Die Architektur des Knotens

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ICH WACHE AUF UND FINDE, dass ich in einer merkwürdigen Position liege.

So gerade und steif, so wie eine Tote. Wie eine Tote, die man mit einem Zettel am Zeh aus einem Kühlregal gezogen hat, denke ich. Ich liege einfach nur da und hab dieses Bild von mir im Kopf. Wie ich so liege. Bewegungsunfähig.

Mein Kopf sinkt auf die linke Seite und ich kann den Regen sehen, der an der Fensterscheibe herunterläuft. Und die Sonne dahinter. Ein kurzer Blick nach rechts, auf den Wecker, kurz nach acht. Ich drehe den Kopf wieder zum Fenster. Regen an Fensterscheiben ist etwas, was mich an früher erinnert. Lange Autofahrten. Das Auto meiner Eltern. An einen verklebten Bauch von zu vielen Süßigkeiten.

In Gedanken fahre ich mit dem Finger die Bahnen der Regentropfen nach. In solchen Dingen konnte ich früher versinken, die Zeit vergessen.

Zeit ist kein guter Spielkamerad mehr, finde ich. Früher hat sie sich vor mir ausgebreitet wie Phantasien in der Unendlichen Geschichte. Unendlich eben. Zeit war etwas Dehnbares und gleichzeitig war sie zusammenfaltbar. Man konnte in ihren Falten verschwinden, die ganze Welt konnte man darin verschwinden lassen, einen Stein im Garten umdrehen und eine Welt aus Tausendfüßlern und Spinne neiern war plötzlich das Eingangstor in eine völlig neue Zeitzone.

Zeit war ein dehnbarer Begriff. Noch gar kein Begriff eigentlich. Im Grunde war sie ohne Bedeutung. Ich sollte aufstehen.

Jetzt ist Zeit etwas, wogegen ich ständig kämpfen muss. Sie läuft mir davon, sie geht einfach vorbei, ohne sich zu verabschieden. Manchmal stehe ich im Wohnzimmer und stelle fest, dass mir schon wieder mehrere Jahre abhanden gekommen sind. Einfach weg. Regen ist kein Schlupfloch mehr, durch das ich ihrem Takt entgehen, bei dessen Betrachtung ich ihr unbeirrbares, stoisches Ablaufen vergessen könnte. Es ist einfach nur Regen. Er läuft an meiner Schlafzimmerscheibe herunter, und ihn dabei zu betrachten, macht mich nervös. Ich muss wirklich aufstehen.

Weil ich Salate machen muss. Zwei. Für den einen muss ich vorher noch Kartoffeln kochen. Inge hat mich gestern angerufen. Wenn Jonas’ Mutter mich anruft, geht es meistens um Essen. Zwei Salate soll ich mitbringen. Wir grillen heute. Ich denke kurz über all das Müssen und Sollen nach, das ständig in meinen Gedanken vorkommt, aber ohne wirkliches Ergebnis.

Ich schaffe es nicht aufzustehen.

Vielleicht ist es so, denke ich, seit wir die Zeit in Uhren gesperrt haben. Dass wir ihrer nicht mehr wirklich Herr werden können. Sie gehört uns nicht mehr.

Ich bin unsagbar müde. Die Müdigkeit ist das Schlimmste.

Jonas schläft, seine Arme liegen verschränkt hinter dem Kopf, als würde er für ein Foto posieren. Da ist kurz der Impuls, ihm durchs Haar zu streichen, das tue ich aber nicht. Weil ich keine Zeit dafür habe. Weil ich Salate machen muss.

Nachdem ich ihn eine Weile betrachtet habe, werde ich unruhig. Ich verfolge die Minuten, wie sie vorbeigehen. Minutenblasen, gefüllt mit Gedankenschrott. Ich kann ihnen dabei zusehen, wie sie vergehen. Sie zerplatzen wie Seifenblasen, wenn ihre Zeit um ist. Plopp, das war’s. Wieder eine Minute. Vorbei.

In meinem Kopf habe ich schon den Herd angemacht, Kartoffeln aufgesetzt und fange gerade an, die Tomaten kleinzuschneiden. In Wirklichkeit liegen meine Hände still zwischen meinen Oberschenkeln und sind kalt.

Inge hatte gesagt: Einen Tomatensalat bitte und einen Kartoffelsalat bitte … Keine Ahnung, ob sie wirklich »Bitte« gesagt hat. Ich hoffe, sie hat Bitte gesagt.

