Fremdsprachenunterricht aus Schülersicht

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3.2.3 Leistungsbewertung und Zensuren

In vielen Studien, die die Sicht von Lernenden auf Schule und Unterricht erfassen, spiegelt sich der zentrale Stellenwert der Leistungsmessung bereits in der Häufigkeit ihrer Erwähnung wider. Dabei ist das Verhältnis von SchülerInnen zu Noten durchaus ambivalent. Dem Streben nach guten Zensuren stehen ein immenser Druck und die negativen Folgen schlechter Schulleistungen entgegen. Die Abhängigkeit von positiven Bewertungen ist den Lernenden uneingeschränkt bewusst und bestimmt ihr Verhältnis zu Schule und Unterricht maßgeblich (vgl. Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982:23). 52,5 % der Befragten thematisieren in der Studie von Czerwenka et al. (1990:110f.) bei der Beschreibung von Schule den Aspekt der Leistungsbeurteilung. Bemerkenswert ist hier wiederum die Zahl derer, die sich ablehnend oder kritisch dazu äußern. So sind die Hälfte der Äußerungen negative Stellungnahmen, während sich nur 41 der befragten 1.212 Lernenden eindeutig positiv über Leistungskontrollen und ‑beurteilungen aussprechen. In der Studie von Haselbeck (1999:140f.) ist es ebenfalls nur eine Minderheit der SchülerInnen, die über positive Erfahrungen hinsichtlich des Leistungsaspektes berichtet. Und auch wenn in der Untersuchung von Apel (1997:126) alle Befragten über zu viel Stress und Leistungsdruck klagen, legen die Ergebnisse von Haecker und Werres (1983:71) unter Verweis auf frühere Arbeiten nahe, dass sich SchülerInnen am Gymnasium hinsichtlich der Anforderungen und Mitbestimmung bei der Leistungsprüfung und ‑beurteilung insgesamt negativer äußern als Lernende anderer Schulformen.

Während zwischen der Selbsteinschätzung der SchülerInnen und ihrem Gesamturteil über Schule ein signifikanter Zusammenhang besteht, lässt sich dieser zwischen der Selbsteinschätzung und dem Urteil über schulische Leistungsbewertung nicht ausmachen. Sowohl Lernende, die sich insgesamt als durchschnittlich einschätzen (63,1 %), als auch diejenigen, die ihre Schulleistungen als über- (23,2 %) oder unterdurchschnittlich (13,7 %) bewerten (vgl. Czerwenka et al. 1990:103), stehen den Modalitäten der schulischen Leistungsbewertung kritisch gegenüber (vgl. ebd.: 111). Als auffällig betonen die Autoren auch die signifikante Abhängigkeit zwischen Schulunzufriedenheit bzw. Freude an der Schule und dem Urteil über Zensuren. Lernende, die gerne zur Schule gehen, thematisieren Noten deutlich seltener (7,2 %) als unzufriedene SchülerInnen, von denen fast die Hälfte negativ gegenüber dem schulischen Zensuren- und Leistungsmessungssystem eingestellt ist. Gründe hierfür liegen u.a. in der Erwartung von Misserfolg sowie dem erzeugten Leistungsdruck (vgl. u.a. Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982; Haecker & Werres 1983; Czerwenka et al. 1990; Haselbeck 1999).

Der Wunsch oder Zwang, gute Noten – auch und vor allem im Hinblick auf ihre berufliche Zukunft – erreichen zu wollen bzw. müssen, wird als große Last empfunden, da sich mit ihnen auch soziale Anerkennung oder deren Ausbleiben verbinden. Die Rolle der Eltern kann diesen Druck noch verstärken (vgl. Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982:27f.; Bocka 2003:130). SchülerInnen erfahren Notengebung auch immer als eine Form der Bewertung ihrer Person, sodass sie auch Einfluss auf das Selbstbild und Selbstwertgefühl der Lernenden nehmen und deshalb Versagensangst auslösen kann. Besonders bedenklich erscheint dies vor dem Hintergrund, dass die Selbstzuschreibung der Noten im Widerspruch zu der Aussagekraft von Zensuren über die Lernenden als Personen mit ihren eigentlichen Fähigkeiten und menschlichen Qualitäten steht (vgl. Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982:25f.; Czerwenka et al. 1990:116f.).

