Fall Jeanmaire, Fall Schweiz

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Aber Mur und Mary?

Sie verharrten im Zustand von Phantomfiguren. Der Winter kam ins Land, der Frühling, und noch immer tappte die Schweizer Abwehr im Dunkeln.

Am 16. Mai 1975 kam Bewegung in die Sache. An jenem Frühsommertag sprach CIA-Verbindungsmann Paul van Marx an der Taubenhalde vor und unterhielt sich eingehend mit den Kommissären Hofer und Louis Pilliard. Der damals 47-jährige Pilliard, ein zupackender und wortwie schreibgewandter Polizist, sollte in den Ermittlungen gegen Mur und Mary die zentrale Figur werden. Während vierzehn Jahren hatte er bei der waadtländischen Sicherheitspolizei gearbeitet und dann zur Bundespolizei gewechselt, wo er in zwölfjähriger Dienstzeit Erfahrungen in der Gegenspionage sammelte. Drei Jahre später, als Zeuge im Jeanmaire-Prozess, charakterisierte er sich selbst als Spezialist für die «sowjetischen Probleme in der Schweiz».19

Hofer und Pilliard versuchten, van Marx «die Wichtigkeit der meisten Fälle für uns» bewusst zu machen. Sie verlangten von der CIA eine Bewertung der Quelle und wollten wissen, wie es um deren Zugänglichkeit stehe, ob es sich um einen «Abspringer» oder um einen «Doppelagenten» handle und «wieweit wir grünes Licht für eingehende Ermittlungen, evt. Befragungen haben».20 In zwei Fällen, erklärten sie van Marx, seien immerhin die nationalen Interessen und die Sicherheit der Schweiz tangiert. Die XX-Verbindung möge also prüfen, ob die Sicherheit der Quelle oder die Interessen der Schweiz Vorrang hätten. Und weil die beiden Beamten endlich Klarheit haben wollten, unterbreiteten sie ihrem Kollegen einen schriftlichen Fragebogen, in dem einleitend festgestellt wird:

Trotz den gegebenen Präzisierungen in dieser Affäre war es uns nicht möglich, das Paar zu identifizieren. Daher scheint es uns unumgänglich, unserer Quelle die folgenden Fragen stellen zu können in der Hoffnung, dass uns geantwortet wird.

Die Fragen lauteten:

1. Wohnen Mur und Mary immer noch in Lausanne?

2. Ist Mur welscher oder deutschschweizerischer Herkunft?

3. Unter welchen Umständen wurden sie rekrutiert? Durch Einladungen der sowjetischen Botschaft?

4. Ist Mur Berufsoffizier, wie sein Wunsch, zum Militärattaché in Moskau ernannt zu werden, vermuten lässt?

5. Welchen Grad bekleidete er 1964?

6. Besuchte Mary in Bern die französisch- oder die deutschsprachige Schule?

7. War ihr Vater Beamter?

8. Wurde sie in der Schweiz oder in Osteuropa geboren?

9. Aus welchen Gründen hatte ihr Vater Kontakt zum Armeestab?

10. In welcher Abteilung arbeitete sie im Militärdepartement?

11. Was machte seinerzeit Mur, arbeitete er im EMD?

12. Signalement des Paares: Alter anno 1964? Haben sie Kinder?

13. Könnten die Code-Namen in der einen oder andern Weise den richtigen entsprechen?

Paul van Marx packte den Fragebogen ein, verabschiedete sich und liess zweieinhalb Wochen nichts mehr von sich hören. Dann, am 2. Juni 1975, fand mit den Bupo-Beamten eine weitere Besprechung statt. Van Marx brachte allerdings nicht die Antworten mit, sondern eine Liste mit weiteren Personen, die laut XX Anlass zu Verdacht gaben. Darunter befanden sich ein pensionierter Oberst im Generalstab und sogar ein Divisionär.21 Van Marx versicherte jedoch den Schweizern, sie würden demnächst Bericht erhalten zu ihren Fragen; ferner gebe die Zentrale grünes Licht «für ausgedehntere Erhebungen, ausser dem direkten Angehen bzw. Befragung der Hauptpersonen». Für diesen letzteren Fall wünsche XX vorher avisiert zu werden. Dazu überliess van Marx seinen Kollegen eine weitere Notiz über Mur. Für diesen sei im November 1964 eine Reise nach Frankreich geplant gewesen, um sich mit der dortigen Fliegerabwehr vertraut zu machen. Mur reise, hiess es darin weiter, täglich von Lausanne nach Bern zur Arbeit, und die Sowjets hielten «Ausschau nach einem toten Briefkasten in den Wäldern entlang der Strasse». Ausserdem sähen die Russen vor, Mur im Gebrauch der «Exacta»-Kamera zu instruieren.22

