Czytaj książkę: «Ruhm und Cola»
Julia Born
Ruhm und Cola
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Vier Jahre zuvor
Gegenwart
Epilog
Impressum neobooks
Prolog
Ein dumpfes Pochen riss mich aus dem Tiefschlaf. Ich lauschte in meine dunkle Wohnung hinein. Der Mond vor meinem Balkonfenster erhellte spärlich die alten Dielen. Nichts. Grummelnd drehte ich mich auf die andere Seite und schob meinen Kopf tiefer in die Kissen. Als ich endlich eine einigermaßen bequeme Position gefunden hatte und sanft wegdämmerte, wiederholte sich das Geräusch, welches diesmal eindeutig als Klopfen gegen meine Wohnungstür einzuordnen war. Einen Moment lag ich einfach nur da, starrte noch nicht ganz wach meine Deckenlampe an und wägte die Möglichkeiten ab. Vielleicht würde es verschwinden, ohne dass ich meine warme Gemütlichkeit verlassen musste. Immer noch Stille. Dann wieder Gepolter, diesmal lauter, entschiedener. Verschlafen tastete ich nach meiner Brille auf dem Nachttisch. Mein Blick fiel auf den Wecker: halb vier. Es war gottverdammt nochmal zu früh für einen Gast. Schwerfällig schälte ich mich aus dem Bett und tapste barfuß zur Tür. Der Holzboden war kalt und ich begann zu frösteln. Es gab nur eine einzige Person, die es wagen würde, mich um diese Uhrzeit aufzuscheuchen. Nach einer kurzen Kontrolle durch den Türspion, sicher ist sicher, bestätigte sich meine Vermutung.
»Hejjjj.« Glasig aber durchaus erfreut lächelte mich mein Nachbar Schrägstrich bester Freund von unten herauf an. Er saß auf dem abgehenden Treppenabsatz, seine dunkelgraue Skinny-Jeans war noch tiefer gerutscht, als er sie sowieso schon trug und gab den Großteil der mit Donuts bedruckten Boxershorts frei, seine blonden Haare standen zerzaust in alle Richtungen. Obwohl es im Flur und auch vor der Haustür unangenehm kühl war, hatte er auf eine Jacke verzichtet und trug lediglich ein schwarzes T-Shirt. In der linken Hand hielt er eine halbvolle Flasche Weißwein. Immerhin schoss er sich mit Stil aus dem Leben. »Alles gut bei dir?« Meine, zugegeben, rhetorische Frage hätte ich mir angesichts seines Zustandes auch direkt sparen können. Alexander Fink, seines Zeichens Gitarrist einer Indie-Pop-irgendwas-Band sowie Tontechniker für mehrere namenhafte und überregional bekannte Musikgruppen, war so dermaßen im Eimer, dass definitiv nicht alles gut bei ihm war. Dennoch nickte er tapfer und versuchte sich aufzurappeln. Dabei verlor er das Gleichgewicht, suchte Halt und ließ die Weinflasche los, die klirrend auf den Stufen zerschellte. »Ups.« Seine Augen suchten entschuldigend meinen Blick, bevor sie wieder in eine nicht erreichbare Leere abdrifteten. Ich seufzte resigniert. »Komm her, du Rumtreiber.« Vorsichtig legte ich seinen Arm um meinen Nacken und schlüpfte unter seine Achsel. »Geht schon«, murmelte er, schwankte dabei aber so bedenklich, dass ich ihn etwas enger an mich zog. Er roch nach Zigaretten und Alkohol. Wie er es die Treppen hochgeschafft hatte, wollte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, vergrub er sein Gesicht in meinen Haaren. Eine Geste, die mir mittlerweile sehr vertraut war und die mir trotzdem jedes Mal eine kleine Glücks-Gänsehaut auf den Rücken zauberte. Ich hatte diesen kaputten Typen echt verdammt gern.
