Die Architektur des Knotens

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WIR HABEN ES INS AUTO GESCHAFFT. Die Salatschüsseln stehen zwischen meinen Füßen, ich strecke den Rücken durch und erschrecke mich selbst, wie laut ich dabei stöhne. Der Verkehr ist eine Katastrophe. Richtung Hauptbahnhof blockiert ein Müllwagen unsere Fahrbahn und es staut sich.

Neben dem Müllwagen steht ein Möbeltransporter, die Außenspiegel der beiden haben sich anscheinend verhakt und die Fahrer brüllen sich durch die Fensterscheiben an.

Wohn dich glücklich, steht auf dem Transporter.

Mika liest Johns Comics, John starrt aus dem Fenster. Ich fange an, Kartoffelscheiben unter der Frischhaltefolie rauszufummeln und mir in den Mund zu schieben. Ich mag Kartoffeln. Vor allem in Mayonnaise, überhaupt in Soßen. Kartoffeln erden mich, egal, in welcher Variante.

Eine Horde Jugendlicher mit Rucksäcken zieht vor uns über den Zebra streifen. Wölfe, denke ich. Neandertaler und Wölfe. Und ich muss an die Stadt denken, die Stadt, die die Jungs vor einigen Monaten gebaut haben.

Die Jugendlichen ziehen einen Bollerwagen hinter sich her, voll mit Bierdosen. Die Stimmung zwischen ihn perlt auf und ab, sie sehen aus, als würden sie den Boden gar nicht berühren. Noch vor einem Jahr hätte ich mich darüber lustig gemacht, über ihre unwissende Vorfreude, ihr Lachen, das immer zu laut ist, hätte ihre ausladenden Gesten Gehabe genannt und darin nur das lächerliche Bedürfnis erkannt, sich ständig selbst fühlen zu wollen.

Jetzt kriecht eine Sehnsucht genau danach durch meinen Körper, die mir unangenehm ist.

Ein dunkelhaariger Junge hat seinen Arm um eine Blonde gelegt, eine sehr Hübsche. Sein Arm schwebt auf ihren Schultern, als wüsste der Arm nicht so genau, ob es ihm erlaubt wäre, dort zu sein. Der Junge traut sich was. Ich erinnere mich daran, wie es sich in diesem Alter angefühlt hat, wenn man alles riskiert, mit nur einer Bewegung, sein ganzes Selbstverständnis. Sieg oder Niederlage. Vielleicht ist das immer noch so.

Sie lässt ihn und sein Gesicht explodiert fast unter einem schmalen, scheuen Lächeln.

Wie sehr ich ihn fühlen kann, hier im Wagen, durch die Scheibe starrend, mit Kartoffelsalat zwischen den Füßen.

Wo fahren die hin? Ich würde gern wissen, was sie sich ausmalen … was sie denken, was passieren könnte … dort, wo sie hinfahren. Geister, die sich mitten in ihrem eigenen Urknall befinden, die alle ihre eigene Sonne sind.

Ich seufze schon wieder und stecke weiterhin Kartoffeln in meinen Mund. Mein Leben fühlt sich an, als würde ich in einem fertigen Gemälde leben.

Denke an die Playmobilfrau und strecke mit Schwung meine Arme gerade nach vorne.

»Was ist jetzt los? Glaubst du, das hält dich davon ab, den Kartoffelsalat aufzuessen?«, fragt Jonas mit einem kurzen Seitenblick.

Er bringt mich zum Lachen und ein bisschen dankbar lege ich meine Hand auf sein Bein und drücke kurz und fest zu.

Die Truppe Neandertaler mit dem Bierbollerwagen verschwindet im Hauptbahnhof.

Ich beneide sie, weil für sie alles offen ist, sie haben keine Ahnung, was als Nächstes passiert. Alles könnte passieren.

Ich weiß genau was gleich passiert. Ich weiß ziemlich genau alles, was gleich passiert, und auch, wie es ablaufen wird.

Wir sind im Speckgürtel der Stadt gelandet. Jonas’ Eltern haben mit Abstand noch das unauffälligste Gartentor. Eines, das nicht so aussieht, als wolle es die Köpfe ungebetener Gäste aufspießen. Manche Zäune hier haben sogar goldene Spitzen.

Während ich versuche, den Kartoffelsalat wieder so zu arrangieren, dass er nicht halb weggefressen aussieht, und dazu muss ich so viel Mayonnaise vom Rand runterwischen und dann von den Fingern lecken, dass mir langsam schlecht wird, jammre ich darüber, dass jetzt nicht mehr genug Kartoffelsalat da ist.