Jonas schnarcht. Der Wecker summt leise.

Seine Haare sind wild, sein Mund steht halb offen. Ist er ein schöner Mann? Was ist ein schöner Mann? Meine Gedanken schweifen von ihm weg, weil ich darüber nachdenke, was ich eigentlich unter einem schönen Mann verstehe. Ich stelle fest, dass ich das nicht mehr so genau weiß. Es hat was mit Lässigkeit und Kraft zu tun. Jonas hat beides, auch wenn er jetzt schnarcht. Ich werde ihn schlafen lassen, wie immer.

Kartoffeln aufsetzen, denke ich, beweg mich aber nicht. Mein Körper fängt leicht an zu zittern. Ich glaube, ich bin wütend. Darüber, dass er den Wecker nicht hört. Dann darüber, dass ich jemand geworden bin, der deswegen wütend wird. Und dann über die Machtlosigkeit, gegen dieses Gefühl nicht mehr anzukommen. Nur noch Punkte von einer Liste abzuhaken.

Was kann er dafür, denke ich. Meine Hände schmerzen.

Ohne es zu merken, haben sich meine Finger zwischen den Oberschenkeln verdreht und zusammengepresst, so fest, dass es jetzt wehtut. Langsam ziehe ich sie aus der Umklammerung meiner Beine und spüre, wie das Blut zurückfließt. Das warme, stechende Prickeln fühlt sich gut an. Für einen kurzen Moment fühlen sich meine Hände lebendig an. Sie sind ganz da. Dann verschwindet das Gefühl wieder, als wäre nur ein Schatten über sie hinweggewandert.

Niemand nennt mich mehr Yv. Alle sagen Yvonne. Alle, die mich Yv genannt haben, sind nicht mehr in meinem Leben. Außer Jonas. Ich weiß auch gar nicht mehr, wer Yv ist.

Als ich in der Cocktailbar Drinks gemixt habe, und das ist über fünfzehn Jahre her, stelle ich erstaunt fest, als ich nachrechne, da haben mich alle Yv genannt.

Ich versuche, mich an die Yv zu erinnern, die hinter dem Tresen stand. Ich erinnere mich aber mehr an ein Gefühl der Unversehrtheit. Etwas war anders.

Ich bin mir sicher, dass ich im Grunde von nichts eine wirkliche Ahnung hatte. Aber es hat sich nach mehr angefühlt … weil ich mich in jede Richtung bewegen konnte. Weil ich unfertig war. Jetzt gibt es eine fertige Version von mir. Eine, die ich sein sollte, bleiben muss. Angekommen. Wiedererkennbar. Eingefroren.

Ich versuche, mich an damals zu erinnern, und denke tatsächlich, es war poetisch. Darüber muss ich fast lachen. Ich sollte besser aufstehen jetzt.

Ich erinnere, dass ich Gedichte auf kleine Zettel geschrieben habe. Auf die Blöcke, auf denen wir die Bestellungen der Gäste notiert haben. Gedichte auf Zetteln.

Das war Yv. Yv hatte immer ein goldenes Stirnband im Haar. Nichts Sportliches, eben so … wie eine Elfe. Ich wäre wirklich ganz gern eine Elfe gewesen. Ich mochte die zarten Körper, die durchsichtigen Flügel, in denen man das zarte Gerüst erkennen kann.

Durchlässige Membranen. Naturgeister. Feinstoffliche Wesen. Etwas, das vom Wind davongetragen werden kann. So wollte ich mich fühlen, so durchlässig wollte ich sein. So ausgesehen habe ich bestimmt nicht.

Jetzt bin ich eine Mauer. Eine Wand. Eine, die dem Wind standhält. Vielleicht ist das auch gut. Vielleicht bin ich einfach nur undankbar. Jonas war eines Tages in der Bar aufgetaucht, in einem langen grünen Mantel, den ich seltsam fand. Den ganzen Mann fand ich seltsam. Er trug Sweatshirts und darüber immer diesen Mantel. Er setzte sich hin, bestellte Gin Tonic und ging als Letzter.

Flo, der mit mir hinterm Tresen gearbeitet hat, hat mir erzählt, dass Jonas von seiner dicken Freundin verlassen worden ist, von der dicken hässlichen Anja, hat er gesagt und dabei die Augen verdreht. Keine Ahnung, warum ausgerechnet das Jonas für mich interessant gemacht hat.