Fotoapparate, über Land fahrende Sowjetagenten, die in gepflegten Schweizer Forsten nach toten Briefkästen spähten, rätselhafte Codenamen für ein Paar, das irgendwie mit Russland liiert war, dieser Mur, der scheinbar mit der Fliegerei zu tun hatte – dies alles tönte einigermassen dramatisch, waren doch, wenn man den XX-Meldungen trauen konnte, eine ganze Reihe von Elementen versammelt, die zu den klassischen, von eigentümlicher Abenteuerromantik umwehten Mustern eines veritablen Spionagefalles gehörten.

Animiert durch die letzte Notiz des Mister van Marx suchte die Bundespolizei nun in den Reihen der Flieger- und Flabtruppen nach einem Verdächtigen. «Wir liefen ins Leere», erinnert sich Kommissär Hofer.23

Erneut verstrichen Tage und Wochen, bis am 24. Juni 1975 die XX-Verbindung endlich geruhte, auf den im Mai unterbreiteten Fragenkatalog zu reagieren.

Die Antworten lauteten:24

1. Unsere Info datiert von 1964 und wir können nicht sagen, ob sie noch in Lausanne leben.

2. Unbekannt. MUR u. MARY lernten sich kennen, als sie in «einer der Abteilungen des schweiz. Generalstabes» zu arbeiten begann; da sie französisch als ihre Muttersprache betrachtet, wäre anzunehmen, dass «MUR» diese Sprache zumindest gut beherrscht.

3. Nicht bekannt.

4. MUR sagte lediglich, er würde «gerne» Militärattaché in Moskau sein, um russisches Leben und Bräuche kennenzulernen; nicht um sich mit Spionage zu befassen. Über diese letzte Äusserung berichtete der GRU-Offizier, dass MUR diese vorgeblich scherzhaft gemeint habe, dass MUR jedoch im Ernst über seinen Patriotismus und seine Feindschaft gegen kommunistische Ideen gesprochen habe.


Jean-Louis Jeanmaire (rechts aussen) als Hauptmann der Infanterie und Paul Chaudet (vierter von rechts) vor einem Ausflug in die Lüfte. Der Begriff «Luftschutz» führte im Ausland wiederholt zur falschen Annahme, Luftschutzchef Jeanmaire sei selber ein führender Exponent der Flugwaffe.

5. Nicht bekannt.

6. Siehe ursprüngliche Information: «Sie war hauptsächlich vom frühen Alter an in einem Fribourger-Internat erzogen worden und betrachtete französisch als ihre Muttersprache […]»

7. Siehe ursprüngl. Information: «Mary’s Vater hatte weitreichende Verbindungen im schweiz. Generalstab.»

8. Nicht bekannt, möglicherweise aber Russland, da MUR gesagt hatte, «Mary war ein Opfer der russischen Revolution von 1917.»

9. Nicht bekannt.

10. u.11. Nicht bekannt.

12. Nicht bekannt, keine Erwähnung von Kindern.

13. Wir können darüber nicht spekulieren; erst feststellbar ob Namen richtig, als Alias oder Code aufzufassen sind, wenn eine Identifizierung erfolgt ist.

Wesentliche neue Erkenntnisse lieferten diese Antworten der Bundespolizei nicht. Dennoch gelang an jenem 24. Juni offenbar die Identifizierung. Mur und Mary, kamen die Kommissäre zum Schluss, konnten niemand anderes sein als Jean-Louis und Marie-Louise Jeanmaire.25

Weshalb aber ging dieser Offenbarung eine so lange Inkubationszeit voraus?

Der Abgang des James Jesus Angleton

Als Bill Hood im Oktober 1974 mit seinem ersten «Della Casa»-Paket angereist war, ahnte er vermutlich nicht, dass sein Besuch auch gleich die Abschiedsvisite in Bern sein würde. Kaum zurück in seiner Heimat, waren es die Büros der CIA-Counterintelligence, die sich in einen Taubenschlag verwandelten. Dort nahm eine lange Ära plötzlich ihr Ende – die Ära des James Jesus Angleton.