Jonas sagt, er würde eh nicht verstehen, warum ich mir mit den Salaten so einen Stress mache, seine Mutter hätte garantiert auch einen Kartoffelsalat und einen Tomatensalat gemacht. Wie immer. Erst schiebt sie es dir zu, sagt er, und dann macht sie es trotzdem selbst. Das weißt du doch.

Die Jungs schnallen sich ab, obwohl wir noch nicht angehalten haben. »Wir sind eingeladen und sie hat darum gebeten«, sage ich. »Das macht man einfach nicht, dass man dann nichts mitbringt.« »Aha«, sagt er, so als wäre das nur eine spießige Vorstellung von mir. »Ich möchte auch nicht, dass wir eine Familie sind, die kommt und nichts mitbringt. Einer muss es also machen.«

»Dann mach es, wenn es dir wichtig ist«, sagt er. Dafür könnte ich ihn …

Kaum stehen wir, passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Die Jungs öffnen beide ihre Autotür und stürmen in Richtung Haustür, die sich in diesem Moment öffnet. Jonas’ Eltern stehen in der Tür, wie zwei Heilige in einem Adventskalendertürchen. Die Autotüren bleiben natürlich offen, Jonas stöhnt, steigt aus und knallt sie nacheinander zu. Im gleichen Augenblick stürmen die Jungs ins Haus, vorbei an Oma und Opa und dann fällt die Haustür hinter den Vieren mit lautem Knall ins Schloss. Das war’s dann, denke ich, ohne Zusammenhang.

Jonas und ich stehen allein in der Einfahrt, wie die Zuschauer einer seltsamen Rhythmus-Performance.

»Was war das denn jetzt?«, frage ich, weil ich gern noch ein bisschen mit ihm hier stehen möchte. Wir könnten uns auf den Kies setzen. Ich könnte meinen Kopf an seine Schulter lehnen.

Jonas zuckt mit den Schultern, er murmelt irgendwas vor sich hin und kramt seinen Schlüssel aus der Tasche. Ich nehme die Schüsseln und trotte hinter ihm her zum Haus.

»Kannst du dann bitte die Kiste aus dem Kofferraum mitnehmen?«

Jonas dreht sich zu mir um und fragt mich, welche Kiste ich meine.

Im Flur stellt er die Kiste ab, streckt sich und stöhnt dabei so laut, als wäre er den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Mir fällt auf, dass er das oft macht bei seinen Eltern. Stöhnen und seufzen. Es führt immer dazu, dass Inge ihn fragt, wie es ihm geht, und ihm sagt, er solle sich hinsetzen. Inge taucht aus der Küche auf und küsst ihren Sohn zwei Mal und mitten auf den Mund.

»Na, du Lieber«, sagt sie. Dann küsst sie mich ebenfalls, auf die Wange, und schaut in die Schüsseln. »Ach, du Liebe, du hast Salate gemacht!« Als ob das eine Überraschung wäre, denke ich.

»Jetzt hab ich aber auch welche gemacht.« Sie legt tatsächlich beide Hände über den Mund und sieht mich erschrocken an. »Na ja, besser zu viel als zu wenig, oder? Das kriegen wir schon weg«, murmelt sie hinter ihren Händen und macht dabei einen kleinen sinnlosen Hüpfer.

Inge ist das, was man eine liebe Frau nennt. Sie gibt sich immer Mühe. Das ist allerdings genau das, was mich anstrengt, dieses sich Mühe geben, es gibt mir das Gefühl, ihr ständig helfen zu müssen, und dazu habe ich keine Lust.

Ich drücke ihr die beiden Schüsseln in die Hand und bleibe im Flur stehen.

Jonas fragt, ob er was helfen kann. Inge lacht und sagt: »Ja, du kannst dich in den Garten setzen und den Weg frei machen.«

Mein Blick wandert ziellos über die Wände, weil ich noch darüber nachdenke, ob sie damit meint, dass ich jetzt in der Küche helfen soll, und bleibt dann an einem Kalender hängen. 2015 steht da.

Eine Möwe fliegt durch einen blauen Himmel über ein blaues Meer, kaum erkennbar, was Luft und was Wasser ist. Solche Bilder sind nichts für mich.

Haben wir nicht 2016?

Haben sie vergessen, den abzunehmen, oder ist das mittlerweile egal? 2015 … 2016?

Macht das tatsächlich einen Unterschied? Ich komme zu dem Schluss, dass die Jahre ziemlich gleichförmig geworden sind. Sie unterscheiden sich in Kleinigkeiten, manchmal gibt es Neuigkeiten, aber im Großen und Ganzen tun sie das, was man von ihnen erwartet.