Als negativ wird außerdem die empfundene Einschränkung der Freizeit genannt, die aus einem Übermaß an benötigter Lernzeit resultiere (vgl. Haselbeck 1999:132). Bocka (2003:130) spricht davon, dass die viele häusliche Lernarbeit – in Form von schriftlichen Hausaufgaben sowie die Vorbereitung auf Leistungskontrollen – sogar noch problematischer sei als die eigentliche Benotung. Auch die Häufigkeit, die Ankündigungs- und Durchführungspraxis, die Dauer sowie die Transparenz und Fairness der Leistungsüberprüfung werden angemahnt (vgl. Czerwenka et al. 1990:117; Bocka 2003:123). So äußern die SchülerInnen vielfältige Vorschläge zur Reduzierung des Noten- und Leistungsdrucks, die sich u.a. auf die Organisation und Terminierung von Arbeiten beziehen: maximal ein bis zwei Tests pro Woche, die zwei bis drei Wochen im Voraus bekannt gegeben werden sollten (vgl. Bocka 2003:123). Vermieden werden sollten aus Sicht der Lernenden auch Situationen, in denen durch die Leistungsüberprüfung, z.B. in Form mündlicher Tests oder öffentliche Notenbekanntgabe, Schamgefühle entstehen oder die Lernenden blamiert werden könnten (vgl. ebd.: 130).

Wenn Zensuren zu einer Art Tauschwert geraten oder ihrem eigentlichen Zweck enthoben werden, stößt dies auf Kritik bei SchülerInnen. Lernen diene demnach nicht mehr primär einem Wissens- oder Kompetenzzuwachs, sondern werde einzig auf das Erreichen einer guten Zensur reduziert, weshalb das Gelernte danach wieder vergessen werden könne (vgl. Czerwenka et al. 1990:116ff.). Auch dass Tests und Leistungskontrollen als Instrument der Disziplinierung und Verhaltenskorrektur eingesetzt werden, verstößt in den Augen der Lernenden gegen den intendierten Sinn schulischer Leistungsbewertung (vgl. Haselbeck 1999:335). Dennoch lassen sich in keiner der Studien Hinweise darauf finden, dass SchülerInnen eine komplette Abschaffung der Noten wünschen.

3.3.4 Zur Bedeutung sozialer Beziehungen

Die Schule wird von Jugendlichen als sozialer Raum erlebt, der das Treffen von Freunden und Kennenlernen neuer Menschen ermöglicht (vgl. u.a. Nölle 1995:115; Denner et al. 2002:52). Eine intakte und gut funktionierende Klassengemeinschaft stellt insofern für SchülerInnen1 einen sehr wichtigen Aspekt von Schule dar (vgl. Bocka 2003:132), der Einfluss auf das Lernen, die Schulleistung, das Verhalten und die Persönlichkeitsentwicklung nimmt (vgl. Grewe 2017:547). Obwohl einige der Studien zum Klassenklima aus Schülersicht bereits einige Jahre zurückliegen, zeichnen deren Ergebnisse ein überwiegend positives Bild bezüglich des Auskommens und sozialen Miteinanders von SchülerInnen (vgl. u.a. Kanders et al. 1996:66). In der Untersuchung von Haecker und Werres (1983:84f.) geben mehr als 80 % der Befragten an, sich immer oder oft mit anderen zu vertragen, Freude am Zusammensein mit den KlassenkameradInnen zu empfinden und sich nie oder sehr selten von diesen allein gelassen zu fühlen. Häufig werden Freunde und KlassenkameradInnen sogar als die wichtigsten Bezugspersonen genannt, die wesentlichen Einfluss auf das eigene Wohlergehen im schulischen Kontext nehmen. Werte wie Kompromissbereitschaft, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Offenheit, Vertrauen, gegenseitige Achtung sowie ein partnerschaftlicher Umgang prägen das Verständnis einer funktionierenden Klassengemeinschaft (vgl. Haselbeck 1999:345).