Angletons Fall rechtfertigt einen Ausflug in die schatten- und fintenreiche Welt der grossen Geheimdienste. Tief wollen wir freilich nicht in diesen Kosmos eindringen, lediglich ein paar Schritte, die zeigen, dass die Flügelschläge jener Schattenwelt hin und wieder auch den ruhigen Kleinstaat im Herzen Europas berührten.

James Jesus Angleton war eine ebenso charismatische wie exzentrische Persönlichkeit und zu Lebzeiten schon eine Legende. Aufgewachsen in Arizona und Italien, immatrikulierte er sich 1937, als 20-Jähriger, an der Yale University und studierte Literatur. Gemeinsam mit anderen Studenten gründete er das literarische Magazin «Furioso», das zeitgenössische amerikanische Poesie publizierte.26 Aber Angleton liebte nicht nur die Kultur, er hatte auch eine Neigung zur Natur. In seiner Freizeit züchtete er Orchideen und widmete sich dem Fischfang. Fischen ging ihm über alles. Weil auch der stetige Genuss von Alkoholika Teil seines Alltagsrhythmus war, legte er entlang des Flüsschens, an dem er seine Fischpacht hatte, in regelmässigen Abständen Depots mit seinen Lieblingsflaschen an.

Fischen war, im übertragenen Sinn des Wortes, die eigentliche Berufung des James Jesus Angleton. Wie sein späterer Freund Bill Hood trat er 1943 in die Dienste des OSS ein. Als Counter Intelligence Officer wirkte er von 1944 bis 1949 in Italien und kehrte dann nach Washington zurück, wo er in der CIA-Zentrale eine steile Karriere machte und bereits 1954 zum Chef der Abwehr aufrückte. In dieser Funktion hatte es Angleton in erster Linie mit der Aufspürung feindlicher Spione zu tun, mit Doppelagenten, Überläufern, Maulwürfen und der ganzen Palette jener höchst enigmatischen, für Laien kaum nachvollziehbaren Tricks, mit denen die einen die anderen an die Wand zu spielen suchten – und umgekehrt. Während der ersten acht Jahre seiner Amtszeit führte Angleton die Abwehr effizient.27 In den 60er-Jahren allerdings nahmen seine Exzentrik und ein fast krankhaftes Misstrauen zunehmend skurrile Züge an, eine Entwicklung, hinter der eine Figur stand, die im west-östlichen Spionagetheater eine wichtige Rolle spielte: der Überläufer Anatoli Golitsin.

 

Dieser Golitsin, auf Aussenposten in Helsinki, hatte Ende 1961 bei den Amerikanern um Asyl nachgefragt und sich bereit erklärt, für deren Dienste zu arbeiten. Obwohl die CIA-Funktionäre, die den abgesprungenen KGB-Major auf Herz und Nieren prüften, Anmassung, Geltungssucht und Sendungsbewusstsein in hohen Dosen diagnostizierten und seinen Charakter als problematisch einstuften, nahm ihn Abwehrchef Angleton unter seine Fittiche – und dabei blieb es über die Jahre. Angleton setzte voll auf den Russen. Da Golitsin seinem ursprünglichen Arbeitgeber den Rücken aber definitiv zugekehrt hatte, verlor er nach 1962 relativ rasch an Wert. Doch er verstand es, diesen Verlust mit weitschweifigen und reichlich abenteuerlichen Verschwörungstheorien zu kompensieren. Eine lautete etwa, der Bruch zwischen den Sowjets und China sei nichts als ein gross angelegtes Manöver, das einzig dem Zweck diene, den Westen zu täuschen. Golitsin verstand es, seine Spekulationen so überzeugend und brillant zu präsentieren, dass alles wie die Abfolge logischer Schritte aussah. Angleton war beeindruckt – und liess sich zudem vom Misstrauen anstecken, das sein Schützling allen anderen Überläufern entgegenbrachte. Golitsin scheute in der Tat keine Anstrengung, Konkurrenten, die seine eigene Position hätten schwächen können, gar nicht erst in die Nähe der US-Abwehr kommen zu lassen.

Bis 1973 genoss Angleton stets Rückendeckung vom obersten Boss der CIA, Richard Helmes. Dann aber kam es an der Spitze der Company zu einem Wechsel. 1974 übernahm William Colby das Szepter, ein alter Rivale, der an der mentalen Gesundheit des Abwehrchefs zweifelte und seine merkwürdigen Machenschaften diskret beobachten liess. Denn mittlerweile war im Schoss der CIA gar die Vermutung aufgekommen, der in seinen Komplexen gefangene Angleton könnte selbst ein Sowjetagent sein. Am Ende jenes Jahres schickte Colby ihn in die Wüste, und mit ihm verliessen auch seine Getreuen, darunter Bill Hood, die CIA.