Wenn Weihnachten abgebaut ist, kann man auch gleich schon wieder Ostern aufbauen. Irgendwas ist immer los.

»Danke, dass du an den Champagner gedacht hast.« Jonas streicht mir kurz über den Rücken. Ich nicke. Er geht raus. Ich bleibe im Flur zurück.

»Hallo Jochen.«

Jonas Vater kommt die Treppe herunter und wedelt mit zwei Büchern, eines in jeder Hand.

»Hallo Gnädigste«, sagt er und küsst meine Hand. Ich mag Jonas’ Vater. In der curryfarbenen Cordhose mit dem grünen Pullover und den wirren grauen Haaren sieht er aus wie ein verstrahlter Physikprofessor. Jochen ist auch ein freundlicher Mensch. Jonas stammt von zwei wirklich freundlichen Menschen ab, denke ich.

Trotzdem ärgere ich mich über die Salate, die ich umsonst gemacht habe, und darüber, dass Jonas jetzt draußen auf der Terrasse sitzt und Inge mich tatsächlich in die Küche ruft und mir eine Tischdecke in die Hand drückt. Ich habe auch noch immer keinen geeigneten Platz für diesen lästigen Gedanken gefunden, der mir seit heute Morgen durch den Kopf wandert.

Mein Körper ist nervend unruhig. Ich stehe mit der gefalteten Tischdecke in der Hand einen Moment zu lange in der Küchentür.

»Bitte auf den Gartentisch.«

Ich nicke und gehe mit der Tischdecke nach draußen.

Die Jungs sind am Gartenteich und suchen nach Fröschen. Jonas sitzt seitlich auf einer Gartenliege und starrt auf sein Telefon.

Der Holztisch ist noch feucht vom morgendlichen Regen. Ich weiß gar nicht, was ich damit meine, dass ich »das so nicht will«.

»So« ist ein sehr kleines Wort, es hat nur zwei Buchstaben und kann in diesem Satz alles und nichts meinen. Ich mag mein Leben. Ich mag die Menschen darin. Ich weiß gar nicht, wie ich es anders machen sollte. Es fehlt nur so viel. Mir ist so vieles abhandengekommen. Es reicht einfach nicht. Der Gedanke hinterlässt eine ungute Spur, während er über alle anderen Gedanken des Tages rüberkriecht. Wie Schneckenschleim klebt er an allem, was geschieht, und beschmutzt es.

 

Ich werfe das Tischtuch in die Luft, halte es nur an zwei Zipfeln, es flattert hoch und ich sehe zu, wie es sich aufbläht. Ein Segel. Alles wird weiß, Jonas und die Kinder verschwinden dahinter.

In dem kurzen Moment zwischen Steigen und Fallen, in dem die Tischdecke jetzt schwebt, halte ich die Luft an. Dann sinkt sie herab und begräbt den feuchten Holztisch unter sich.

Alles weiß. Alles weg.

Mein Blick wandert über die leere weiße Fläche. Nichts drauf. Noch nicht. Ein weißes, leeres Blatt. Plötzlich landet ein Maikäfer. Dunkel, kein schönes Braun, mit seinen kleinen Füßchen kratzt er über den weißen Stoff. Fliegen die nicht eigentlich in der Dämmerung?

Er bewegt sich langsam, es hat etwas Unheilverkündendes, wie er sich über die weiße Fläche bewegt, wie eine dunkle Vorahnung. Ich bilde mir plötzlich ein, das Geräusch der Füße zu hören, das Kratzen, natürlich ist das eher unwahrscheinlich.

Er sitzt jetzt einfach nur da, in der Mitte der scheinbar unendlich weißen Weite und bewegt sich nicht mehr. Im Hintergrund, in der Unschärfe, sehe ich verschwommen die Farben von Inges Blumen. Verschwommenes Blau und Rot. Und viel zu viel Gelb.

Der dunkle Käfer ist mir unangenehm. Sein Verharren hat etwas Bedrohliches.

Ich halte die Schüssel mit dem Kartoffelsalat in den Händen und warte. Ich habe es, glaube ich, noch nicht mal gesehen, höchstens geahnt oder gespürt, die kleine Bewegung seiner Flügel, das leichte, unmerkliche Anheben, und in der Sekunde, in der ich denke, jetzt hebt er ab und fliegt weg, lasse ich die Schüssel auf ihn niedersinken. Ich stelle sie auf den Tisch. Mitten auf den Tisch. Mitten auf den Käfer. Meine Hände drücken die Schüssel immer weiter nach unten. Ich zerquetsche ihn. Den dunklen Botschafter. Es fühlt sich an, als hätte ich das Richtige getan. Meinen Gedanken zerquetscht.