Dennoch gibt es einen geringen Anteil an SchülerInnen (4 %), der dieses positive Urteil hinsichtlich des Zusammenhalts und der Hilfsbereitschaft nicht teilt und angibt, sich stets oder oft ausgeschlossen zu fühlen (vgl. Haecker & Werres 1983:86). Andere Studien sprechen sogar von 12,8 % der Lernenden, die über negative soziale Erfahrungen in der Schule berichten (vgl. Czerwenka et al. 1990:139). Diese beziehen sich zumeist auf Streit und Aggressionen (ebd.) sowie unfaires Verhalten, z.B. Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund des Aussehens, der Nationalität, einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit oder wenn bei Fehlern gelacht wird. Aus einer solchen Außenseiterposition wieder herauszukommen empfinden die Betroffenen aufgrund fehlender Unterstützung als sehr schwer (vgl. Bocka 2003:132f.). Auch SchülerInnen, die als „zu gut“ oder „zu schlecht“ aus der Klassengemeinschaft herausstechen, erfahren häufig Stereotypisierungen und damit soziale Abwertung (vgl. Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982:48f). Dies führe zu einem Dilemma zwischen der sozialen Norm der Klassengemeinschaft einerseits und der schulisch vorgegebenen, formalen Konkurrenzstruktur andererseits. Der Wunsch, besser zu sein als die anderen, kollidiert mit dem Interesse an freundschaftlichen und kooperativen Beziehungen in der Klasse. Diese beiden Pole verlangen von den Lernenden ein ständiges Austarieren, um weder das Verhältnis zu MitschülerInnen zu gefährden noch im Vergleich der Leistungen zu unterliegen.

Für Schüler können sich vielfältige Probleme aus der Konkurrenzstruktur im Klassenverband ergeben: die Angst vor dem Unterliegen in der Konkurrenz mit den anderen Schülern; die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls als Person und der eigenen beruflichen und sozialen Zukunftsperspektiven von der relativen Stellung in der Leistungshierarchie; der Verlust der sozialen Bezüge zu anderen Schülern, den Konkurrenzstrukturen mit sich bringen können etc. (Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982:43).

Besonders nachdenklich stimmen die Ergebnisse einiger Langzeitstudien, die die Entwicklung des Klassenklimas über mehrere Jahrgangsstufen hinweg untersuchen und zu dem Ergebnis kommen, dass die Lernenden mit zunehmendem Alter mehr Konkurrenz in der Klasse wahrnehmen. Da das Klima von deutschen SchülerInnen im internationalen Vergleich deutlich schlechter eingeschätzt wird, ist dies jedoch nicht ausschließlich entwicklungspsychologisch, sondern vor allem durch schulische Faktoren zu begründen (vgl. Grewe 2017:550f.).

3.3 Die Schülersicht in der fremdsprachendidaktischen Forschung

In der fremdsprachendidaktischen Forschung im deutschsprachigen Raum finden sich Arbeiten zur Schülersicht vergleichsweise seltener als in der Pädagogik. So plädiert auch Edmondson (1996a: 81) dafür, die Erfahrungen und Einsichten der Lernenden in der Fremdsprachendidaktik und in der Fremdsprachenpolitik als Evaluationskriterien für das Produkt Fremdsprachenunterricht ernster zu nehmen. Darüber hinaus verfolgen sie andere Ansätze. Der Zugang zur Schülersicht erfolgt hier insbesondere über die Erforschung attitudinaler und affektiver Faktoren beim Fremdsprachenlernen (vgl. u.a. Düwell 1979; Hermann-Brennecke 1983; Meißner et al. 2008; Cronjäger 2009; Venus 2017b) sowie Studien zu subjektiven Theorien (vgl. Kallenbach 1996) bzw. beliefs (vgl. Rück 2009) oder zur Bildungsgangforschung (vgl. u.a. Trautmann 2014; Bauer 2015). Alle drei Forschungsstränge sollen nachfolgend kurz skizziert werden.