Ein schöner Mann mit einem merkwürdigen Mantel, der eine dicke, hässliche Freundin gehabt hat und am Tresen saß und nichts sagte. Ich hab ihn irgendwas gefragt. Er hat geantwortet. Wenn er etwas deutlich machen wollte, hat er in Bildern gesprochen. An einem dieser Abende saß er am Tresen, den Kopf in beide Hände gestützt, und ich habe gefragt: »Alles in Ordnung?« »Einfach Krise«, hat er gesagt. »Tut mir leid«, hab ich gesagt

»Muss es nicht, ist nichts Schlechtes«, hat er gesagt und hochgeguckt. »Ich stell mir das vor wie im Schwimmbad. Beckentiefe, weißt du. Man kann nur bis zu einem bestimmten Punkt sinken, dann schlägt man unten einmal mit dem Kopf auf«, dabei hat er so laut mit der Hand auf den Tresen gehauen, dass ich zusammengezuckt bin, »und dann kommt man eben wieder hoch. Man muss nur die Angst vor dem Sinken überwinden. Hat sogar was Friedliches dann. Oder man macht es wie die anderen und strampelt sich halbtot, nur um irgendwie mit dem Kopf über Wasser zu bleiben.« »Und die Angst vorm Sinken betäubst du mit Gin Tonic, oder was?«, hab ich dann gefragt. »Da ist ja jedes Mittel recht«, meinte er und wir haben gelacht.

Ich mochte das. Drehe mich auf die Seite und streiche ihm doch kurz durch die Haare. Wegen damals. Fühlt sich schon an wie meine Haare. Wenn man so lange schon zusammengehört, wem gehören dann die Haare? Zehn nach? Ich muss hoch, verdammt.

Wir sprechen so nicht mehr. Nicht mehr mit diesem dringenden Wunsch, dem anderen am liebsten unter die Schädeldecke gucken zu wollen. Alles zu erfassen, was da vor sich geht. Als wüssten wir schon alles. Aber wir reden viel. Das ist das Seltsame. Manchmal sind meine heimlichen Gedanken furchtbar laut. Aber sie finden keinen Weg nach draußen. Ich halte sie von ihm fern. Und das macht mich einsam. Zwischen all den Worten, die zwischen uns hin und her wandern, ist immer viel Schweigen.

Mein Körper, mein Kopf sind ein Kokon, in dem all das Unsagbare zurückbleibt, erstarrt und sich verwandelt. In Ungeduld oder Wut und dann in Müdigkeit. Ich kann dabei zusehen, wie es geschieht, und ich weiß, dass es nicht gut ist. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll. Es ist wie eine Gewissheit, dass es nicht zu sagen ist. So wie es auch nicht zu hören sein wird. Weil es uns in Frage stellt. Und weil diese Fragen gefährlich sind und uns Angst machen. Und ich weiß nicht, warum das so sein muss. Warum wir uns so eingerichtet haben, dass wir uns davon nichts erzählen dürfen.

Eines Abends hatte sich Jonas zu mir über den Tresen gelehnt und gesagt:

 

»Yv, liebe Yv, ich bin eine Insel.«

Und ich habe gesagt: »Nein Jonas, du bist einfach nur ein Idiot.«

Das war es dann auch mit dem Kummer über die dicke Anja und den vielen Gin Tonics und mein Haarband trug ich nur noch mit dem Gedanken daran, dass er es mir abends abstreifen würde, um seine Hände durch meine Haare zu wühlen. Die Zeit gehörte uns. Sie gehorchte völlig anderen Gesetzmäßigkeiten.

Und wir passten zusammen.

Wir passen auch immer noch zusammen. Liebe. Die Gerüche unserer Körper sind zusammengeflossen. Ich weiß nicht mehr, welcher davon zu mir gehört. Unsere Sprache ist in der Schnittmenge von zwei Leben gelandet und dreht sich dort in gewohnten Kreisen und um die Abläufe der Tage. Zwei Menschen, zwei Kreise, eine Schnittmenge, in der wir uns treffen. Ich bin ein »Wir« geworden. Das ist mein Zuhause.

Außerhalb dieser Schnittmenge bin ich unbeweglich geworden. Eine Menge Bewegungen sind nicht mehr möglich. Die Sprache, an die wir uns gewöhnt haben, hat keine Worte, die davon erzählen dürften.