Angletons Nachfolge trat der griechischstämmige George Kalaris an. Er und seine Leute hatten vorerst das Chaos aufzuarbeiten, das der Orchideenzüchter hinterlassen hatte. Sie sichteten die immensen Materialbestände, die in den Panzerschränken lagerten, fast ausschliesslich wertloser Papierkram, den sie sogleich vernichteten. Im bestgehüteten dieser Safes stiessen sie allerdings auf ein Dossier, das sie augenblicklich in ihren Bann zog: eine Liste mit den Namen von 20 GRU-Offizieren und ihren Informanten (darunter Mur und Mary), die in verschiedenen Ländern ausserhalb der USA illegalen Aktivitäten nachgegangen waren oder immer noch nachgingen. Die Quelle war ein Sowjetoffizier, der sich bereits zu Beginn der 60er-Jahre und dann nochmals 1972 eine Zeit lang in New York aufgehalten und dort mit dem FBI jeweils Kontakt aufgenommen hatte. Das FBI stufte ihn als «bona fide»-Quelle ein und leitete die GRU-Listen dorthin, wo sie richtigerweise hingehörten – zur Abwehr. Nick Nack – so der FBI-Codename dieses Agenten – war eine geradezu ideale Anwerbung. Denn er hatte nie die Absicht, zu den Amerikanern überzulaufen, sondern kehrte stets wieder in sein «Stammhaus» zurück, was ihn interessanter machte als die definitiven Überläufer. Doch Angleton sah in Nick Nack nur den Provokateur, der nichts anderes im Schilde führte, als Golitsin auszuhebeln, und versenkte die Listen, ohne sie in die zentrale Datenbank einzuspeisen, in seinem Panzerschrank. Der Abwehrchef, kommentiert Angletons Biograf Tom Mangold, hätte zeit seines Lebens kaum einen unvorsichtigeren Entscheid fällen können.28

Wer aber war dieser geheimnisvolle Nick Nack? Vieles deutet darauf hin, dass er mit Nikolai Dimitriewitsch Tschernow identisch ist, jenem «Maulwurf», der die sowjetische Militärspionage mit besonderer Nachhaltigkeit sabotierte. Der ehemalige KGB-General Vitali Pawlow widmete ihm in seinem Werk über «geheime Missionen» ein eigenes Kapitel.29

Danach hatte Tschernow im GRU nicht die Funktion eines eigentlichen Agenten, sondern die eines Spezialisten für die fototechnische Verarbeitung von Spionagematerial inne. Über sein Pult wanderte die aus den GRU-Residenturen im Ausland eingehende Post, Tschernow kopierte und fotografierte diese Agentenberichte und legte sich ein Inventar jener Personen an, die seine Kollegen als Informanten angeworben hatten. Als er von 1960 bis 1963 als «operativer Techniker» der GRU-Residentur selbst in den Vereinigten Staaten weilte, wurde er von den amerikanischen Diensten angeworben – mit Erfolg: Er übergab ihnen Material, das ermöglichte, in den USA wie in Grossbritannien verschiedene Sowjetagenten zu verhaften.

1972 reiste Tschernow erneut in die USA und händigte den Amerikanern mehrere tausend Dokumente über das GRU-Agentennetz aus, ein eigentliches Who’s who, dank dem die französische Abwehr fast alle in ihrem Land tätigen Spione enttarnen konnte30 – und das auch, wie Pawlow schreibt, das Schicksal des Schweizer Ehepaars Mur und Mary besiegelte.

Angleton-Biograf Mangold kommt bezüglich der Nick-Nack-Listen zu demselben Schluss. Als Angletons Nachfolger Kalaris jenes Material entdeckt habe, sei er ins nächste Flugzeug nach Bern gestiegen und habe «den dankbaren Schweizer Behören» die nötigen Hinweise gegeben, die direkt zur Enttarnung Jeanmaires geführt hätten. Der Autor hält weiter fest, die Verratstätigkeit des Brigadiers hätte «Jahre früher beendigt werden können, hätten Golitsins Paranoia und Angletons Obsessionen die CIA-Abwehr nicht in eine Sackgasse morbider Ängste und gelähmter Ermittlungen» hineinmanövriert.