 

Erforschung attitudinaler und affektiver Faktoren

Den Versuch einer Auseinandersetzung mit den Begriffen „affektive“ und „attitudinale“ Faktoren unternimmt Finkbeiner. Sie verweist auf eine „Tradition der Vermischung von Konstrukten“ (2001:355). Infolge der terminologischen Vagheit relativiert sie die Möglichkeit einer eindeutigen und trennscharfen Definition. Vielmehr könne es sich bei Definitionsversuchen deshalb nur um eine Annäherung an Vorstellungen über diejenigen Konstrukte handeln, die „im Moment von der scientific community am ehesten mit den Begriffen attitudinal und affektiv assoziiert werden“ (ebd.). Sie fordert insofern dazu auf, „zu explizieren, was wir untersuchen, wenn wir von affektiven und attitudinalen Faktoren sprechen“ (ebd.). Riemer (2001:379) kritisiert bei der Erforschung affektiver Faktoren, dass häufig nicht trennscharf zwischen Einstellungen, Orientierungen, Motivationen und Motiven unterschieden wird, was einen Überblick über dieses Forschungsgebiet erschwert. Auch Venus weist auf Überlappungen des Faktors Einstellungen mit anderen Konzepten hin und konstatiert, „dass der Motivationsbegriff Einstellungen zu verschiedenen Einstellungsobjekten umfasst, d.h., Einstellungen werden hier als ein der Motivation untergeordnetes Konzept begriffen“ (Venus 2017a: 123).

Als wegweisend für die Erforschung der attitudinalen und affektiven Faktoren beim Fremdsprachenlernen ist die Fragebogenstudie von Düwell (1979) anzuführen, dessen Forschungsinteresse sich auf die Motivation, die Einstellungen sowie das Interesse von SchülerInnen im Französischunterricht der Sekundarstufe I ab Klasse 7 richtet. Eine spätere, jedoch in Erkenntnisinteresse und Forschungsmethodik vergleichbare Untersuchung bildet die europäische Vergleichsstudie Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES) von Meißner et al. (2008), welche die Lernerfahrungen sowie Einstellungen und Haltungen von SchülerInnen zweier Jahrgangsstufen gegenüber verschiedenen Sprachen quantitativ erforscht. Venus (2017b), die ebenfalls im Rahmen einer quantitativen Fragebogenstudie die Einstellungen von bayerischen SchülerInnen an Gymnasien und Realschulen untersucht, geht darüber hinaus den Zusammenhängen dieser Einstellungen mit dem Lernerfolg sowie im Hinblick auf Unterschiede zwischen bestimmten Gruppen (z.B. Geschlecht oder Sprachenfolge) nach.

In einem engen Zusammenhang mit der Schülersicht steht ebenso die individuelle Lernervariable Motivation, die neben der Sprachlerneignung als einer der „big two“-Faktoren für erfolgreiches Fremdsprachenlernen gilt (vgl. Ellis 2004). Riemer nennt als die beiden Hauptstränge der Motivationsforschung Inhalts- und Prozesstheorien, wobei sich die Forschung bislang vor allem „mit den Beweggründen von Lernenden für das Fremdsprachenlernen und damit verbundenen Willensbildungsprozessen als mit motivationalen Prozessen im Verlauf des Fremdsprachenlernens befasst “ (Riemer 2016:267). Gerade Letztere, die Prozesstheorien, sind jedoch von Interesse, wenn es bspw. um Abwahlentscheidungen in Bezug auf die zweiten Fremdsprachen geht. Einem solchen Ansatz folgt in der romanistischen Fremdsprachenforschung zuletzt Hoffmann (2017), die in ihrer qualitativen Fallstudie mithilfe eines halbstrukturierten, leitfragenorientierten Interviews die Motive und Motivationsprozesse von FranzösischschülerInnen der elften Jahrgangsstufe in Berlin untersucht.

