebensjahren.

Die zahllosen, unverläßlich-flüchtigen, jederzeit aufkündbaren Beziehungen der Erwachsenen sind nicht Sache des Kindes. Kinder brauchen die Dauerbetreuung durch wenige Personen. Das ist schon aus sprachlicher Sicht einleuchtend und auch in Säuglingsheimen möglich. Die Kommunikation klappt am besten mit denen, die das Kind ständig betreuen und Stück für Stück miterleben, wie sich das Kind Welt und Sprache erobert. Nur durch ständiges Dabeisein kann man sein Ohr für die unvollkommenen Artikulationen des Kleinkinds schulen und sie auf Anhieb verstehen. So ist es gar nicht selten, daß Mütter die Dolmetscher selbst für diejenigen Väter spielen müssen, die ihr Kind täglich sehen.

Dennoch brauchen unter Dreijährige nicht ständig am Rockzipfel der Mutter hängen. Sie können durchaus auch feste Bindungen außerhalb ihrer Familie aufbauen. Wenn, ja wenn die öffentliche Kinderbetreuung dies im Auge behält und die Bedingungen dafür schafft, können auch Krippenkinder gedeihen. In traditionellen Kleingesellschaften wachsen Dreijährige oft in altersgemischten Gruppen auf und eine ganze Dorfgemeinschaft übernimmt die Erziehungsarbeit. Jahrtausende lang war eine breit abgestützte Betreuung in der Horde die Norm.

Die Verläßlichkeit der Welt ist auch eine Verläßlichkeit der Dinge. Das Kind drückt auf die Klinke, und die Tür gibt nach. Es greift nach dem Löffelchen, und das läßt sich widerstandslos fortnehmen. Von einem Malstift kann man die Kappe abnehmen und wieder aufstecken. Wieder andere Sachen sind fest und lassen sich gewöhnlich nicht von der Stelle bewegen. Es bläst in seine Kindertrompete hinein, und es gibt einen Ton. Es bläst in Seifenlauge hinein, und schon steigen schillernde Blasen auf, die zerplatzen, wenn man sie antupft. Papier kann man zerreißen und zerknüllen. Schlüssel passen in Schlüssellöcher, wenn man lange genug stochert. Ein bißchen Druck oder Zug an der richtigen Stelle genügt, und schon rauscht ein Wasserschwall daher und spült alles fort. Man drückt das Plastikentchen unter Wasser. Wenn man es dann losläßt, schießt es wieder an die Oberfläche. So lassen wir uns von den Dingen belehren, bilden Erwartungen, tragen sie wieder in die Welt hinein und werden nicht enttäuscht. Solche Urerfahrungen mit den Menschen und den Dingen werden nicht von der Sprache geschaffen, aber in sie aufgenommen. Das ist die Bodenhaftung der SpracheSpracheBodenhaftung der Sprache, ihre Erdung.3

Ein Vater beobachtet seinen Sohn:

Sein ganzes Interesse gilt dem Löffel. Nicht um damit zu essen. Um zu sehen, wie er reagiert, wenn man etwas zu ihm sagt. Oder wenn man ihn berührt. Er stößt ihn sachte an. Gibt ihm einen Schubs. Als möchte er sehen, was nun der Löffel tut. Ob er Antwort gibt. Oder ob er still liegen bleibt. Noch ein kleiner Schubs – und der Löffel fällt zu Boden. Pierre kann ihn nicht wieder aufheben. Er murrt. Nichts geschieht. Er beginnt zu schreien. Ich hebe den Löffel für ihn auf. Pierre lächelt. Gibt ihm einen kräftigen Schubs, so daß er wieder zu Boden fällt. Ich hebe ihn auf. Er wirft ihn weit weg und quietscht vor Vergnügen. Pierre und die ihn umgebende Welt. Er schaut. Er patscht. Er klopft. Er schreit. Er versucht. Er will herausfinden, wie das funktioniert. Was dahintersteckt. Er klapst hierhin. Nochmals. Sieh an. Und nochmals. Nun ist er überzeugt davon. Alles, was ihm einfällt, muß gleich ausprobiert werden. Ob das geht? Er versucht es. Er versucht, die Welt und die Kräfte, die in ihr wirken, zu verstehen.4

SpiegelbildSpiegelbild und EmpathieEinfühlungsvermögen (Empathie)

Ohne die Liebe zu sich selbst ist auch die Nächstenliebe unmöglich.

