Späterland

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5. Die Zauberquelle


Früh am nächsten Morgen erwachte Tarja von Sonnenstrahlen, die sie in der Nase kitzelten. Lucky war schon auf und strich ungeduldig an den Büschen entlang. Rasch weckte Tarja Milo, der nicht sonderlich glücklich darüber aussah, aufs Neue in den Wald zu gehen.

Als sie in den Schatten der Bäume traten, lauschten sie, ob sich die Stimmen erneut regen würden. Es blieb jedoch geradezu totenstill, nur der Wind rauschte hoch oben in den Wipfeln. Die Tiere mieden den Wald anscheinend.

Ein paar Schritte von dem kleinen Bach entfernt, auf den er am Abend gestoßen war, fand Milo seinen Speer und hob ihn auf. »Sicher ist sicher«, sagte er, als Tarja ihn stirnrunzelnd musterte.

Die Vorstellung, bei Plutos Rettung vielleicht Gewalt anwenden zu müssen, erschreckte sie, doch sie erhob keine Einwände.

Ein grummelndes Geräusch unterbrach die Stille. Tarjas Magen machte sich lautstark bemerkbar. Sie ließ sich am Ufer des Bächleins nieder, um wenigstens ihren Durst zu stillen.

»Willst du gar nichts trinken?«, fragte sie Milo, während sie mit der Hand das klare Wasser schöpfte.

»Nö. Kein Durst.«

Überrascht hielt sie inne und schaute zu ihm auf. »Und was ist mit Hunger?«

»Hm«, überlegte Milo. »Scheint weg zu sein. Komisch.«

Tarja spürte, wie die kühle Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrann und ihren Magen füllte. Schlagartig verschwand das gähnende Gefühl der Leere. Gestärkt, als habe sie gerade ein reichhaltiges Frühstück genossen, stand sie auf. »Ich glaube, das Wasser ist verzaubert«, mutmaßte sie. »Mein Hunger ist weg. Wir sollten auf jeden Fall etwas mitnehmen, wer weiß, wie lange der Effekt anhält.« Sie füllte ihre Flasche auf. Ein dreiviertel Liter für zwei Personen … Hoffentlich reichte das für ihre Suche. Schließlich konnten sie sich nicht darauf verlassen, auf weitere Quellen wie diese zu stoßen.


Gleich einer grünen Höhle erstreckte sich der Flüsterwald in alle Richtungen und wollte kein Ende nehmen. Lucky, die den Weg kannte, lief vor ihnen her und führte sie zu einem schmalen Pfad, dem sie von nun an folgten.

Tarja konnte schwer schätzen, wie lange sie bereits unterwegs waren. Sicher einige Stunden, denn die Sonne, die hin und wieder zwischen den Baumkronen durchblitzte, hatte ihren höchsten Stand erreicht. Ein Blick auf die Sanduhr zeigte, dass trotz des stetigen Flusses an Körnchen nur wenig Sand durchgelaufen war. Tarja war erleichtert – allzu knapp schien ihre Zeit nicht bemessen zu sein.

In einer besonders finsteren Ecke des Waldes, in der dicht an dicht hohe Tannen wuchsen, meinten sie hin und wieder leise Stimmen zu vernehmen. Wo Tarja Gesprächsfetzen in menschlicher Sprache hörte, waren es für Milo Tierlaute, wenngleich bei Weitem nicht so zahlreich und laut wie in der Nacht. Selbst Lucky, die ansonsten forsch voranschritt, äugte besorgt in die dicht verwobenen Zweige. Das unheimliche Gefühl begleitete sie, bis sich endlich die Stämme zu lichten begannen und sie hinaus ins Freie traten.

Froh, dem Wald und seinen geflüsterten Geheimnissen entkommen zu sein, liefen sie über eine saftige Wiese, die bald in ein üppig wogendes Kornfeld überging. Ein Trampelpfad führte hindurch. Pfotenabdrücke in der weichen Erde wiesen darauf hin, dass er regelmäßig von Tieren benutzt wurde.