»Wo sind denn deine Wohnungsschlüssel?«, fragte ich so deutlich, dass meine Stimme dumpf von den leeren Wänden des Treppenhauses widerhallte. Er zuckte nur die Schultern. Um mir eine Suche in seinen Hosentaschen zu ersparen, beförderte ich, den mich um mehr als einen Kopf überragenden, Alex halb auf mir hängend, halb gehend in meine Wohnung und auf die Couch. Auch für diese war er viel zu groß: Seine langen Beine baumelten an einer Seite herunter, was ihn allerdings nicht zu stören schien. Er schmatzte zufrieden und rückte den Kopf auf einem meiner Kuschelkissen zurecht, mit denen er mich vor gar nicht allzu langer Zeit noch aufgezogen hatte. Bevor ich ihn fragen konnte, was der Anlass für seinen formidablen Zustand war, vernahm ich bereits ein leises Schnarchen. Nicht unbedingt ein Nachteil für ihn, denn meine Schläfrigkeit war komplett verschwunden und damit auch jegliche Toleranz für diese nächtliche Störung. Eine Standpauke wäre ihm sicher nicht erspart geblieben. Gedankenverloren streichelte ich ihm eine Weile über den Kopf, bevor ich den Rückweg in mein Bett antrat. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Unruhig wälzte ich mich herum, rechnete die Stunden aus, die mir noch bis zum Klingeln des Weckers blieben und hing meinen ebenso wachen Gedanken nach, die sich wie ein Suchscheinwerfer auf meine Sorgen um Alex richteten. Klar, ich ging auch gerne aus und in den letzten Jahren hatten wir sicher mehr als einen Drink zu viel gemeinsam genommen und uns bis Sonnenaufgang durch die Bars der Stadt getrunken. Aber das, was Alex in den letzten Wochen an Tempo vorlegte, war kaum noch einzuholen. Bisher hatte ich mich noch nicht getraut, ihn darauf anzusprechen und still gehofft, dass diese Phase genauso schnell wieder vorübergehen würde, wie sie gekommen war.
Als es langsam dämmerte und die Sonne erste vorsichtige Strahlen durch mein Fenster schickte, gab ich meinen Schlaf endgültig auf. Natürlich bekam Alex nichts davon mit, dass ich mein Putzzeug zusammensuchte, um die Reste der Weinflasche zu beseitigen, bevor sich am nächsten Morgen jemand beim Hauswart über uns beschweren konnte. Er lag weiter völlig unbehelligt und vermeintlich unschuldig da, die für einen Mann unfairerweise dichtbewimperten Augen fest geschlossen.
Während ich die Glasscherben vorsichtig in einen Müllsack packte, dachte ich an unsere erste Begegnung in jenem Treppenhaus vor vier Jahren. Es kam mir unwirklich vor, wieviel wir seitdem gemeinsam erlebt hatten und welchen Platz der Idiot von gegenüber mittlerweile in meinem Herzen einnahm.
Vier Jahre zuvor
Fuck. Frisch geduscht von einem sommerlichen Regenschauer und mit meinem ebenfalls durchweichten Einkauf in der Hand, schloss ich die Tür zum Hausflur auf. Eigentlich kein Wunder, dass dieser Tag von so einem Mist gekrönt wurde. Mit der freien Hand angelte ich meine Post aus dem Briefkasten, wohlwissend, dass sie mir vermutlich den nächsten Dämpfer versetzen würde. Nicht nur Rechnungen, sondern auch die Urlaubskarten meiner Freundinnen lösten in mir derzeit latente Verspannungen aus. Die lagen jetzt nämlich irgendwo schön am Strand, während ich, gefangen in der Probezeit meines neuen Jobs, in diesem versifften Berliner Sommer vor mich hin gammelte. Super. Es war sogar noch deprimierender, wenn man niemand anderem die Schuld geben konnte als sich selbst.
Während ich die knarzenden Treppen zu meiner, zugegebenermaßen sehr schönen und als absoluten Glückstreffer zu bezeichnenden, Altbauwohnung hochstieg, kramte ich in der Handtasche nach meinem Schlüssel. Passend zu meiner Laune war dieser ebenfalls bis auf den Boden gesackt. Mit den Augen in der Tasche nahm ich die letzte Stufe und traf plötzlich auf ein nicht eingeplantes Hindernis, welches mich binnen einer Millisekunde völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Ich ließ die Tüte mit den Lebensmitteln fallen und klammerte mich in einer letzten lebenserhaltenden Maßnahme ans Treppengeländer, um einen Sturz abzuwenden. Mein Puls schlug heftig und ich spürte das Adrenalin durch meinen Körper jagen. Am Fuß der Treppe lag ein matschiger Haufen aus Joghurt, kullernden Cocktailtomaten und zerbrochenem Glas. Na ja. Besser der Einkauf als ich. Was zur Hölle? Schwer atmend und immer noch schockiert, rappelte ich mich auf, strich mir fahrig den Pony aus den Augen und versuchte die Lage zu überblicken. Der Absatz vor meiner Wohnung war vollgestellt mit Krempel. Taschen, Tüten und gleich drei Gitarrenkoffer versperrten den kompletten Weg. Waren die Beatles kurzfristig bei mir eingezogen?