War Nick Nack also Nikolai Tschernow? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Mit letzter Gewissheit lässt sich seine Identität nicht klären. Aufgrund der Akten lässt sich auch nicht rekonstruieren, ob – nach Bill Hoods Vorsprache im Herbst 1974 – tatsächlich erst der entschiedenere Auftritt des neuen CIA-Abwehrchefs Kalaris den Schweizern die Augen öffnete.31 Und im Dunkeln bleibt letztlich, ob die Anwerbung von Nick Nack beziehungsweise Nikolai Tschernow auf den legendären Oleg Penkowski zurückging. Dagegen scheint gesichert, dass das kompromittierende Material während Jahren ungenutzt in den CIA-Schränken lagerte.

Alles in allem sorgten Schicksale und Zufälle auf einer grösseren Bühne dafür, dass auf der Kleinbühne Schweiz die Affäre Jeanmaire platzte. Ohne den Wechsel in der US-amerikanischen Gegenspionage wäre der Brigadier vielleicht in Ehren ergraut.


Acht Monate waren seit Eingang des ersten Hinweises verstrichen. Acht Monate, um in der Region Lausanne einen höheren Offizier ausfindig zu machen, dessen Frau eine Beziehung zu Russland hatte. Gab es dort, muss man sich fragen, denn Tausende solcher Offiziere? Hätte die Konsultation der Personalakten oder des Militärprotokolls, in dem sich Offiziere mit Diplomatenkontakten – so auch Jeanmaire – eintrugen, nicht rascher zum Ziel führen müssen?

Hier stösst man auf einen wunden Punkt. Natürlich war der erste Gedanke der Bupo, sich der Personalakten zu bedienen. Nur, die Abwehr hegte «dem Militär» und insbesondere dem von Divisionär Weidenmann geleiteten Nachrichtendienst gegenüber tiefes Misstrauen.32 Lange sträubte sie sich, mit den Amtsstellen des EMD Kontakt aufzunehmen. Als die Zusammenarbeit dann doch gesucht wurde und die Personalakten zur Verfügung standen, sei es, erinnert sich Kommissär Hofer, mit der Identifizierung ziemlich rasch vorwärts gegangen.

Nun wäre eigentlich anzunehmen, die Bundespolizei hätte nach jenem Tag der Erkenntnis postwendend die nötigen Massnahmen zur Beschattung von Mur ergriffen.

Dem war nicht so. Wiederum verstrichen Wochen. Aus den Akten der Bundesanwaltschaft geht nicht hervor, woran die eigentümliche Passivität der Beamten lag. Hatte «die Zentrale» noch immer nicht grünes Licht für nachhaltige Ermittlungen gegeben? Schien es der Bupo, seit jeher darauf fixiert, alle Gefahren im linken Spektrum zu orten, schlicht zu abenteuerlich, das Undenkbare zu denken – dass nämlich ausgerechnet ein Brigadier, und erst noch ein Ausbund bekennenden und lauten Patriotismus’, in die Fänge der Sowjets geraten war? Fürchtete sie vielleicht, selbst in eine Falle gelockt zu werden? Oder wollte sie aus Rücksicht auf ein aktuelles und überaus sensibles Thema der Politik unter allen Umständen das Risiko ausschalten, dass zur Unzeit etwas durchsickerte?

Für den 1. August 1975 war in Helsinki die feierliche Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte anberaumt, die, wie ihre Verfechter hofften, der Entspannung zwischen West und Ost neue Impulse verleihen würde. Seitens der Schweiz sollte der sozialdemokratische Bundesrat und Aussenminister Pierre Graber die Akte unterzeichnen. Die Unterschrift unter ein Dokument aber, das insbesondere den Sowjets ein Anliegen war, hätten breite Volkskreise absolut nicht verstanden, wäre kurz zuvor bekannt geworden, dass der ideologische Feind einen Schweizer Brigadier auf Abwege geführt hatte. Auch ohne Kenntnis dessen, was sich in jenen Tagen zusammenbraute, herrschte in rechtsbürgerlichen Kreisen tiefes Misstrauen gegen alles, was mit dem Kürzel KSZE zu tun hatte.33

III. Die Überwachung

Mur mutiert zu Morat

Der Sommer verstrich, die Politik ruhte, die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte ging ohne Zwischenfall, aber begleitet von kritischen Tönen der bürgerlichen Presse, über die Bühne.