6. Die Armee der Winzlinge


Es raschelte zu ihrer Linken. Tarja sah flüchtige Bewegungen zwischen den Getreidehalmen. Schon seit Betreten des Felds hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Lucky wirkte jedoch nicht weiter beunruhigt, sodass Tarja sich sagte, es könne wohl nichts Gefährliches auf der Lauer liegen.

Das Huschen und Rascheln nahm ständig zu. Jetzt fiel es auch Milo auf. »Was geht da drin vor sich?« In weiten Bereichen links und rechts des Pfads gerieten die Ähren in Bewegung, als würde kreuz und quer der Wind hineinfahren.

Tarja beschattete die Augen mit der Hand gegen die Sonne, konnte aber nicht erkennen, was den Aufruhr im Korn verursachte. Dann hörten sie etwas. Aufgeregtes Quietschen wie von Hunderten, wenn nicht Tausenden kleiner Tiere. Dem folgte eine Flut goldbrauner Leiber, die sich von allen Seiten auf den Weg ergoss.

»Das sind ja Hamster!«, rief Milo.

Tatsächlich, unzählige Hamster, die meisten davon Goldhamster, wie sie jede Zoohandlung verkaufte, verstopften den Pfad in beiden Richtungen. Wie Wellen drängten sie gegen die Kinder, doch zuallererst gegen Lucky, die fauchend zurückwich. Um sich vor dem Ansturm zu retten, machte sie einen Satz auf Tarja zu, die sie geistesgegenwärtig auffing. Binnen Sekunden waren sie so dicht von den kleinen Nagern umzingelt, dass sie keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnten.

»Was wollt ihr von uns?«, fragte Tarja. »Wieso versperrt ihr den Weg?« So sehr sie sich bemühte, es gelang ihr nicht, unter den quiekenden Lauten, die die Hamster von sich gaben, Worte zu verstehen. Eins war jedoch deutlich: Die Feldbewohner hatten sich nicht versammelt, um sie freundlich willkommen zu heißen. Eine drohende Feindseligkeit ging von ihnen aus.

Je mehr Zeit verstrich, desto ungeduldiger wurden die Tiere. Sie begnügten sich nicht länger damit, Tarja und Milo sowohl das Weitergehen als auch den Rückzug zu verwehren, sondern krabbelten über ihre Füße. Ein Hamster kroch sogar in Milos Hosenbein. Tarja war froh, dass sie enge Jeans trug.

Milo schüttelte das Tier grob hinaus. Dann fuhr er Tarja an: »Sag den Biestern, sie sollen sich verziehen, ansonsten mache ich uns auf meine Art den Weg frei!« Um seine Absicht zu demonstrieren, hob er den Fuß.

Die kleinen Vierbeiner zeigten sich von Milos Drohgebärde unbeeindruckt, im Gegenteil, sie schien sie noch aggressiver zu machen. Einer biss sogar in die Spitze von Tarjas Chucks. Lucky drückte sich in ihren Arm. Die Katze hatte Angst, kein Wunder. Was nutzte ihnen ihre Größe angesichts der unvorstellbaren Zahl der Hamster? Wenn die Tiere sich zum Angriff entschlossen, hatten sie keine Chance. Warum waren sie über ihr Eindringen ins Kornfeld dermaßen aufgebracht?

»Beweg dich nicht«, zischte Tarja Milo zu. Mit einer um Ruhe bittenden Geste hob sie eine Hand, mit der anderen hielt sie Lucky. »Hört uns bitte zu! Es tut uns leid, dass wir euer Gebiet betreten haben, aber wir wussten nicht, dass es verboten ist. Wir möchten nur hindurch. Wenn ihr uns die Erlaubnis gebt, versprechen wir euch, auf dem Weg zu bleiben und nicht einen einzigen Halm zu knicken.« Auch wenn die Hamster in Späterland keine Nahrung brauchten, hüteten sie offenbar eifersüchtig ihren Lebensraum. Tarja hoffte, die Nager würden sie ebenso verstehen, wie Lucky es tat.