Ich stehe da, halte die Luft an und spüre, wie meine Füße sich in den Boden drücken. Die Kraft, mit der ich ihn zerquetsche … ich hab sie wirklich nicht mehr alle.

Alle decken den Tisch gemeinsam, die Jungs kriegen eine Menge guter Tipps und Ermahnungen von ihren Großeltern.

Inge zeigt ihnen, wie man das Besteck richtig hinlegt, und schickt sie dann rein, um die bunten Plastikbecher zu holen. Ich stehe viel rum, hauptsächlich im Weg.

»Es ist wichtig, dass die Jungs die Benimmregeln lernen«, sagt Inge zu mir im Vorbeigehen.

Ja. Ist mir auch klar. Ich nicke und sage nichts dazu. Was soll ich dazu sagen? Ich habe einen Käfer getötet.

Ich weiß, dass sie mich nicht kritisieren wollte. Die Jungs liegen ihr am Herzen. Inge würde alles für die Jungs tun, das weiß ich, sie fühlt sich verantwortlich. Jochen und Inge sind immer mit ganzem Herzen bei den Kindern, immer etwas erschöpft, wenn wir lange bei ihnen waren, und wahrscheinlich auch erleichtert, wenn wir endlich wieder gehen … Großeltern sind vielleicht so … wahrscheinlich war es doch eine Kritik …

Die weiße schwere Schüssel steht in der Tischmitte, der Käfer liegt darunter. Tot. Mit Sicherheit tot. Niemand hat die Schüssel bis jetzt angehoben. Es ist etwas, worauf ich warte. Dass jemand die Schüssel anhebt. Meine Tat entdeckt. Fast wünsche ich es mir.

Ich betrachte die vielen Hände. Die Bewegungen, die sie machen, wandern durch meinen leeren Blick. Johns Hand, wie sie die Becher schiebt, einen blauen und ein grünen, an seinen Platz, da ist Jonas’ Hand, die das Telefon auf den Tisch legt, Inges Hände mit Tellern, dann Gläsern und immer noch mehr Schüsseln. Ich beobachte, wie all diese Hände Bewegungen ausführen, sanfte, bestimmte, fordernde oder ungeduldige, so als hätten sie ihre eigene Sprache, sie erzählen, unbemerkt von ihren Besitzern. Ich beobachte Inges gleichbleibendes Lächeln, während ihre Hände die Lage der Messer, die Mika mal rechts, mal links neben die Teller geschoben hat, mit eifriger Beharrlichkeit korrigieren.

Mikas kleine Hand greift über den Tisch, Johns Hand hat Apfelsaft in die Becher gegossen, Mikas Hand greift nach dem grünen. John greift nach Mikas Hand und hält sie fest: »Grün ist meiner!«

Mika reißt den Arm weg und der Becher kippt, Apfelsaft läuft über das weiße Tischtuch.

Jochens Hand haut auf den Tisch, Inges legt sich darüber und ich sehe den Druck, mit dem sie seine Hand nach unten drückt.

»Och nee, Jungs!« Inges Gesicht zuckt unruhig. Erst da ruckt mein Kopf nach oben.

»Lass Inge«, sage ich. Bin auch schon aufgestanden. Inge aber auch.

»Ich hol einen Lappen. Lass. Lass, Inge, ich mach das schon.«

Die Küche steht voller Schüsseln, Salate, Dips, ich zähle mindestens drei verschiedene Nachspeisen. Dann entdecke ich die Uhr. Inge hat sich die Landhausuhr gekauft und ich erinnere mich, dass ich die tatsächlich auch in der Hand hatte. Als Ersatz für meine, die ich hässlich finde. Auf der hier ist der schwarze Hahn, den ich im Laden auch kurz gut fand, obwohl ich die Idee dieser Uhr, so zu tun, als hätte unser Leben irgendwas mit Land und Hühnern zu tun, überhaupt eine Uhr, die auf Antik macht, während sie gerade aus Taiwan eingeschifft wurde, ablehne. Das ist auch nichts anderes, als Botox in Falten zu spritzen, nur andersrum eben.