(Hermann HesseHesse, Hermann)

Bubi Scupin schien sich im Alter von einem Jahr im Spiegel zu erkennen. Haben sich die Eltern da getäuscht? Als Einjähriger und noch später drückte DarwinsDarwin, Charles Sohn sein Gesicht auf den Spiegel und küßte sein Ebenbild – gewiß kein Indiz dafür, daß er sich im Spiegel erkannte.1 Nach neueren systematischen Beobachtungen erkennen sich Kinder in Einzelfällen ab 15 Monaten. Die meisten brauchen bis zu zwei Jahren, bis sie merken, daß sie sich selbst gegenüberstehen. Dann sind Kinder auch in der Lage, das eigene Spiegelbild mit dem eigenen Namen bzw. mit »ich« zu bezeichnen, und können sich auch auf Fotos erkennen. In der geistigen Entwicklung stark zurückgebliebene Kinder erkennen ihr Spiegelbild spät oder gar nicht. Den klassischen Markierungstest bestehen aber auch Schimpansen, Zwergschimpansen (Bonobos), Orang-Utans, Elstern und andere Rabenvögel. Denn wenn sie sich im Spiegel sehen, wischen sie sich den von den Forschern aufgemalten roten Farbtupfer von der Stirn, anstatt ihn nur auf dem Spiegelbild zu bemerken.Darwin, Charles2 Andere Tierarten sehen gewöhnlich im Spiegelbild den Artgenossen, an dem sie bald das Interesse verlieren. Aber die Forschung zur Selbstwahrnehmung von Tieren geht weiter, z.T. mit modifizierten Tests, die den Eigenwelten der Tiere besser entsprechen als ein Sehtest.3

 

Setzen Sie einfach Ihr Töchterchen vor den Spiegel und schauen Sie zu, was es macht. Berührt es den Spiegel mit dem Gesicht? Will es seinem Bild etwas anbieten, wirft es ihm einen Ball zu? Versucht es, hinter den Spiegel zu schauen wie hinter eine Wand? Oder zeigt es ein scheues, verlegenes Lächeln und wirft verstohlene Seitenblicke auf sein Ebenbild? Befangenheit und Vermeidung könnten als Übergang zum Selbsterkennen gelten, als erstes Indiz dafür.

Um ganz auf Nummer sicher zu gehen, malen Sie Ihrem Töchterchen, wie es die Forscher mit Kindern und Äffchen taten, unbemerkt einen dicken roten Farbklecks auf die Stirn. Faßt es sich jetzt verwundert an die eigene Stirn anstatt nur nach dem Fleck im Spiegel zu greifen? Will es sich den Fleck wegwischen? Schneidet es Grimassen, um zu sehen, wie das aussieht? Dann gibt es wohl keinen Zweifel, daß es sich erkannt hat.


Wie alle Affen reagieren Berberaffen beim ersten Anblick ihres Spiegelbildes mit einer Mischung aus Erstaunen und Vorsicht.

Die Münchener Verhaltensforscherin Doris Bischof-KöhlerBischof-Köhler, Doris hat eine Kindergruppe, die sie anhand des Spiegeltests in »Nichterkenner«, die ihr eigenes Spiegelbild für eine Fremdperson hielten, »Übergänger« und »Erkenner« einteilen konnte, vor folgende Situation gestellt: Eine erwachsene Spielpartnerin – nicht die Mutter, die im Hintergrund dabeisitzt – hatte ihren Teddybären mitgebracht. Sie verwickelt das Kind in ein Spiel, wobei nach etwa 20 Minuten dem Teddy beim Ausziehen eines Jäckchens »versehentlich« ein Arm abfällt. Die Spielpartnerin mimt Trauer, schluchzt und schneuzt sich: »Mein Teddy ist kaputt!« Wie reagieren die Kleinen?