Ihre Belagerer wandten sich daraufhin tatsächlich einander zu und schienen in ihrer eigenen Sprache zu streiten.

»Wir sollten einfach losrennen«, flüsterte Milo. »Augen zu und durch. Die Winzlinge können uns doch nichts.«

»Bist du verrückt?« Tarja schüttelte den Kopf. Abgesehen davon, dass sie es nie über sich gebracht hätte, die Hamster einfach niederzutrampeln, war sie über den Ausgang eines solchen Ausbruchmanövers anderer Meinung. »Warte! … Sie scheinen sich geeinigt zu haben.«

Tatsächlich schwächten sich die Quietschlaute ab, und ein Hamster sagte nun in der gemeinsamen Sprache Späterlands, die Tarja verstehen konnte: »Keine Art darf das Gebiet einer anderen Art betreten. So lautet das Gesetz.«

»Wirklich?«, fragte Tarja erstaunt. »Da sind doch aber Spuren auf dem Weg, die nicht von euch stammen.«

»Caniden! Die dürfen das!«

Gleich ein Dutzend oder mehr Tiere bestätigten Tarjas Vermutung, was die Verursacher der Abdrücke anging.

»Ihr seid Zweibeiner. Zweibeiner haben hier nichts zu suchen, ihr gehört nicht nach Späterland.«

Tarja wedelte mit der Hand, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Luckys Gewicht in ihrem anderen Arm schien von Sekunde zu Sekunde zuzunehmen. »Moment, Moment! Wer hat das Gesetz erlassen?«

»Hasso der Weise.« Die Hamster quiekten, belustigt über Tarjas Unwissenheit.

»Zu genau dem wollen wir ja, wir haben etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen«, log Tarja.

Die Hamster rückten ein wenig von ihnen ab und beratschlagten untereinander.

»Was habt ihr mit Hasso dem Weisen zu besprechen?«, ertönte es dann im Chor.

Diese Frage hatte Tarja erwartet. »Was wohl? Wir brauchen seine Hilfe. Schließlich ist er der berühmte Hasso der Weise. Es wäre ihm sicher nicht recht, wenn ihr denen, die seinen Rat suchen, den Zugang verweigert, oder?«

Ein leichtes Zurückweichen der Nager bewies, dass Tarja mit ihrer Behauptung ins Schwarze getroffen hatte.

»Das verstehen wir natürlich«, ließen sich einzelne Stimmen vernehmen.

»Von Hassos Weisheit sollen alle etwas haben.«

»Durch ihn besitzen wir ein eigenes Gebiet«, sagten andere.

»Und ein größeres, schöneres als das, das er den Mäusen zugewiesen hat!«

»Genau! Gut dass wir die los sind. Knabbern alles kaputt, nur zum Spaß … Eine Plage mit denen!«, riefen wieder andere.

 

»Es ist viel besser, seit die Caniden für Ordnung sorgen.«

»Gut«, sagte Tarja. »Dürfen wir also weiter?«

»Ihr dürft«, lautete die vielstimmige Antwort. »Aber vergesst nicht Hasso zu sagen, dass wir euch geholfen haben!«

»Wir denken daran, versprochen«, sagte Tarja. Sie atmete auf, als die Tiere auseinanderliefen. Nach und nach verschwand das gesamte Hamstervolk im Getreide, das gleich darauf unbewegt dastand, als sei das Ganze nur ein Spuk gewesen. Doch auch während des restlichen Weges durch das Feld, den sie schweigend und nervös um sich blickend zurücklegten, fühlten sie sich von unsichtbaren Augen beobachtet. Lucky lief wieder schnurgerade voraus, Kopf und Schwanz gesenkt. Allerdings zuckten ihre Ohren aufmerksam und drehten sich ständig in verschiedene Richtungen. Tarja achtete darauf, keinen Schritt neben die ausgetretene Spur zu setzen, um ja keinen Halm und damit das gegebene Wort zu brechen. Sie drehte sich um zu Milo und sah, dass er es genauso machte.