Ich habe einen lächerlich wütenden Gedanken, einfach nur weil ich vor ein paar Tagen eine Uhr in der Hand hatte, die einer Frau wie Inge offensichtlich auch gefällt. Ich mag Inge … ich will aber nicht die gleichen Uhren mögen wie sie. Ich werde irgendwann diese ordnenden Hände bekommen, denke ich, Hände, die alles immer wieder dorthin schieben, wo es hingehören soll. Hab ich ja jetzt schon. Mit leerem Blick starre ich noch immer auf die Uhr, während ich den toten Käfer vor mir sehe, sein dunkles Brummen höre. Wie eine Warnung klingt das.

Es klingelt an der Tür und ich bin froh darüber.

Frank steht vor mir und grinst mich an. Er trägt eine dünne, rote Outdoorjacke und wie immer einen Rucksack.

»Du musst aufhören, diese Rucksäcke zu tragen«, sage ich und lächle ihn an, weil ich mich wirklich freue, ihn zu sehen.

Frank sagt, den Teufel werde er tun, und nimmt mich fest in den Arm. Es ist schön, dass Frank die Leute immer richtig in den Arm nimmt, man fühlt sich gemeint und kurz lass ich mich reinfallen, in seinen Körpergeruch und in die Wärme dahinter.

Hinten am Auto sehe ich Andrea, kopfüber ins Auto gebückt, ihr schwarzer Rock ist hochgerutscht, ich kann ihr fast zwischen die Beine sehen. Sie taucht mit fünf Baguettebroten aus dem Auto auf. Was denkt sie denn, wie viele Leute kommen? Warum bringen alle immer so viel mit? So viel Essen. Wozu brauchen wir so viel Essen?

»In meinem Rucksack ist heute Champagner«, Frank grinst mich an, »denn … was ist heute für ein Tag … na?«

»Wenn ich nach dem Kalender meiner Schwiegereltern gehe, irgendwas mit 2015«, sage ich.

»Nein! Das ist ganz falsch! Heute ist der große Tag des vierjährigen Praxisjubiläums und das werden wir feiern!«

»Geh mal rein jetzt, bitte«, Andrea schiebt ihn mit den Broten durch die Tür und Andrea und ich drücken kurz unsere Körper aneinander und küssen uns auf die Wange, wie man das eben so macht.

»Wir haben auch Champagner mit«, sage ich. Ich schicke die beiden raus in den Garten und hole dann die Flaschen aus dem Kühlschrank. Als ich wieder auf die Terrasse komme, fragt Inge mich nach dem Lappen und steht dann auf, um ihn selbst zu holen.

Die Sonne ist fast schon heiß geworden. Meine Strickjacke habe ich zur Seite gelegt. Es ist schön, im T-Shirt hier zu sitzen und warme Haut zu haben. Ich lehne mich zurück und beobachte die Jungs. Inge hat Champagnergläser mitgebracht und Jochen schenkt ein.

»Auf vier fantastische, erfolgreiche Jahre und unsere geile Freundschaft und, nicht zu vergessen, auf unsere fantastischen Patienten! Auf uns, Jonas! Die zwei besten Physiotherapeuten der Stadt!«

Frank sagt das tatsächlich mit hörbarer Rührung in der Stimme, nachdem er mit der Gabel fast sein Glas kaputt gehauen hat.

»Vier fantastische Jahre und geile Freundschaft, jawoll … fantastische Patienten … davon weiß ich nichts«, sagt Jonas und lacht.

Andrea küsst Frank und wie im Reflex küsse ich Jonas.

Dann sage ich schnell: Skål!

Wir trinken. Die Praxis läuft gut. In den Büchern, die Jochen mir vorhin im Flur in die Hand gedrückt hat, geht es um die Tiere des Waldes. Steht auch ’ne Menge über Eichhörnchen drin.

Das ist doch praktisch für mich. Ich habe mich dafür bedankt. Eigentlich ist alles gut.

Und das »Eigentlich« ist so dunkel wie der zerquetschte Käfer unter der Schüssel.

Die Schüssel steht immer noch an ihrem Platz. Hoffentlich hebt niemand sie hoch. Ein Gefühl, als hätte ich was zu verbergen, beschleicht mich … ich wollte einfach nur, dass das Kratzen, das dunkle Brummen, dass das Geplapper in meinem Kopf aufhört. Ich trinke mein Glas aus und Inge fragt, wann wir morgen nach Dänemark losfahren.

»Ich muss noch packen«, sage ich.

John krabbelt in letzter Zeit häufiger auf meinen Schoß. Das ist eher ungewöhnlich für ihn, er ist ja auch fast neun, aber ich mag es. Ich habe mir abgewöhnt, ihn zu fest an mich zu drücken und ihm durch die Haare zu streicheln, denn dann verschwindet er sofort wieder. Am besten geht es, wenn ich ganz selbstverständlich tue, so als würde ich gar nicht bemerken, dass er da ist. Dann bleibt er etwas.