Am 15. August 1975 berief Bundesanwalt Rudolf Gerber eine Konferenz seiner engsten Mitarbeiter ein, um das Dispositiv für Jeanmaires Überwachung zu erstellen. Die Devise, nach der zu handeln war, lautete: maximale Effizienz, maximale Diskretion. Zwei Vorgaben also, die in einem schwierigen Verhältnis zueinander standen. Bis zur Stunde verfügte die Abwehr lediglich über die paar Hinweise der XX-Verbindung, denen die Bupo zwar voll vertraute, die aber vage, teils auch diffus waren und darüber hinaus Handlungen betrafen, die grösstenteils lange zurück lagen. Auf dieser Basis war natürlich nicht an eine sofortige Festnahme oder direkte Konfrontation des Verdächtigen zu denken. Jetzt ging es darum, den Verdacht zu erhärten, seine Vita auszuleuchten und Beweismittel zu sammeln. Im Grunde musste die Abwehr geradezu hoffen, der angehende Pensionär sei noch immer deliktisch tätig, da es andernfalls beinahe unmöglich sein würde, ihm das nachzuweisen, was er laut XX angestellt hatte.

Für die jetzt anbrechende Phase ersetzte die Bundespolizei die Phantombezeichnung Mur durch den Codenamen Morat.

In den folgenden Tagen unterzeichnete der Bundesanwalt eine Reihe von Anträgen zur Überwachung des Telefonverkehrs, die ein Funktionär dem zuständigen Dr. H. beim Rechtsdienst der Generaldirektion PTT persönlich zu übergeben hatte. Sie betrafen Jeanmaires Anschlüsse in seinem Büro, zu Hause in Lausanne und in seiner Absteige in Bern. Dazu kamen etwas später die Anschlüsse zweier Telefonkabinen in Lausanne, die er an Wochenenden regelmässig benutzte, sowie jene seiner Freundin Verena Ogg und im Büro an der Thunstrasse, das ihm nach seiner Pensionierung für die Arbeit an der Zivilschutzstudie zugewiesen worden war. Gleichzeitig mit der Telefon- wurde auch die Postüberwachung angeordnet.

Militärattaché Wladimir A. Pronine, der in der Berner Sowjetbotschaft das Militärbüro leitete, war schon zuvor ins Visier der Bundesanwaltschaft geraten. Oberst Pronine, der englisch, spanisch und französisch sprach, hatte seine Funktion in der Schweiz erst am 24. Januar jenes Jahres aufgenommen. Zwei Wochen später lieferte die XX-Verbindung der Abwehr einen Abriss von Pronines Karriere, der mit der Bemerkung endete: «Auf Grund seiner Stellung wird er als GRU-Funktionär eingestuft.» Am 19. Februar – Monate bevor Mur identifiziert worden war – eröffnete die Bundesanwaltschaft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf Widerhandlungen gegen Artikel 272 StGB und ersuchte die PTT, auch seinen privaten Telefonanschluss zu überwachen.1 Die Telefone von Pronines Adjunkt Wladimir Davidov, der bereits seit 1970 in der Schweiz weilte und sich als Kontaktmann Jeanmaires herausstellen sollte, wurden schon seit längerem abgehört.

Als weitere Massnahme ordnete der Bundesanwalt an, Jeanmaire und die Mitglieder des sowjetischen Militärbüros zu observieren. Es ging darum, «die Nahtstelle zwischen Agent und Führung zu ermitteln. Es muss der Nachweis der ND-Tätigkeit erbracht werden können (Nahtstelle als schwächster Punkt).»2

 

Alle diese Vorkehrungen markierten den Beginn einer Phase intensiver Beschattung des Brigadiers und seiner wahren oder vermeintlichen sowjetischen Kontaktleute. Die Arbeit, die die Berner, die Waadtländer und die Bundespolizisten leisteten, fand ihren Niederschlag in Hunderten von Seiten amtlichen Papiers, auf denen sie alles, aber auch wirklich alles notierten, was sie sahen, hörten, rochen und fühlten. Das Resultat ist ein polizeiliches Prosawerk, von dessen Lektüre eine eigentümliche Faszination ausgeht. Nicht, weil das Schrifttum sprachliche Genüsse böte – das wird kaum der Zweck polizeilicher Rapporte sein können. Auch nicht, weil die Alltagswelt des alternden, aber noch immer vitalen Beschattungsobjekts besonders reizvoll gewesen wäre. Faszinierend ist die Lektüre vielmehr deshalb, weil sie eine Welt offen legt, die dem Publikum üblicherweise verschlossen bleibt. Eine Welt, in der Augen anders sehen, Chauffeure anders fahren, Zeit eine andere Rolle spielt, Gefühle anders interpretiert und Begriffe oder einzelne Wörter verwendet werden, die den polizeilich nicht geschulten Beobachter amüsieren und seinen Sprachschatz jedenfalls erweitern.