7. Max


Sie verließen das Reich der Hamster. Vor ihnen breitete sich eine sandige Hügellandschaft aus, auf der keine Bäume wuchsen, dafür Heidekraut, so weit das Auge reichte.

»Das Canidengebiet beginnt dort hinter dem Zwillingshügel«, erklärte Lucky.

Tarja kniff die Augen zusammen, konnte aber beim besten Willen keine Erhebung erkennen, die den Namen verdiente.

Als sie das ihrer vierbeinigen Reiseführerin verriet, stieß Lucky einen seltsamen Laut aus, der wie Lachen klang. »Ihr Zweibeiner seid beinahe so blind wie Hühner.«

Minuten später wusste Tarja, was die Katze gemeint hatte. Vor einer blau schimmernden Bergkette hob sich ein einsamer Hügel mit zwei Spitzen ab.

Tarja machte eben Milo darauf aufmerksam, als Lucky in Schrittstellung erstarrte und etwas fixierte, das zu klein – oder zu weit entfernt – für menschliche Augen war. Ihre Pupillen zogen sich zu vertikalen Strichen zusammen.

»Was ist?«, fragte Tarja.

»Flatterer«, entgegnete die Katze. »Sie scheinen auf der Flucht zu sein.«

Tarja übersetzte und Milo runzelte die Stirn.

Dann sahen sie es ebenfalls: Was sie für eine dunkle Wolke gehalten hatten, näherte sich rasch und entpuppte sich als Vogelschwarm.

Schon vernahm Tarja schrille Stimmen, mit denen sich Tauben, Papageien, Sittiche und Kanarienvögel unterhielten. Die wenigen Worte, die sie aus dem Durcheinander heraushörte, klangen aufgeregt. Mit ohrenbetäubendem Gekreisch zogen die Vögel über sie hinweg, ihre Flügelschläge verwirbelten die Luft.

»Wartet«, rief Tarja, »wieso habt ihr es so eilig?«

Der Schwarm wendete und drehte noch eine Runde über ihren Häuptern. Dann ließen sich die Vögel nicht weit entfernt von ihnen nieder. Ein stattlicher weißer Kakadu löste sich aus der Gruppe, flatterte auf Tarja zu und beäugte sie mit schief gelegtem Kopf.

»Wollt ihr in diese Richtung weitergehen?«, fragte er.

Tarja bestätigte ihre Absicht.

Der Federschopf des Vogels sträubte sich. »Hassos Meute wird euch verjagen oder einfangen. Artfremde sind bei ihm nicht willkommen.«

»Seid ihr auf der Flucht vor ihm?« Lucky kam hinzu und kauerte sich nur eine Pfotenreichweite entfernt in eine warme Sandkuhle. Den Kakadu, offenbar der Wortführer des bunt gemischten Schwarms, schien das nicht zu stören.

Tarja wurde sich wieder darüber bewusst, dass Jagd- und Fluchtinstinkte in Späterland keine Rolle spielten, doch Milo versetzte das einträchtige Verhalten der Tiere sichtbar in Erstaunen.

»Hasso ist der Meinung, wir seien woanders besser aufgehoben als zwischen seinen Untertanen.« Der Kakadu ließ ein trauriges Pfeifen hören. »Und vielleicht hat er sogar recht damit. In letzter Zeit kam es mehrmals zu Schnappunfällen. Die Hunde verhalten sich anders, seit Hasso über sie befiehlt. Selbst mein alter Freund Carlos hat keinen Einfluss mehr auf ihn. Dabei waren die beiden früher befreundet, aber anscheinend traut Hasso keinem mehr über den Weg.«

»Hat einer von euch einen schwarzen Kater gesehen?« Die Frage platzte aus Tarja heraus. »Schlank, mit langen Beinen, schwarzen Schnurrhaaren und schmalem, dreieckigem Gesicht. Er könnte ein Gefangener der Hunde sein.«

»Wir haben schon lange keine anderen Tiere mehr im Canidengebiet gesehen«, krächzte der Vogel. »Uns hat man noch geduldet. Nun wurde uns der Flüsterwald zugewiesen. Ausgerechnet! Wie sollen wir dort in Ruhe leben, wo die Erinnerungen so laut sind, dass man sein eigenes Wort nicht versteht.«

Zustimmendes Zetern und Kreischen erhob sich. Milo hielt sich die Ohren zu. Tarja hätte es ihm gern gleichgetan, unterließ es jedoch, um nicht unhöflich zu wirken.