»Ich denke, wir fahren morgen ganz früh los«, sage ich, als ich Inges fragenden Blick bemerke. Hatte ich das eben nicht schon gesagt?

»So schade, dass wir nicht mitkommen können.« Andrea verzieht den Mund. »Ich wäre lieber in Kopenhagen, als auf der goldenen Hochzeit von Franks Eltern rumzuhängen.«

»Musst du mit leben«, sagt Frank. »Aber Jonas, du musst Sven und Mille von mir grüßen, ich ruf ihn auch noch mal an, sag ihm das.« Jonas nickt.

Jonas fragt mich, ob wir eigentlich über die Brücke oder mit der Fähre fahre wollen. Mika ruft sofort: »Fähre! Fähre!« John sagt: »Nee, Brücke natürlich.«

Daraus entsteht eine lange Diskussion, die ich nicht weiter verfolge. »Ich freu mich auf die Taufe«, sage ich zu Inge, weil ich das Gefühl habe, ich müsste auch mal was zur Unterhaltung beitragen.

»Ja, Taufen sind wunderschön«, sagt Andrea und lächelt vor sich hin.

»Unsere Kinder sind nicht getauft«, sagt Jonas, »aus gutem Grund.« Jetzt kommt ein Vortrag, denke ich.

Andrea fragt: »Wieso?«, und ich lehne mich zurück.

Jonas sucht nach seinem Glas. »Wo ist mein Glas, Mama, das stand hier doch eben noch?«

Er lehnt sich auf eine Art zurück, die mir missfällt. Breitbeinig und in der Gewissheit, dass er die besseren Argumente auf seiner Seite hat. Das Gespräch ist im Grunde schon beendet, bevor es angefangen hat, denke ich.

»Entschuldige, das habe ich schon abgeräumt … ich dachte, du bist fertig«, sagt Inge.

Jonas gießt den Rest aus der Champagnerflasche in Mikas grünen Becher.

Inge zieht die Schultern hoch. »Jonas, ich bitte dich, trink das doch nicht aus dem Plastikbecher, ich hol dir ein Glas.« Sie ist aufgestanden.

»Lass, Mama, ich trink das jetzt hier draus.«

»Das ist aber Mikas Becher«, sage ich. Ordnende Hände, denke ich.

»Ich denke, Rituale sind wichtig, sie festigen die Gesinnung«, sagt Frank plötzlich.

Jonas lacht laut auf. »Was ist denn mit dir los, Frank? Bist du besoffen oder was? Wo hast du das denn wieder gelesen?«

»Nee, ernsthaft, es ist ein Versprechen, ein Schwur und so was wirkt total auf die eigene Psyche zurück.«

»Aha«, Jonas leert den grünen Becher mit einem Schluck und gießt dann Weißwein rein.

»Jetzt nimm doch bitte das Glas, Jonas!«, ruft Inge.

»Es ist einfach nur ein Ritual«, sagt Andrea, »so wie eine Hochzeit eben. Und das macht doch schon was mit einem, oder?«, fährt sie fort, »es macht einem den Moment bewusster. Man trifft eine klare Entscheidung …«

»Es war richtig, den Käfer zu töten«, denkt es laut in mir.

» … man teilt es laut mit, das macht es verbindlicher, oder?«

Sie streichelt dabei die ganze Zeit Franks Bein, ich beobachte das unter dem Tisch, weil ich zurückgelehnt sitze, und als sie den Satz beendet hat, küsst sie ihn. Mir fällt auf, dass Jonas und ich beide zurückgelehnt sitzen. Auch das missfällt mir. Ich setze mich aufrecht hin. »Was macht das verbindlicher? Welche Entscheidung? Versteh ich nicht.« Jonas Stimme stachelt. Ich weiß, dass er darauf steht, Leute herauszufordern. Seine Augen sind wach und fixieren Andrea. Um seinen Mund herum flackert dieses amüsierte Lächeln, mit dem er abwartet. Er weiß sowieso schon, was er sagen wird. Er wartet nur ab. Mir ist das zu anstrengend, ich möchte hier einfach nur in der Sonne sitzen. Ich lehne mich wieder zurück. Es war ein Ritual, den Käfer zu töten, eine Entscheidung, denke ich.