Es gab »Helfer«, die ihre ganze Aufmerksamkeit der trauernden Partnerin und dem »armen« Teddy widmeten, sich ruhig und direkt neben sie setzten, ihr zum Trost ein anderes Spielzeugtier anboten, selbst den Teddy reparieren wollten oder zur Mutter liefen und sie zur Reparatur aufforderten. Es gab zweitens verwirrte, ratlose Kinder, die nichts unternahmen, und drittens deutlich »Unbeteiligte«, die das Ereignis nicht weiter zu berühren schien.4

Vergleicht man nun »Farbtupfer-Test« und »Empathietest«, so ergibt sich ein hochinteressanter Befund: Ausnahmslos alle »Helfer« waren zugleich Kinder, die sich selbst erkannt hatten; umgekehrt gehörte keiner der »Nichterkenner« zu denen, die sich in die Betrübnis der Partnerin einfühlen konnten und sie zu trösten versuchten. Folgerung: Sich selbst erkennen ist eine Voraussetzung für die Fähigkeit, sich mitfühlend in die Lage des anderen hineinzuversetzen und Anteil an seinem Glück oder Unglück zu nehmen. Ähnlich ist die bewußte Verfügung über eigenen Besitz Voraussetzung dafür, daß das Kind auch Achtung vor fremdem Eigentum entwickelt. Wer sich seiner selbst bewußt wird, sieht auch das »Du«. Und umgekehrt: Indem wir uns auf ein »Du« zubewegen, werden wir zum »Ich«. Im anderen erfaßt der Mensch den anderen als ein zweites »Ich«. Später wird klar: Nur wer sich selbst annimmt, kann auch andere annehmen.

Empathie, so verstanden, ist etwas anderes als Gefühlsansteckung, die als Vorläufer von Empathie gilt und schon von Geburt an beobachtet werden kann. Babys fangen laut zu weinen an, wenn ein anderes in ihrer Umgebung schreit, ebenso, wenn sich die Eltern in ihrer Gegenwart laut streiten. Es ist eine Stimmungsübertragung, die man aus den Fußballstadien kennt wie auch aus dem Tierreich. Herdentiere können auf diese Weise ihr Verhalten gleichschalten, plötzlich fliegt die ganze Schar wie auf Kommando weg. Empathie setzt hingegen eine seelische Grenzziehung voraus, das Kind läßt sich nicht bloß anstecken, sondern fühlt und versteht, wie es dem anderen zumute ist. Dies ist kein blindes Ergriffenwerden mehr.

Sich-selber-Erkennen und Empathie scheinen sehr stark auf Reifungsvorgängen zu beruhen und weniger auf besonders sorgfältiger Erziehung oder gar Dressur: Aus »Nichterkennern« und »Unbeteiligten« werden wenig später ebenfalls »Erkenner« und »Helfer«. Es handelt sich demnach um Fähigkeiten, die bei »normalen« Bedingungen, d.h. in einem Klima der Geborgenheit, innerhalb eines bestimmten Zeitraums gleichsam sprießen, platzen und aufbrechen, ohne daß man den Zeitpunkt des Knospens gezielt beeinflussen kann. Sie treten außerdem in einer festgelegten Reihenfolge auf (von der Nachahmung über das Selbsterkennen zum Einfühlungsvermögen), die man nicht vertauschen kann. Dafür gibt es eine gewisse genetische Garantie und eine neuronale Basis, die SpiegelneuronenSpiegelneuronen (vgl. S. 95). Fortbestehen und weitere Entwicklung des Einfühlungsvermögens hingegen sind viel stärker umweltabhängig. Was heranreift, wird sich nicht immer voll entfalten können und kann auch wieder verkümmern. Auf die Verschränkung von Reifung und Entwicklung werden wir auch beim Erwerb der Sprache stoßen.