Obwohl die Berücksichtigung von Emotionen beim Fremdsprachenlernen in der Vergangenheit immer wieder als Desiderat formuliert wurde, beschränken sich bisherige Ansätze in der Emotionsforschung weitgehend auf den affektiven Faktor Angst, insbesondere im Hinblick auf die mündliche Sprachproduktion (vgl. Riemer 2016:268f.). Besonders hervorzuheben ist insofern die Arbeit von Cronjäger (2009), die mittels eines Längsschnittdesigns die Intensität, die Bedingungen und Wirkungen sowie Veränderungen von Unterrichtsemotionen (Freude, Stolz, Ärger, Angst, Langeweile) während eines Schuljahres zu vier unterschiedlichen Messzeitpunkten untersucht.

Betrachtet man die forschungsmethodologischen Konzeptionen, die diesen Untersuchungen zugrunde liegen, fällt auf, dass die Mehrzahl der Arbeiten, die sich mit der Erforschung affektiver Faktoren beschäftigen, quantifizierende Ansätze verfolgen. Daneben existieren jedoch auch Studien, die im qualitativen Forschungsparadigma zu verorten sind.

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien

Besonders hervorzuheben ist hier das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (vgl. Kallenbach 1996; Grotjahn 1998; Kolb 2007), das einen explorativen Zugang zu den individuellen Sichtweisen der SchülerInnen auf das Erlernen fremder Sprachen ermöglicht. Durch die Anwendung dieses aus der Sozialpsychologie stammenden Forschungsprogramms (vgl. Groeben et al. 1988) auf den Kontext des Fremdsprachenlernens gelingt es, Einsichten in die individuellen Vorstellungen und Überzeugungen von Lernenden – d.h. „ihre jeweils subjektiv erlebten, empfundenen und ‚verarbeiteten‘ Erfahrungen im Umgang mit Fremdsprachenlernen“ (Kallenbach 1996:75) – zu gewinnen. Die individuellen Sichtweisen von OberstufenschülerInnen erhebt Kallenbach mittels eines dreischrittigen Verfahrens aus Interview, Fragebogen und Struktur-Lege-Technik.1 Damit unterscheidet sich ihre Studie in Bezug auf die theoretische Konzeption, die der Schülersicht zugrunde gelegt wird. Denn anders als bei den zuvor genannten Arbeiten geht es bei diesem Ansatz nicht um die empirische Messung bzw. Erforschung affektiver Lernervariablen, sondern um „komplexe Wissenskonstrukte, die der/die einzelne aus der persönlichen Erfahrung im Umgang mit Fremdsprachen in und außerhalb der Schule aufbaut“ (ebd.: 49).

Martinez (2008:98) verweist in ihrer Studie auf das Forschungsprogramm Subjektive Theorien als den „am weitesten ausgearbeitete[n] Ansatz zur Rekonstruktion der subjektiven Sicht von Lernenden“. Aktuelle fremdsprachendidaktische Studien (vgl. u.a. Trautmann 2014; Bauer 2015) wählen bei der Erfassung der Lernerperspektive zunehmend qualitativ-rekonstruktive Forschungsansätze, die der Bildungsgangforschung (vgl. Decke-Cornill et al. 2007) zuzuordnen sind. Diese betont die Prozesshaftigkeit von subjektiven Bildungsgängen sowie die biografische Dimension des Lernens und ist damit besonders geeignet, bildungsbezogene Entwicklungsverläufe in den Blick zu nehmen (vgl. Kallenbach 2007:217).