Leider nicht, wie ich feststellte, als ich meinen Blick weiterschweifen ließ, denn zwischen all diesen Habseligkeiten entdeckte ich einen großgewachsenen Typen, dessen irrwitzig lange Beine halb auf einem Bundeswehrseesack, halb auf einem weiteren Gitarrencase lagen. Er schlief tief und fest. Nicht mal mein filmreifer Stunt inklusive des spektakulären Abgangs meines Wocheneinkaufs schienen ihn in seiner Dornröschenphase gestört zu haben. »Hoffentlich ist er nicht tot«, schoss es mir durch den Kopf und schon im nächsten Moment wurde mir klar, wie unsinnig dieser Gedanke war. Wieso sollte er tot sein? Zögernd schlich ich ein Stückchen näher heran, obwohl ich mir das Schleichen dank seines Tiefschlafs wohl hätte schenken können. Er trug kaputte Jeans, noch kaputtere Vans und ein graues T-Shirt, unter dem sich sein Brustkorb glücklicherweise gleichmäßig hob und senkte. An einem Arm war er auffällig tätowiert. Die kinnlangen und hinter die Ohren gesteckten Haare forderten sehr eindringlich eine Auffrischung der bereits verwaschenen und gelb-stichigen Blondierung, während in seinem Gesicht etwas wuchs, was definitiv nicht mehr als Dreitagebart durchging. Alles an ihm schrie: Musiker. Das hatte mir hier gerade noch gefehlt. Ein neuer Nachbar, der bis spätmorgens Coverversionen von Ed Sheeran auf der Gitarre hintrümmerte und von einer Karriere als nächste Stimme von Deutschland träumte. Augenrollend überlegte ich, ob ich ihn anstupsen und wecken oder einfach stillschweigend in meine Wohnung verschwinden sollte. Da ich das Einkaufsdebakel aber sowieso früher oder später wegputzen musste und immer noch etwas Restadrenalin durch meinen Körper heizte, entschied ich mich ziemlich schnell dafür, ihn unsanft wachzurütteln. »Hey! Super Einstand hier mit dem Krempel im Treppenhaus, ich hätte mir das Genick brechen können!«, keifte ich und es klang einen Tick zickiger als gewollt, aber immerhin musste man mir zugutehalten, dass ich gerade erst knapp dem Tod entkommen war. Trotz der Lautstärke, die durch den Hall der hohen Wände des Altbaus noch verstärkt wurde, dauerte es einen Moment, bis er die Augen öffnete und mich müde anblinzelte. »Hä?« Er rieb sich über das Gesicht. »Ja, genau: Hä. Vielleicht könntest du dein Zeug mal ein bisschen zur Seite schaffen oder aber IN deine neue Wohnung. Hier leben noch andere Menschen!« Die Worte platzten einfach so aus mir heraus, ohne dass ich die Emotionen darin kontrollieren konnte und ich beherrschte mich gerade noch, nicht doch einem seiner Koffer einen wütenden Tritt zu verpassen. Der Gesichtsausdruck meines Gegenübers wechselte von verschlafen zu erschrocken, zu ungläubig. Als ich schon fest damit rechnete, dass jetzt so etwas saloppes wie: »Chill doch mal«, kommen würde, stand er umständlich auf und kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. »Tut mir leid … Gerade zurück … Jetlag … Schlüsseldienst.« Murmelte er unzusammenhängend in ein ausgiebiges Gähnen hinein. Dann streckte er sich kurz und reichte mir, ziemlich bestimmt seine Hand, die ich so lange mit voller Absicht ignorierte, bis er sie wieder zurückzog. Konnte es noch unangenehmer werden? Konnte es. »Ich bin Alex.« Stellte er sich vor und mit unverhohlener Genugtuung in der Stimme ergänzte er: »Und nur zur Info: Ich wohne seit sechs Jahren in der Wohnung hier.