«Chefiturm, tout le monde descend!»

Morat war ein eifriger Stadtwanderer. Die Rapporte schildern, wie er durch Berns Gassen und Gässchen flanierte, wo er Spinat, Fleisch und Früchte einkaufte (die Früchte, vorwiegend Trauben, immer am gleichen Früchtestand), wo er einkehrte (vorwiegend in der «Schmiedstube», im «Schweizergarten», manchmal im «Della Casa»), wie sich seine Laune verschlechterte, wenn die Bedienung wieder einmal zu wünschen übrig liess. Beginn und Ende der Mahlzeiten halten die Rapporte ebenso präzis fest wie das, was er mit sich trug, nämlich eine Mappe mit Zeitungen oder nur Zeitungen, wem er begegnete, ob er die Person lediglich grüsste oder ein paar Worte mit ihr wechselte, wie er sich bewegte (schnell oder langsam), ob er sich umschaute, wann er das Büro betrat oder Feierabend machte und sich den Genüssen des Aperitifs zuwandte:

Um 16.27 verlässt er das Büro und spaziert über die Kirchenfeldbrücke, den Kasinoplatz und Theaterplatz und durch die Marktgasse bis zum Käfigturm. Dort kauft sich Morat beim Marronibrater heisse Marroni. Marroni kauend geht er weiter durch die Neuengasse–Genfergasse nach dem Hotel Krebs, wo er um 16.50 hineingeht […].3

Der Umstand, dass Morat zwei Wohnsitze hatte und daher häufig auf Achse war, erschwerte in gewissem Sinn seine Überwachung. Verliess er die Bundesstadt im Auto und zeichnete sich ab, dass die Fahrt Richtung Lausanne ging, mussten die Berner Polizisten unterwegs ihre Waadtländer Kollegen informieren, wo diese ihn «übernehmen» sollten. Solche Absprachen hatten insofern ihre Tücken, als Mitte der 1970er-Jahre das Handy noch nicht erfunden und auch der Polizeifunk, wie es scheint, nicht immer disponibel war, sodass die Observanten stets nach Telefonkabinen oder Restaurants Ausschau halten mussten. Natürlich zeitigten solche Telefonhalte unangenehme Folgen:

Es ist zu erwähnen, dass Morat eine äusserst schnelle Fahrweise an den Tag legte. In Romont musste unsererseits ein kurzer Halt zwecks Avisierung der Waadtländerkollegen eingeschaltet werden, während dieser Zeit Morat einen Vorsprung herausholen und sich einer Überwachung entziehen konnte.4

Andere Male wurden die Beamten wieder abgehängt, weil die Ampeln im ungünstigsten Moment auf Rot wechselten, ein anderer Wagen ihnen den Vortritt verweigerte oder das Bierauto der Brasserie Beauregard ein umständliches Manöver durchführte.

Dem Observierten hingegen schienen die Fahrten zwischen Lausanne und Bern zu behagen: «Ich bin um 9 Uhr aufgebrochen und ganz gemütlich durch das Pay de Vaud gerollt, dabei wählte ich eine sehr schöne Route, ich kam bei Mézières vorbei», meldete Morat telefonisch einem Freund.5 Mézières, dieses kleine, auf dem Plateau du Jorat gelegene Dörfchen mit seinen knapp tausend Einwohnern hatte Morat ins Herz geschlossen. Sein Name taucht wiederholt in den Rapporten auf, und jedes Mal wird auch der Grund des kleinen Umwegs vermerkt. Es war aber nicht das Geburtshaus von General Guisan, dem Morat regelmässig die Reverenz erwies, auch nicht dem renommierten Théâtre du Jorat, sondern der ortsansässigen Metzgerei, die Bratwürste und Charcuteriewaren verkaufte, welche im Ruf standen, vorzüglich zu sein.