»Und was werdet ihr jetzt tun?«, wollte Lucky wissen.

Der Kakadu lüftete kurz die Schwingen, was wohl seine Art war, mit den Schultern zu zucken. »Wir bringen so viel Entfernung wie nur möglich zwischen uns und die Hunde. Irgendetwas stimmt da nicht. Nicht mal Hasso war früher so.«

Auf seinen Pfiff hin erhob sich der Schwarm in die Luft.

Ein Wellensittich mit blau-gelber Federzeichnung blieb sitzen. Milo kniete sich vor ihm ins Heidekraut, wobei sein Gesichtsausdruck einmal mehr den Anschein erweckte, als traue er seinen Augen nicht. »Mäxchen?«, flüsterte er.

Der Vogel flatterte hoch und ließ sich auf Milos Schulter nieder, um an seinem Ohrläppchen zu knabbern. »Klar doch, Dummkopf.«

»Du … sprichst?«, stotterte Milo.

»Natürlich, du doch auch«, sagte der Wellensittich. »Ich bevorzuge übrigens Max. Es freut mich, dich zu sehen, Milo.«

Milo hob die Hand und kraulte zärtlich den Kopf des Vogels. Der sprang auf seinen Finger. Mit noch immer ungläubiger Miene hob Milo die Hand mit dem Sittich vors Gesicht. In seinen Augenwinkeln glitzerten Tränen.

Tarja sah es und wunderte sich. War Milo doch nicht der grobe Klotz, für den sie ihn gehalten hatte?

»Geht es dir gut, Max?«, fragte Milo mit gepresster Stimme.

»Keine Gitter, kein Zigaretten- und Abgasgestank, immer Gesellschaft. Es ist das Paradies … Vielmehr war es das – vor Hasso. Entschuldige mich, ich muss weiter, wenn ich die anderen noch einholen will.« Max flatterte von Milos Finger empor. »Und merk dir eins: Weder Plastikvogel noch Spiegel ersetzen einen Gefährten.«

Die drei blickten dem Wellensittich nach, wie er sich in Richtung Flüsterwald entfernte; ein bläulicher Punkt, der schließlich mit dem Blau des Himmels verschmolz.

»Ihr kanntet euch aus dem Vorleben?«, fragte Lucky und schaute aus runden Augen zu Milo auf.

Milo stutzte, überrascht, dass sich die Katze an ihn wandte, und noch mehr, weil er ihre Frage verstand. Dann nickte er. »Er ist vor einem Jahr gestorben«, sagte er und schniefte verhalten. »Ich habe ihn wirklich gerngehabt. Er war ganz zahm, nur sprechen wollte er nicht.«

Tarja ahnte, dass Max etwas in ihrem Klassenkameraden wachgerüttelt hatte. Natürlich, so musste es sein: Der Wellensittich war Milos Verbindung zu Späterland. Womöglich besaß jeder Mensch, der ein Haustier geliebt und verloren hatte, eine solche Verbindung.

Milo räusperte sich. »Ist jedenfalls prima, zu wissen, dass es ihm gut geht. … Los, lasst uns weitergehen. Ich will endlich wissen, wer dieser Hasso ist.«


8. Feindliches Gebiet


Der Zwillingshügel war nicht mehr weit entfernt, als sie auf ein Hindernis in Form eines breiten Flusses trafen.