Es ist eine völlig andere Liebe jetzt. Sie fühlt sich anders an. Wir wissen das. Aber wir sagen es nicht. Wie soll man das auch sagen? Wenn man sich liebt. Es scheint sich auszuschließen.

So wie wir hier jetzt liegen, wollte ich nie liegen. Ich dachte, so könnte ich gar nicht liegen. In diesem Panzer. Der Taubheit. Nicht wir. Und plötzlich schäme ich mich dafür, geglaubt zu haben, wir wären anders.

Mika sitzt bei mir in der Küche. Die Kartoffeln kochen leise blubbernd vor sich hin. Das Geräusch macht mich wahnsinnig. John habe ich noch gar nicht gesehen.

Als ich die Schüssel mit den Tomaten zum Schneidebrett trage, halte ich sie mit so merkwürdig ausgestreckten Armen, übereifrig irgendwie, so als wollte ich sie herzeigen. Warum tue ich das? Für wen? Niemand schaut mir zu. Ich steh hier, wie die Playmobilfrau mit dem Kuchen, denke ich. Wer will Essen von der guten Mutter? Tue ich so, als wäre ich eine gute Mutter? Bin ich eine? Ich kopiere eine gute Mutter. Offensichtlich kopiere ich eine Playmobilhausfrau.

Keine Ahnung mehr, wo da ein »Ich« sein soll.

Ich möchte wissen, was ich noch so alles kopiere. Manche Gesten meines Vaters haben sich in meine Muskulatur eingeschlichen, das hab ich schon öfter bemerkt, die Sprüche meiner Mutter kommen manchmal aus meinem Mund, so wie irgendwelche klugen Sätze, die ich aufgeschnappt habe, manchmal nistet sich auch eine fremdes Lächeln in meinen Mundwinkeln ein, eines, das ich im Fernsehehen oder sonst wo gesehen habe.

Aber was ist eine gute Mutter, frage ich mich. Was ist Liebe? Familie? Für mich, meine ich? Wie habe ich mir das vorgestellt? So?

All diese Bilder in meinem Kopf. Die Vorstellung, wie es zu sein hat. Ich weiß nicht, woher sie gekommen sind. Ich hab die Bilder nie wirklich in Frage gestellt, denke ich. Ich bin einfach mit ihnen groß geworden.

Keine Ahnung, ob das meine Wünsche sind. Aber jetzt bin ich hier. Das ist nicht mehr zu ändern, denke ich.

Wo verläuft die Trennungslinie zwischen mir und den Kindern, wo sind ihre Gedanken und Wünsche nicht mit meinen verwoben? Ihre ganze Anwesenheit ist ein Teil von mir, ständig anwesend, mit mir verwachsen, genau wie Jonas.

Es ist ein Knoten, der sich um mich herum festgezurrt hat. Ich bin hineingewoben in dieses faserige Gewirr aus Liebe und Verantwortlichkeiten, ein verfilztes Netz aus Ansprüchen und Erwartungen, mit irgendwelchen eingezwängten Sehnsüchten dazwischen und immer weniger Träumen. Der Knoten hält mich. Das wollte ich doch. Verwachsen miteinander. Eins werden. Und jetzt erkenne ich mich nicht mehr. Ich bin eingebunden in diesen Knoten, ich kann mich nicht mehr bewegen, nicht ohne dass das ganze Konstrukt mitkommt. Ich bekomme keine Luft mehr, kann tatsächlich gerade nicht richtig einatmen und lege den Kopf in den Nacken.

Die Kartoffeln kochen über. Das Zischen des Wassers auf der Herdplatte reißt mich raus.

Luft strömt wieder in mich ein und für einen Moment überkommt mich ein kurzer, heftiger Drang, meine Hand in das sprudelnde Wasser zu stecken. Selbst wenn ich mich bewege, fühlt es sich an wie Stillstand.

Ich gieße die Kartoffeln ab und stelle sie zum Abkühlen aufs Fensterbrett. Der Dampf lässt die Scheibe beschlagen. Mika will was reinmalen. Ich verbiete es ihm. Welchen Grund habe ich, ihm das zu verbieten? Weil es die Scheibe verschmiert? Ich versage auf ganzer Linie. Schlechte Mutter. Schlechtes Gewissen. Wieder Wut.

Ich kann spüren, wie die Wut in mir feststeckt.