Einfacher gestalteten sich die Filatüren – so lautet der polizeiliche, dem Französischen entlehnte Begriff für Beschattung –, wenn Morat im Zug reiste. Aber auch dann gab es ordentlich zu tun, weil Morat eine unruhige Natur war. Am 31. Oktober 1975 etwa hielten die polizeilichen Protokollanten folgendes Verhalten fest:

14.27 M. in der Halle des HB-SBB in Bern vom ND-Sikripo übernommen. Er ist in Eile und begibt sich sofort nach dem Quai 1. Hält sich dort beim Aufgang auf und blickt ständig nach rückwärts.

14.33 Einfahrt des Schnellzuges aus ZH. M. drängt sich sofort durch die wartenden Reisenden auf dem Bahnsteig und belegt einen Einzelplatz. Schwarze Bügelmappe und kleine schw. Serviette legt er ins Gepäcknetz. Drängt sich sofort durch die Leute im Durchgang nach der Plattform, wo er offensichtlich nach jemandem Ausschau hält. Achselzuckend und mit sich redend nimmt er kurz vor Abfahrt des Zuges Platz.

14.36 Abahrt des Zuges nach Fahrplan. M. gegenüber nimmt ein Herr (Typ BR Ritschard) Platz. Ca. 50-jährig, ca. 185–187 cm, Statur kräftig, trug h/blauen Anzug von der Stange. M. nahm kaum Notiz von seinem Gegenüber, welcher zwei, drei Worte in Französisch (kaum Muttersprache) mit ihm wechselt. M. liest Zeitung …. Kurz vor Ankunft des Zuges in Lausanne zieht M. den Regenmantel an, behändigt die Mappen und begibt sich auf die Plattform. Der andere Herr (erwähnt) folgt dicht auf. Kein Gespräch zwischen den beiden.

15.43 fahrplanmässige Ankunft des Zuges in Lausanne. M. springt, wie üblich, noch im Fahren von der Bahn ab und eilt dem Ausgang zu. 2 Funktionäre des SR-VD hängen sofort an. Kontaktaufnahme mit diesen nicht möglich, da M. sich immer wieder umschaut. Überwachung des sign. Unbekannten, welcher M. im Zuge gegenüber sass. Dieser nimmt vor dem Bahnhof eine Taxe und fährt Richtung Oberstadt davon.6

Ein anderer Rapport vermerkt:

Während des kurzen Aufenthaltes in Romont entdeckt er durch das Fenster, auf dem Perron, einen Soldaten ohne Kopfbedeckung, lässt das Fenster herunter und schnauzt den Mann an. Er verwendet dabei (obschon in Zivil) das Wort Militärpolizei, wonach der «Kerl» sichtlich beeindruckt sein Tenu in Ordnung bringt. M lächelt verschmitzt.7

Oder jener andere Zwischenfall:

An der Neuengasse vor dem Restaurant Hopfenkranz legt sich Morat mit Jugendlichen an und «stürmt» mit ihnen. Ein Jüngling tituliert Morat mit Schimpfnamen (alte Seckel) und lässt ihn einfach stehen. Frau O. kann Morat zum Weitergehen veranlassen […].8

Denkbar ist, dass die mässige Ereignisdichte während der wochenlangen Observierungen die polizeiliche Aufmerksamkeit schmälerte. Am 4. November 1975 allerdings kam bei den Beschattern Alarmstimmung auf. Dank Telefonabhörung war bekannt geworden, dass Morat in die Sowjetbotschaft angerufen und Oberst Davidov verlangt hatte. Weil Davidov nicht anwesend war, versuchte es Morat bei diesem zu Hause. Dort antwortete Frau Davidova, welcher der Schweizer Offizier sein Begehren erklärte, worauf sie umgehend ihren Mann anrief, der sich offenbar doch in der Botschaft aufhielt. Das Gespräch, das für die Bundespolizisten aus dem Russischen übersetzt wurde, verlief folgendermassen:

Frau D: Wolodja, wann fährst Du nach Hause?

Herr D: Etwa in dreissig Minuten. Wieso denn?

Frau D: Komm sogleich her; ich habe Dich nötig.

Herr D: Was? Ein Unglück?

Frau D: Ja, was. Alles ist in Ordnung. Komm her! Um Gottes Willen komm her! Ich kann es Dir nicht am Telefon sagen. Geh nach Hause.9

Das Protokoll vermerkt weiter: «Anfangs war Fau Davidova gefasst; aber man spürte es, dass sie sich beherrschte. Zuletzt war sie im höchsten Grade aufgeregt.»