« Er deutete auf die verschlossene Tür hinter sich. Nun war ich es, die mehr als dumm aus der Wäsche schaute. Seit meinem Einzug vor, immerhin, drei Jahren war ich davon ausgegangen, dass die Wohnung gegenüber leer stand. Ich hatte sogar einer ehemaligen Kollegin empfohlen, mal die Vermieter anzuschreiben und nachzufragen, ob sie einziehen könnte. Während sich mein Gedanken-Karussell drehte, schien Alex sich endgültig gefangen zu haben. Leicht abschätzig musterte er erst mich, dann meine verunfallten Einkäufe. »Du hättest ja auch ein bisschen besser aufpassen können. So klein sind meine Koffer nun auch nicht.« Augenblicklich kochte die Wut in mir wieder hoch. Arschgesicht. Wahrscheinlich war er mir deshalb noch nie als Bewohner von gegenüber aufgefallen. Vollidioten ignorierte ich normalerweise. »Nur zur Info«, ich imitierte seinen Tonfall und zeigte mit den Fingern Gänsefüßchen, »fahr doch zur Hölle«, zischte ich und stieg über seinen Seesack hinweg zu meiner Tür.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, verrauchte mein Zorn und wich unendlicher Erschöpfung, die der vollgepackte Tag mit sich gebracht hatte. Unachtsam warf ich meine Tasche in eine Ecke des Flurs, streifte die Turnschuhe von den Füßen und stieg in meine Pantoffeln. Obwohl ich mich nach nichts mehr sehnte, als nach einer heißen Dusche und frischen Klamotten, am besten direkt meinem Schlafanzug, half alles nichts: Ich musste irgendwann zurück ins Treppenhaus und die Überreste der Lebensmittel beseitigen. Am besten beseitigte ich bei dieser Gelegenheit meine neue Bekanntschaft von gegenüber direkt mit. Während ich unter der Spüle nach einem Müllbeutel kramte, ließ mich die Tatsache seines plötzlichen Erscheinens nicht los. Natürlich wusste ich, das Berlin als anonyme Großstadt galt, aber dass mir tatsächlich drei Jahre lang mein direkter Nachbar entgangen war, wunderte mich schon. Zumal, und das musste ich leider zugeben, er gar nicht so schlecht aussah. Oder zumindest, man musste ja die Kirche im Dorf lassen, einen gewissen Wiedererkennungswert besaß. Irgendwie hatte er was. Also abgesehen von einem riesigen Ego und einer unverschämten Attitüde. Und auch, dass ich noch nie eine Gitarre gehört hatte, obwohl er ja offensichtlich gleich mehrere besaß, kam mir komisch vor. War das alles einfach so an mir vorbeigegangen oder war ich vielleicht doch so sehr auf mich selbst konzentriert, dass meine Beobachtungsgabe immer mehr im Alltagsrauschen versumpfte?
Bewaffnet mit einem Wischmopp und gewappnet für einen weiteren Schlagabtausch mit meinem neuen alten Nachbarn, zählte ich innerlich bis zehn und stieß die Tür zum Treppenhaus wieder auf. Aber gerade als ich zu einem mehr oder weniger versöhnlichen: »Okay, lass uns nochmal von vorne anfangen …«, ansetzte, bemerkte ich, dass der Flur leer war. Nicht ganz leer, sein Gerümpel stand nach wie vor herum, nur der Besitzer fehlte. Sei’ s drum, dann eben nicht. Ich entsorgte das, was mein Abendessen hätte werden sollen, putzte die Joghurtreste von den Stufen und ertappte mich unangenehmerweise dabei, wie ich mir extra viel Zeit ließ. Denn auch, wenn unsere erste Begegnung nicht gerade positiv verlaufen war, kitzelte mich der Reiz einer weiteren hitzige Diskussion und darüber hinaus die Möglichkeit mehr über den mysteriösen Fremden zu erfahren. Zum Beispiel, ob er die Gitarren wirklich spielte oder nur dekorativ in der Gegend herumstehen ließ, um anderen Leuten, mir zum Beispiel, mittelschwere Verletzungen zuzufügen.