Unwillig krabbelt Mika zurück auf den Küchenstuhl. Es tut mir leid. Die Haut der Tomaten ist zu weich und nachgiebig, sie bietet dem Messer keine Angriffsfläche, und als ich es endlich schaffe, sie mit dem Messer zu halbieren, quellen Saft und Kerne über meine Finger. Mein Zeigefinger presst sich auf die harte schmale Oberkante des Messers, ich kann spüren, wie die Kante eine Furche in die Haut meines Fingers drückt.

Manchmal tue ich das, drücke mich gegen etwas, meine Oberschenkel gegen Tischkanten, meinen Daumennagel in den Zeigefinger, und dann spüre ich den Widerstand, den Druck, mich, dann schweigen wenigstens die Gedanken in meinem Kopf, schieben sich nicht mehr zwischen mich und die Welt. Der Schmerz ist unmittelbar. Dann weiß ich wieder, wo ich bin.

Mikas weißes T-Shirt ist von oben bis unten mit Kakao bekleckert und meine Hände sind voll mit dem Tomatenzeugs, ich finde das Geschirrtuch nicht.

»Mann Mika, du bist doch total nass jetzt.« Ich versuche, ihm den Löffel aus der Hand zu ziehen, weil er einfach immer weiter seinen Kakao löffelt und sich immer weiter bekleckert. »Jetzt leg den bitte weg und trink normal, verdammt noch mal.«

Mika reißt seinen Arm weg und stößt dabei gegen meinen Kaffeebecher. Einatmen. Ausatmen. Ich stehe barfuß im Kaffee.

Ich kann die Wut in mir hochbranden lassen, wie eine Sturmwelle an der Kaimauer, und dann lasse ich sie brechen und wieder zurückschäumen, ich kann das, wenn ich mich dabei nicht bewege. Hab ich gelernt. Einfach nur weiter im Kaffee stehen.

Mika löffelt weiter, ich sage nichts, soll er sich vollkleckern, ist nicht seine Schuld. Ich bin das. Die Tote von heute Morgen. Weil ich aufgewacht bin mit einem Zettel am Zeh, auf dem stand: Ich will das so nicht mehr.

Das stand auf dem Zettel. Das war laut und deutlich in meinem Kopf.

Es war da, als ich aufgewacht bin, es blieb all die Minuten, während ich an Salate, an Jonas und die Bar gedacht habe, und es ist immer noch da.

Der Gedanke ist wie eine tote Ratte im Garten, die man am besten schnell entfernt, weil die Viecher krank machen. Aber wohin soll ich mit diesem Gedanken?

Ich kann ihn nicht zur Seite legen und abwarten. Abwarten, weil es ja immer irgendwann weitergeht. Dieser Gedanke ist anders als sonst. Er meint keinen Tag. Kein Erlebnis.

Er meint das Ganze. Das, worin wir uns eingerichtet haben. Auch in dem Abwarten haben wir uns eingerichtet. Ich frage mich, ob das mein Leben ist. Ob das jetzt so bleibt. Für den Rest. Und wie ich das finde. Aber ich darf die Ratte nicht weiterdenken, denn wir sind vier Leute, die in diese Richtung gehen. Vier Menschen in unserer heilen Welt, die wir aufgebaut haben. Welches Recht habe ich, diese Welt zu erschüttern?

Ich darf dem nicht folgen. Nicht mal gedanklich. Der Gedanke in mir darf nirgendwo hin und ich lasse ihn nicht. Ich bin etwas geworden, was ich nie sein wollte. Nicht so jedenfalls.

Nehme die Küchenrolle, reiße unbeherrscht viel zu viel Papier ab und fange an, den Kaffee aufzuwischen, meine Fußsohlen abzutrocknen.

Während ich wische und durchtränktes Papier in den Abfalleimer werfe, stelle ich mir vor, wie ich die Küche zertrümmere.

Die Sehnsucht in mir ist ein wildes Tier, das, in einen Käfig gesperrt, an den Gitterstäben hochspringt und mich anbrüllt. Es macht mir Angst, dass sie so unbeherrschbar ist.

Man kann einem wilden Tier keine Büsche in den Käfig pflanzen und sagen: Hey, wenn du die Augen halb zumachst, sieht’s aus wie ein Dschungel. Es bleibt ein Käfig.

Ich schneide die Kartoffeln in Scheiben, und während Mika sich weiter bekleckert, versuche ich, mir einzureden, dass dieser Gedanke vorbeigehen wird, verblassen wird.