 

»Hochzeit verstehe ich ja, das Versprechen, das man sich gibt und so, klar, aber Taufe? Wollen sie das Kind in Gottes Hände geben? Wirklich? Wozu denn bitte?«

»Na ja, allgemeiner vielleicht«, sagte Andrea, »man bittet doch um Schutz. Man will das Kind vielleicht unter irgendeinen Schutz stellen, es beschützt wissen, irgendwie so vielleicht«, ihr Blick schwingt hilfesuchend in Franks Richtung.

»Also, ich finde das richtig schön, so eine Taufe«, sagt Inge und stellt ein neues Glas vor Jonas.

»Ich hab doch gesagt, ich brauch das nicht, Mama.«

»Lass sie doch«, sagt Jochen, »sie läuft halt gern hin und her.« Er zieht kurz die Schultern hoch und lässt sie dann wieder fallen.

»Ich laufe überhaupt nicht gern hin und her, Jochen, ich sorge nur dafür, dass alle ein Glas haben.« Inge setzt sich mit verschränkten Armen hin. Jochen legt den Arm um sie.

Inges Arme bleiben verschränkt.

Es kommt mir plötzlich so vor, als würde alles nach einem unsichtbaren Plan ablaufen.

Ein festgelegter Fahrplan. Inges Hand auf Jochens Hand. Jochens Arm auf Inge.

Unbeweglichkeit. Dunkle Käfer zerdrücken, kurz bevor sie abheben. Andreas Blick. Der Witz, den sie dann erzählt. Die ganze Reaktionskette. Ich kann sie sehen.

Ich bin gar nicht gut drauf heute.

»Im Flur hängt übrigens der Kalender von 2015.« Das musste ich jetzt sagen.

»Ja, Inge gefällt das Bild«, sagt Jochen und drückt Inges Hand. Inge ringt sich ein leichtes Lächeln ab.

Offensichtlich bin ich wirklich in keinem sehr guten Zustand in letzter Zeit. Ständig habe ich das Bedürfnis, Essen in mich reinzustopfen. Umso weniger Worte aus meinem Mund kommen, desto größer ist mein Bedürfnis, meinen Mund mit Essen voll zu machen, etwas zu schmecken, nein, eigentlich schmecke ich gar nichts. Die Menschen strengen mich an, mich eingeschlossen, und dann möchte ich trinken. Sobald ich irgendwo bin, will ich was trinken, damit dieses Geplapper in meinem Kopf aufhört. Zwischen den Menschen, die um mich herum reden, der angestrengten Suche nach etwas Sinnvollem, das ich erwidern könnte, und meinen lauten Gedanken, die alles kommentieren und ständig auf mich einreden, in diesem ganzen Durcheinander sitze ich wie in einem Vakuum aus Stille, in einer fürchterlichen Spannung, die mir den Nacken hochkriecht und von der ich Kopfschmerzen bekomme.

Ich will jetzt nach Hause und packen.

Der Gedanke in meinem Kopf wiederholt sich ständig. Dass ich noch packen muss. »Wenn du nach Hause kommst, packst du erst mal«, denke ich.

Mein Körper ist so unruhig.

Es ist wie ein innerer Irrsinn. Manchmal sage ich zu mir selbst: »Ja, ist gut jetzt. Ruhe jetzt.« Wenn ich nicht wüsste, dass ich relativ normal bin, würde ich denken, ich bin verrückt.

Jochen ist aufgestanden und legt Frank die Hand auf die Schulter: »Los komm, Frank, Würstchen auf den Grill.« Das ist Jochens Art, Gäste in die Familie zu integrieren. Auch das habe ich vorausgesehen.

Frank steht auf, nicht ohne dass Andrea ihn schon wieder küsst. Das hat aber wirklich schon was Zwanghaftes, denke ich.

»Oh, ich hab noch was im Auto vergessen, du liebes bisschen, ich hab doch Nachtisch gemacht.« Andrea springt auf und macht sich auf den Weg zum Auto.

Jonas starrt auf sein Handy und liest irgendwas. Suchbegriff Taufsprüche, sehe ich.

»Lass die beiden doch in Ruhe«, sage ich zu ihm.

»Nee, ich google das jetzt mal. Das nervt mich, wenn Frank immer so nachgeplappertes Zeug von sich gibt. Der hat das einfach nur irgendwo gelesen.«

»Na und. Ist doch egal. Die heiraten bald, da schaltet sich eben manchmal das Gehirn ab.« Wahrscheinlich versuche ich, mit ihm gemeinsam über etwas zu lachen.

Aber Jonas schüttelt mit dem Kopf und starrt weiter auf sein Telefon. »Mein Gehirn war an, als ich dich geheiratet habe«, sagt er, »definitiv an«, und dabei liest er weiter.