Als die Treppe jedoch sauberer war als vorher und vermutlich auch als jemals zuvor, resignierte ich. Es gab eben keine zweite Chance für den ersten Eindruck und ich freundete mich besser damit an, dass ich auf ewig die hysterische Zicke und er der arrogante Idiot bleiben würde. Auf gute Nachbarschaft.
Gegenwart
Als mich ein hupender LKW unsanft aus meinem Schlaf riss, war es schon weit nach neun. Verdammt. Scheinbar waren mir nach meiner Putzaktion noch einmal die Augen zugefallen. Fluchend schwang ich meine Beine aus dem Sessel in meinem Schlafzimmer, in welchem ich mich mit dem ursprünglichen Plan niedergelassen hatte, den anbrechenden Tag abzuwarten und nicht mehr wegzunicken. Der abrupte Aktionismus entpuppte sich als etwas zu schwungvoll für meinen Kreislauf, denn sofort wurde mir schummerig vor Augen und ich ließ mich zurück auf das Polster sinken. Tief durchatmen. Ganz langsam. Ich versuchte, mich zu beruhigen, wusste aber gleichzeitig, dass mir meine Stresssituation eigentlich keine Ruhe erlaubte. Mein Handy zeigte die geöffnete Wecker-App. Da hatte ich im Halbschlaf wohl etwas zu oft auf die Snooze-Taste gedrückt. Kein Wunder aber auch, wenn man die halbe Nacht damit beschäftigt gewesen war, die Scherben des besten Freundes aufzusammeln – im wahrsten Sinne des Wortes. Um Zeit zu gewinnen, schickte ich eine SMS an meinen Chef, der zum Glück nicht nur ein Mobiltelefon besaß, sondern dieses auch tadellos bedienen konnte und das, obwohl er vor kurzem die Siebzig überschritten hatte. Endlich zahlten sich meine wiederholten Bemühungen, ihn mit dem kleinen Gerät vertraut zu machen, aus. Normalerweise, unter der Prämisse, dass in dieser Nacht kein desolater Musiker in meine Wohnung getorkelt wäre, hätte ich, wie an jedem Werktag, in spätestens zwanzig Minuten im Laden sein und eine neue Lieferung Bücher annehmen müssen. Das konnte ich heute wohl knicken. Ich angelte mir eine Hose und einen Pullover aus dem Schrank und zog noch auf dem Weg ins Bad das Oberteil an. Während ich auf einem Bein hüpfend versuchte, in die Jeans zu schlüpfen, entdeckte ich, dass mein nächtlicher Besuch bereits verschwunden war. Er hätte mich ja ruhig mal wecken können, dieser Nichtsnutz. Leise fluchend und immer noch hüpfend, schaffte ich es ins Bad. Mit der Zahnbürste im Mund band ich mir meine blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und tupfte Concealer auf meine deutlichen Augenringe. Frühstück musste wohl leider ausfallen. Die besten Voraussetzungen für diesen verfluchten Freitag.
Abgehetzt und immer noch schlecht gelaunt, erreichte ich meinen Arbeitsplatz: Den kleinen Secondhand-Buchladen im Kiez, den ich so sehr liebte und in dem ich meine berufliche Erfüllung gefunden hatte. Da die Ladentür offen und unsere Außenregale bereits vor der Tür standen, ging ich davon aus, dass mein Chef rechtzeitig vor Ort gewesen war. Im Stillen schöpfte ich die Hoffnung, dass er sich dadurch wieder mehr gebraucht fühlen würde. Anfangs von ihm mental eher als Aushilfskraft eingestellt, lag das Zepter der Organisation inzwischen fest in meiner Hand, was den älteren Herren einerseits entlastete, aber andererseits auch zusehends mitnahm. Ich fragte mich manchmal, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er sich final zur Ruhe setzte und hoffte, dass mein beruflicher Traum nicht schneller ausgeträumt als ausgelebt war. »Na wach?« Seine verschmitzten Augen standen im Kontrast zu der Strenge, die er in Bezug auf Pünktlichkeit und Fleiß normalerweise an den Tag legte. »Es tut mir so leid! Ich habe den Wecker nicht gehört. Hat das mit der Annahme geklappt?« Nervös strich ich mir den Pony hinters Ohr, doch er grinste nur wissend: »Jaja, ich wäre auch gerne noch einmal jung. Aber immerhin bin ich noch fit genug, um die Arbeit in meinem Laden zu erledigen, die ich die letzten 50 Jahre erledigt habe, nicht wahr?« Er schenkte mir noch einen milden Blick über den Rand seiner goldenen Brille hinweg, drehte sich um und verschwand hinter einer hohen Regalreihe mit Bildbänden der Antike. Das machte er oft: Rumorte stundenlang zwischen den Büchern und tauchte nur auf, wenn er Kaffeedurst oder Kuchenhunger verspürte.