Er wird schon aufhören. Hochs und Tiefs … denke ich. Ich ziehe Frischhaltefolie über beide Salatschüsseln und sehe zu, wie sie beschlägt.

»Verdammt noch mal, jetzt ist aber echt Schluss!« Mika lässt den Kakao aus seinem Mund zurück in den Becher laufen. Nicht an Mika auslassen, denke ich.

»Dann trink ich den gar nicht mehr«, sagt Mika und steht auf.

»Auch gut«, brülle ich und erwische den Löffel, den er immer noch herumschwenkt, werfe ihn donnernd in die Spüle. Nicht an Mika auslassen.

Die gesamte Einrichtung. Wie ich alles in Stücke schlage. Und das ist tatsächlich befreiend. Ich liebe meine Küche. Jedes Teil darin. Keines möchte ich hergeben. Außer vielleicht die hässliche Wanduhr. Aber sonst nichts. Bei jedem Stück würde ich wahrscheinlich sagen: Ach nee, das doch nicht … das erinnert mich an … ist so schön, weil … und so praktisch …

Aber es einfach alles rauszuschmeißen, ohne nachzudenken, das hat etwas Befreiendes. Alles weg. Alles neu. Aber wer soll den Scheiß nachher aufräumen?

Und dann bekomme ich plötzlich schon wieder keine Luft mehr, stehe vor meinen Salaten herum und erstarre. Das Einzige, was mir einfällt, ist, mit voller Wucht meinen Zeigefinger durch die Frischhaltefolie zu stechen. Wollte ein Loch reinreißen, aber die Folie gibt nach und drückt sich in die Kartoffeln, schmiert durch die Mayonnaise und klebt jetzt an meiner Hand.

Ich schmeiße die Folie weg und ziehe eine neue drauf.

Mika ist beleidigt zu John hochgegangen oder er weckt endlich seinen Vater. Ich habe jetzt auch den Tomatensalat fertig, packe die gelbe Transportkiste, zwei Flaschen Champagner, Wechselklamotten für die Jungs (weiß der Teufel, warum sie ständig überall nass werden) und das Buch, das Jochen mir geliehen hat. Jonas’ Vater leiht mir Bücher über die deutschen Wälder aus, ich weiß nicht warum er denkt, dass ich mich für Wälder interessiere, er findet auch, die Kinder sollten mehr raus in die Natur. Ich weiß nicht, welche er meint, meine Kinder oder meine Schüler. Ich habe ihn noch nie danach gefragt. Ich finde, meine Kinder sind genug draußen. Muss noch daran denken, was über Eichhörnchen rauszusuchen. Für den Unterricht. Müssen. Sollen. Und so weiter.

Jonas ist aufgestanden, er ruft etwas auf der Treppe. Ich rufe zurück, dass ich nichts hören kann hier unten. Ich rufe es leise. Weil ich vor Wut zittre.

Ich höre, wie er die Treppen runterpoltert.

»Ich verstehe kein Wort da oben, wenn du so leise redest, Yv.«

»Ich weiß«, sage ich. Er kommt und küsst mich. Er ist noch in Unterhose und nimmt sich einen Kaffee.

Ich hätte ihn wecken können. Hab ich aber nicht. Er hätte auch einfach selbst aufstehen können. Dann hätte er mir ersparen können, darum bitten zu müssen. Hätte mir ersparen können, dass ich das Gefühl habe, selbst dran schuld zu sein. An allem. Er hätte auch die Salate machen können. Ist doch seine Mutter. Er hätte den Kaffee machen können, den er gerade trinkt, und wenn er das alles gemacht hätte, hätte ich Mika vielleicht auch nicht den Löffel aus der Hand gerissen und ihm erlaubt die Scheibe mit seinen Kakaofingern vollzuschmieren. Wer weiß. Vielleicht hätte ich. Vielleicht auch nicht. Meine Gedanken zerhacken sich gegenseitig in ihre Einzelteile, verzweifeln mich, werden unverhältnismäßig und unbeherrschbar. Er soll aufhören, mich zu küssen und anzulächeln. Wenn ich jetzt was sage, dann bin ich die mit der schlechten Laune, die, die aus dem Nichts heraus explodiert.

»Was ist denn mit Mikas Hemd los?«, fragt er, ohne mich anzusehen. Ich schaffe es einfach nicht, darauf zu antworten.