Bildungsgangforschung

Meyer bezeichnet die Bildungsgangforschung als „research on learner development and educational experience (Meyer 2009:1), die „mit der Konzentration auf den Gang der Bildung die Perspektive der Lernenden [betont]“ (ebd., Hervorh. im Orig.). Als Fragestellungen der Bildungsgangforschung formuliert Meyer folgende Schwerpunkte:

 Uns interessiert Bildung als ein sozialisatorischer Prozess, in dem sich das Selbst entwickelt, mit Krisen, Regressionen, Brüchen, Entwicklungsschüben und Aufbrüchen.

 Uns interessieren die Perspektiven, die sich für die Selbstregulation des Lernens unter der Bedingung institutionalisierter Lehre eröffnen.

 Uns interessiert, wie sich Heranwachsende in diesen Lehr-Lern-Situationen verhalten, wie sie ihre Lernaufgaben deuten und welche Sinnkonstruktionen sie mit dem Unterricht verbinden.

 Uns interessiert, ob und wie die Heranwachsenden Entwicklungsaufgaben, die gesellschaftliche Anforderungen und Beschränkungen mit individuellen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten vermitteln, wahrnehmen und bearbeiten.

 Uns interessiert, wie die Heranwachsenden nicht nur Wissen und Können, sondern zugleich auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zu verantwortlichem Handeln für eine Welt entwickeln, die zunehmend komplexer und schwieriger wird. (ebd., Hervorh. im Orig.)

So richtet sich bspw. das Erkenntnisinteresse der Arbeit von Trautmann auf die Rekonstruktion subjektiver Erlebnisweisen und die Frage, „wie Fremdsprachenlernen/‑erwerb von Schülerinnen und Schülern subjektiv erfahren und bewältigt wird“ (2014:10), um Bedingungen des Gelingens bzw. Misslingens der Anforderung Fremdsprachenlernen herauszuarbeiten. Ähnlich gelagert ist die Herangehensweise von Bauer, die in ihrer Arbeit „die Erfahrungen der Lernenden sowie ihre daraus resultierende Bezugnahme zur englischen Sprache sowie zu den Fachgegenständen des Englischunterrichts“ (2015:104, Hervorh. im Orig.) rekonstruiert. Beide Ansätze zeigen die Potenziale rekonstruktiver Forschungsansätze auf, sind jedoch eher in der anglistischen Fremdsprachendidaktik zu verorten. Vergleichbare Untersuchungen aus der Didaktik der romanischen Sprachen liegen bislang nicht vor.

Wie deutlich wurde, verfolgen Studien, deren Erkenntnisinteresse auf die Erforschung der Lernerperspektive gerichtet ist, zum Teil unterschiedliche Ansätze und sind damit in ihren methodischen Zugängen nur bedingt vergleichbar. Dennoch liefern sie wichtige Einsichten in die subjektiven Sichtweisen von SchülerInnen. Ein Überblick über zentrale Ergebnisse der Arbeiten zur Schülersicht soll daher Gegenstand der nachfolgenden Kapitel sein.

3.3.1 Die Abwahl der zweiten Fremdsprache

Neben der Notwendigkeit einer kritischen Hinterfragung der bildungspolitischen Rahmenbedingungen (vgl. Kap. 2) legen die vorliegenden empirischen Untersuchungen1 nahe, dass die Abwahl des Faches Französisch auch vor dem Hintergrund des erlebten Unterrichts zu diskutieren ist. Auch Meißner (1997:19) mahnt an, dass monokausale Begründungszusammenhänge zu kurz greifen, um diese Entwicklungen hinreichend zu erklären, und verweist auf die Notwendigkeit, die Motive für die Hinzu- oder Abwahl von Fremdsprachen in der Sekundarstufe II genauer zu erforschen.2 Neben einer Reihe anderer Fragestellungen wirft auch er die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen konkreten Unterrichtserlebnissen und dem Abwahlverhalten von SchülerInnen auf. Die Ursachen für die Entscheidung gegen eine bestimmte Fremdsprache scheinen vor allem in (schulischen) Lernerfahrungen begründet:

Während bei Eintritt in die Sekundarstufe und zu Beginn des Fremdsprachenunterrichts schulisches und berufliches Nützlichkeitsdenken dominieren, treten nun [am Ende der Sekundarstufe I, Anm.d. Verf.] die Auswirkungen der persönlichen Begegnung mit dem fremdsprachlichen Medium in den Vordergrund. (Hermann-Brennecke & Candelier 1993:240)

Auch Schumann und Poggel (2008:114) argumentieren, dass der Rückgang der Schülerzahlen nicht dem mangelnden Interesse der Jugendlichen an Frankreich und den FranzösInnen, „sondern eher der Methodik des Französischunterrichts und den Frustrationserlebnissen beim Erlernen der französischen Sprache geschuldet ist“. Nur die Hälfte der SchülerInnen (53,3 %) gibt an, Französisch gern zu lernen; 41 % verneinen dies. Etwa ein Drittel der Lernenden (36,7 %) lernt Französisch nur aufgrund der Obligatorik einer zweiten Fremdsprache (vgl. ebd.: 116). Venus (2017b) kann in ihrer Arbeit zeigen, dass mehr als 60 % der SchülerInnen nach der Schulzeit Französisch nicht weiterlernen wollen.3

Entgegen den bereits angesprochenen Befürchtungen einer vermeintlichen Bedrohung des Französischen durch andere (Schul‑)Fremdsprachen4 verdeutlichen die Ergebnisse von Bittner, der im Rahmen einer quantitativen Fragebogenstudie an Hamburger Gymnasien dem Zusammenhang zwischen Unterrichtsgestaltung und Wahlverhalten am Ende der Sekundarstufe I nachgeht (vgl. Tab. 3), dass „[s]chlechte Zensuren, ein hoher Schwierigkeitsgrad des Faches und bisweilen Unzufriedenheit mit der Unterrichtsgestaltung“ (2003:347) zu den wichtigsten Gründen gehören, die zur Abwahl des Faches führen.


Anzahl der Nennungen Gründe für die Abwahl des Faches Französisch
257 schlechte Zensuren / schlechte Leistungen / Wissenslücken / bin nicht so gut / komme nicht gut zurecht
224 Französisch ist (zu) schwer
172 schlechter Unterricht / schlechte Vermittlung / Unterricht macht keinen Spaß / mag das Fach nicht / Unterricht interessiert mich nicht / Unterricht ist langweilig / schlechte Lehrer
65 ziehe Englisch vor / Englisch ist wichtiger / Englisch ist Weltsprache / Englisch ist leichter
40 sprachlich nicht begabt
36 wähle nichtsprachliche Fächer / ziehe naturwissenschaftliche Fächer vor
33 ziehe Spanisch vor / Spanisch ist wichtiger
31 Ablehnung gegenüber Franzosen und der Sprache

Tabelle 3:

 

Gründe für die Abwahl des Faches Französisch (Bittner 2003: 343)

Gleiches zeigt die Untersuchung von Düwell (1979:100). Als häufigste Gründe für sinkendes Fachinteresse werden von den Lernenden der zehnten Jahrgangsstufe „Monotonie in der Methode/ keine ansprechenden Themen“, „Es wird immer schwerer/ Leistungen lassen nach“ sowie „Zur Person des Lehrers“ genannt.

Beide Studien verdeutlichen, dass sich trotz des großen zeitlichen Abstandes die Gründe, die für sinkendes Interesse genannt werden, ähneln und dass es vor allem unterrichtsimmanente Faktoren sind, die für die Abwahl des Faches Französisch den Ausschlag geben. Im Folgenden soll deshalb genauer dargestellt werden, was die Lernenden im Einzelnen über diese Faktoren denken. Da in beinahe allen Studien auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowie im Vergleich der Jahrgangsstufen hingewiesen wird, greifen die UnterKapitel 3.3.6 und 3.3.7 diese Diskurse auf.