Sofort fiel der Stress von mir ab. Ich atmete einmal tief durch und begab mich in der kleinen Küche auf die Suche nach einem koffeinhaltigen Heißgetränk. Während die Maschine mit eher ungesunden Geräuschen warm lief, hing ich mal wieder meinen Gedanken nach. Zwar spürte ich, seit ich im Buchladen angefangen hatte, nicht mehr den gleichen Erfolgsdruck wie früher, aber es war mir trotzdem wichtig, dass mein Chef mich für zuverlässig hielt, was vor allem daran lag, dass er sich für meine Festanstellung finanziell etwas krummlegen musste. Mein Handy summte, bevor ich weiter in meine Spirale aus Zukunftsangst und Vergangenheitsbewältigung abdriften konnte. Ich brauchte einen Moment, um das aggressiv vibrierende Smartphone in meiner wild zusammengeworfenen Tasche zu finden. Jedes Mal das gleiche Spiel. Doch noch bevor ich es in die Finger bekam, war es auch schon wieder verstummt. Ich ignorierte, wie so oft, den gerade glücklicherweise verpassten Anruf meiner Mutter und öffnete stattdessen meine Nachrichten, scrollte zum richtigen Chatfenster und tippte »Ich bin 10.000 sauer.« Es war genau die richtige Maßeinheit, um meinem besten Freund zu verdeutlichen, dass ich ihm keine netten Grüße, sondern einen doppelten Mittelfinger zudachte. Daraufhin ließ ich das Handy wieder in der Tasche verschwinden, schließlich wollte ich nicht auch noch dadurch negativ auffallen, dass ich mit den Augen am Bildschirm klebte. Bis zu meiner Mittagspause katalogisierte und sortierte ich die neu eingetroffenen Bücher in die entsprechenden Regale. Kunden kamen meistens erst gegen Nachmittag, wenn sich die Touristen mit vollgegessenen Bäuchen und plattgelaufenen Füßen auf die Suche nach besonderen Schätzen begaben.
Seit kurzem gab es nebenan einen neuen Laden, dessen Konzept es war mega-gesundes Essen anzubieten. Die Gentrifizierung hatte Neukölln mittlerweile vollumfänglich erreicht. Bisher war es mir sehr gut gelungen, einen großen Bogen um diesen neuen Gewinn zu machen, doch heute packte mich plötzlich die Lust auf einen Salat und den passenden Smoothie. Mit meiner Beute und dem mittlerweile dritten und kein bisschen gesunden Kaffee des Tages machte ich es mir in der lauen Sommerluft vor dem Laden gemütlich. Um den Moment festzuhalten und mit meinen bahnbrechenden hundert Followern zu teilen, öffnete ich Instagram. Dabei entging mir nicht, dass Alex bereits auf meine Nachricht reagiert hatte, statt sich wie üblich ewig lange Zeit zu lassen, als wären die zwei blauen Häkchen für mich kein deutliches Indiz. Er war der einzige Mensch, den ich kannte, der es schaffte, die Messenger-App wieder zu schließen und sich etwaige Antworten für später aufzuheben. Manchmal bewunderte ich ihn dafür, doch meistens machte es mich einfach nur wütend. Ich pikste mit der umweltfreundlichen Bambusgabel in meinen Salat, schob mir den Bissen in den Mund und öffnete den Chatverlauf »Tut mir leid. War ein bisschen wild gestern. Ich mach’s heute Abend wieder gut, okay? 21 Uhr Eckkneipe, davor Pizza?« Kauend schüttelte ich den Kopf und legte die Stirn in Falten. Alex war ein Idiot, aber er wusste genau, dass er bei mir mit Pizza die meisten Verfehlungen wieder ausbügeln konnte. »Mit extra Käse und du bezahlst. Ich bin wirklich sauer.« Eigentlich war meine Wut längst verraucht, aber das musste er ja nicht wissen. Ein bisschen konnte ich ihn noch zappeln lassen. Vielleicht würde das schlechte Gewissen ja für einen kleinen Denkanstoß reichen. »Bist du eh nicht. Bin ich viel zu süß für«, konterte er prompt und löste bei mir akutes Augenrollen aus. Er konnte manchmal so unangenehm von sich selbst überzeugt sein und trotzdem brachte er mich damit jedes Mal zum Schmunzeln. Da ich nicht davon ausging, dass er eine weitere subtile Beleidigung von mir korrekt aufnehmen würde, schickte ich ihm ganz plakativ ein Mittelfinger-Emoji. Nichts anderes hatte er sich verdient.