Er guckt einmal kurz hoch und sieht mich an, als hätte ich eben was Dummes gesagt.

Hab ich das?

»Guck mal hier! So was. Das meine ich.«

Er liest immer noch vor sich hin. »Ich kann so nichts sehen«, sage ich.

Andrea kommt zurück und stellt eine halbgeschmolzene Schokoladencreme auf den Tisch. Noch eine Schüssel. Vier verschiedene Nachspeisen.

Jonas liest laut:

»Das Wasser in der Taufe steht als Zeichen für Gottes ›Ja‹. Das ›Jasagen‹ Gottes, der Segen Gottes geschieht im Sakrament der Taufe mit dem Element des Wassers. Dazu kommt der Heilige Geist – wie schon bei der Taufe von Jesus der Heilige Geist in Form einer Taube am Himmel sichtbar war. In der Taufe sagt Gott uneingeschränkt ›Ja‹ zu dem Menschen, der getauft wird, heute also ganz deutlich zu Emily. ›Ja, du bist meine geliebte Tochter; ich werde bleiben bei dir bis ans Ende Deines Lebens und darüber hinaus. Du bist einmalig und wertvoll. Du bist ein wunderbares Geschöpf des Schöpfers.‹«

»So«, sagt er und lehnt sich zurück. »Was bedeutet das?«

Andrea ist mit der Frischhaltefolie auf ihrer Schüssel beschäftigt. »Wer ist Emily?«

»Yv, das ist doch scheißegal. Irgendjemand halt. Da steht: Gott sagt uneingeschränkt ja zu dem Menschen, der getauft wird! Also zu dieser Emily. Was soll das heißen? Egal, was sie tut, sie ist uneingeschränkt angenommen? Warum? Was heißt das bitte? Außerdem hat niemand Emily gefragt. Vielleicht will sie das ja gar nicht. Muss sich ein Erwachsener nicht entscheiden zur Taufe? Ich frag mich, warum liebt er nicht alle Kinder uneingeschränkt? Von Anfang an. Sind doch seine Geschöpfe. Was ist mit unseren Kindern? Was können die dafür, dass wir sie nicht getauft haben, lehnt er die ab? Macht doch keinen Sinn. Also, so was ärgert mich, schon allein weil es so durchschaubar ist. Das ist nichts anderes als eine Zwangsheirat mit Gott. Nicht mal. Zwangsheirat mit der Kirche ist das. Darum geht’s. Man zahlt und bekommt den Schutz Gottes. Exklusiv offensichtlich. Du zahlst dann Kirchensteuer, das ist alles. Sven geht doch gar nicht in die Kirche, der glaubt doch auch an nichts. Ich versteh nicht, was das soll. Mir wäre das unmöglich, diese Sätze nachzuplappern, ohne daran zu glauben. Das ist mir völlig unbegreiflich.«

Ich betrachte Jonas eine Weile von der Seite. Seine dunkelblonden Haare, Mika hat die gleichen Haare, Jonas fährt sich mit den Fingern durchs Haar, sind jetzt völlig durcheinander die Haare, macht Mika auch schon so. Wir übernehmen diese Bewegungen einfach und das ganze Gefühl, das damit einhergeht. Ist doch die Frage, ob das wirklich zu uns gehört, oder etwa nicht … Adam und Eva haben die Schuld ja auch einfach weitervererbt, da kann man nichts gegen machen, denke ich. Alles Erbsünde, denke ich.

Frank kommt mit einer Platte Würstchen an den Tisch.

»Taufe ist einfach nur Zwangsheirat mit der Kirche, Frank. Du musst hier mal die Texte lesen und dann musst du das mal wirklich denken, was da steht. Es ist einfach Schwachsinn. Gott bleibt bei ihr bis ans Ende ihres Lebens und darüber hinaus.«

Jonas kämmt sich schon wieder mit allen fünf Fingern durch die Haare. Er macht das fahrig, nebenbei. Mir gefällt die Bewegung.

»Also kommt sie sogar in den Himmel. Das macht einfach keinen Sinn. Ich versteh nicht, warum man seine Kinder heutzutage taufen lässt. Das widerspricht jedem klaren, logischen Gedanken.«

Sein Gequatsche fängt jetzt an, mich zu ärgern.

Es ärgert mich, dass seine Gedanken immer schon fertig sind. Abgeschlossen. Man kommt nicht dazwischen. Ich komm nicht dazwischen. Er kann einem die Sätze mit einer unwilligen Handbewegung direkt vom Mund wegwischen.

Ich kenne das. Es ärgert mich trotzdem.