»Hier für dich.« Ich drückte dem verdutzten Alex ein Buch in die Hand und schob mich an ihm vorbei in seine Wohnung. »Ich hoffe, du hast schon bestellt, ich sterbe vor Hunger. Ich habe heute diese neue Salatbar ausprobiert und ich mach’s kurz: Alles widerlich da.« Theatralisch seufzend sank ich auf seine Couch und streifte meine Vans von den Füßen. »The Great Gatsby? Echt jetzt?« Alex stand immer noch etwas verloren im Flur rum und drehte das Buch in seinen Händen. »Ja, ich dachte es passt ganz gut zu deinem Auftritt gestern Abend. Vielleicht liest du mal was darüber und bildest dich weiter.« Mit meinem flapsigen Tonfall kaschierte ich geschickt die Sorge, die in meinem Satz mitschwang. Mittlerweile kannte ich Alex gut genug um, um zu wissen, dass er sofort dicht machte, sobald jemand ernsthafte Kritik an seinem Lebenswandel übte. Und obwohl wir uns blind vertrauten, war ich davon nicht ausgenommen. Da klappte es mit einem Wink oder auch einem gezielten Schlag mit dem Zaunpfahl meistens besser. Es war schon verrückt, trotz der Tatsache, dass wir beide auf unsere ganz unterschiedlichen Arten kompliziert, seltsam und eigen waren, hatten wir es irgendwie geschafft, Freunde zu werden.
»Danke, ich pack es mir für die nächste ewig lange Nightliner-Fahrt ein.« Er legte das Buch auf ein Regalbrett, das über einer Kommode im Wohnzimmer angebracht war. Staub wirbelte auf. Ich hatte so meine Zweifel daran, dass er im Tourbus auch nur eine Silbe las, wollte es aber auch nicht direkt infrage stellen. Stattdessen ging ich auf den Themenwechsel ein. »Wann geht’s los?«, fragte ich, zog die Beine an und umschlang sie mit meinen Armen. »Nächstes Wochenende aber nur zehn Tage. Bin aber eigentlich froh drüber, wir wollen nämlich auch langsam mal wieder anfangen regelmäßiger zu proben. Willst du was trinken?« Ich nickte und er verschwand in die Küche. Alex’ eigene Band hatte vor kurzem ein neues Album fertiggestellt und sich im Anschluss etwas Urlaub voneinander gegönnt. In dieser Zeit hatten wir uns viel öfter gesehen, als es normalerweise möglich war, wenn er als Tontechniker mit irgendeiner Musikgruppe durch die Weltgeschichte gondelte. Und obwohl ich mich selbst für die beste Gesellschaft überhaupt hielt, war mir nicht entgangen, dass er seine Freunde und das Musikmachen vermisste. »Klingt gut. Endlich hängst du mir nicht mehr so sehr auf der Pelle. Vor allem nicht nachts um vier«, rief ich ihm in den leeren Flur hinterher und als er mit zwei Flaschen Bier wieder im Türrahmen erschien, hatte er als non-verbale Antwort einen schmollenden Hundeblick aufgesetzt. Er reichte mir das kalte Bier und ließ sich neben mir auf die Couch fallen. Als ich ihn leicht gegen die Schulter boxte, machte er eine ausladende Entschuldigungsgeste mit den Händen. »Passiert, ne.« Das spitzbübische Lächeln zeichnete kleine Fältchen um seine Augen und die Grübchen, die sich um seine Mundwinkel bildeten, machten es mir unmöglich, wirklich böse auf ihn zu sein. Ich seufzte schwer. »Los, lass’ uns endlich bestellen und wehe du vergisst den Extra-Käse.«
Die Eckkneipe war an diesem Freitagabend wie immer gut besucht, hauptsächlich von Menschen aus Alex’ Musikeruniversum, die mir zwar grüßend zunickten aber keinen Hehl daraus machten, dass meine Begleitung der eigentliche Grund für ihre Freundlichkeit war. Bereits nach wenigen Sekunden verlor ich Alex an eine Gruppe Dudes, die ihn lachend in die Arme schlossen. Glücklicherweise entdeckte ich am Tresen auch meine beste Freundin Sophie, die nach einem kleinen karrieretechnischen Abstecher nach München, mittlerweile schon seit einigen Jahren wieder in der Hauptstadt lebte. Mit ihrem Schickeria-Look, den sie selbstbewusst auch in der ranzigen Kneipe trug, hob sie sich wie ein Paradiesvogel vom restlichen, typischen Eckkneipen-Publikum ab und bestach dennoch durch ihre unantastbare Trinkfestigkeit, die sie gerade bei einer Runde Tequila mit Mitgliedern aus Alex’ Band mal wieder unter Beweis stellte.
»Ist sie nicht einfach umwerfend?«, flüsterte mir Felix, der Barkeeper, zu, als ich mich über den Tresen lehnte, um gleich zwei Rum-Cola zu bestellen. Ich versuchte ein aufmunterndes Lächeln, aber es gelang mir nicht, das gesamte Mitleid, dass ich für den armen Kerl empfand, daraus zu verbannen. Seit Sophie das erste Mal auf ihren rot-besohlten Highheels über den verklebten Fliesenboden an seinen Tresen gestöckelt war, blinkten sehr offensichtliche Herzchen in seinen Augen. »Weißt du, ob sie momentan jemanden hat?« Ich folgte seinem verträumten Blick, nicht gewillt ihm irgendwelche Hoffnungen zu machen oder zu nehmen. Was Sophie wollte, wusste nur Sophie. Daraus war ich in den letzten 28 Jahren nicht schlau geworden und würde es vermutlich auch niemals werden. »Rum-Cola. Zwei«, wiederholte ich daher wenig diplomatisch meine Bestellung und klopfte mit der Hand ungeduldig auf den Tresen. Während Felix sich ertappt aus seiner Trance löste, hatte mich meine beste Freundin nun ebenfalls entdeckt, verabschiedete sich aus der Schnapsrunde und griff nach ihrem Glas.
»Na Hase, was macht das Leben?« Sophie angelte sich den Barhocker neben mir und nippte an ihrem Gin Tonic. »Das sollte ich wohl eher dich fragen. Was war das gestern Abend für eine Nachricht über deinen Chef? Er hat was gemacht?« Bevor Sophie mir antworteten konnte, steckte Alex seinen Kopf zwischen uns. »Buuuh! Es ist verboten hier über die Arbeit zu reden. Wir sind hier nicht beim After-Work-Ü40.« Er fuhr sich mit der Hand durch die langen Haare und klaute mir einen Schluck aus meinem Getränk, dass Felix mir inzwischen in die Hand gedrückt hatte. »Nur weil du keinen richtigen Job hast, mein Schatz.« Ich wuschelte ihm über den Kopf, etwas, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Seine blauen Augen funkelten mich genervt an, als er sein Haupt meiner Reichweite entzog, indem er sich aufrichtete. »Ich finde aber, der Herr Rockstar hat völlig recht«, sprang Sophie ihm bei. »Wir sollten sowieso weniger reden und mehr trinken! Tequila zum Beispiel!« Sie streckte einen perfekt manikürten Finger in Felix’ Richtung, der diesem Wunsch nur zu gerne nachkam und bevor ich mich versehen konnte, hatte ich bereits Salz auf meinem Handrücken verteilt und abgeleckt.