»Hier muss ich euch verlassen«, sagte Lucky. »Hinter dem Kaltstrom beginnt Hassos Herrschaftsbereich. Es ist anderen Arten bei Strafe verboten, eine Pfote hinüberzusetzen.«

»Wir sind Menschen und haben keine Pfoten«, sagte Milo großspurig. »Außerdem sind wir Fremde. Wir können einfach sagen, wir hätten keine Ahnung von dem Verbot gehabt.«

Tarja kniete sich neben die Katze und streichelte ihren samtigen Pelz. »Danke, Lucky.« Das Tier schnurrte behaglich.

Die Ähnlichkeit mit Bonnie war dafür verantwortlich, dass sich in Tarja das schlechte Gewissen regte. Bonnie hatte sich nicht ausgesucht, zu den Wilberts zu kommen. Genau genommen suchte sich kein Haustier seinen Besitzer aus. Dennoch war es ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und mancher Tierhalter dankte seinem Schützling die Zuneigung schlecht. Es war nur fair, dass die Tiere hier in Späterland ein zweites, glücklicheres Leben führen durften …

Sie erhob sich. »Leb wohl, Lucky, ich hoffe, wir sehen uns wieder.« Zu Milo gewandt sagte sie: »Komm, wir müssen eine Stelle finden, wo wir den Fluss überqueren können.«

Lucky rief ihnen noch einen Abschiedsgruß zu, dann kehrte sie um und verschwand geräuschlos zwischen dem Heidekraut.

Sie mussten nicht lange suchen. Hinter einer Biegung erweiterte sich der Kaltstrom und die Strömung schien dort geringer zu sein. Die Kinder zogen Schuhe und Socken aus und wateten in den Fluss, wobei sie Milos Speer benutzten, um die Wassertiefe abzuschätzen und sich daran festzuhalten. Eisiges Wasser umströmte ihre Beine und machte sie gefühllos. In der Mitte hatte sich das Gewässer tiefer in den Untergrund gefressen, zu tief, um gefahrlos hindurchzugehen. Dafür ragten ein paar Felsen aus der Flut, rutschig durch Algen, sodass sie aufpassen mussten, nicht den Halt zu verlieren. Auch hier leistete der Haselnussast gute Dienste.

Als sie das andere Ufer erreichten und fröstelnd auf der Stelle traten, fielen ihnen die Spuren zwischen den rund gewaschenen Felsen im Sand auf. Kleine, mittlere und große, allesamt von Hundepfoten. Tarja wurde nervös, sie dachte an die Meute, von der sie geträumt hatte.

Nachdem sie wieder in ihre Schuhe geschlüpft waren, gingen sie weiter – auf den Zwillingshügel zu.

»Schau mal.« Milo deutete auf den Hang der linken Hügelkuppe. Ein Muster zog sich über die gesamte Flanke. … Nein, kein Muster, ein richtiges Bild! Aus unzähligen Stöcken und Steinen hatte jemand den Kopf eines Hundes zusammengesetzt – mit langer, wolfsähnlicher Schnauze und wachsam gespitzten Ohren. »Bestimmt Hasso«, tippte Milo.

Dann hörten sie das Bellen. Es kam von der rechten Seite des Hügels und klang nach einem großen Rudel.

Tarjas Herzschlag beschleunigte sich. Hektisch blickte sie sich um. Eine Möglichkeit, sich zu verstecken, gab es nicht, auch keinen Baum, auf den sie hätten klettern können.

»Bleib ganz ruhig stehen und sieh ihnen nicht in die Augen, das könnten sie als Herausforderung auffassen. Zumindest wenn sie sich wie normale Hunde verhalten.«

Den Speer neben sich aufgepflanzt hielt Milo Ausschau in die Richtung, aus der das Gebell kam.

Fürchtete er sich gar nicht? Ungern gestand Tarja sich ein, dass sie Milo um seine Gelassenheit beneidete und auch ein bisschen bewunderte.

Schon tauchten die ersten Tiere am Fuß des Hügels auf und jagten in ausgreifenden Sprüngen auf sie zu.

Tarjas Handflächen fühlten sich schwitzig an. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre zurück zum Grenzfluss gerannt. Mühsam beherrschte sie sich.

Je näher die Hunde kamen, desto mehr verlangsamten sich ihre Schritte. Schließlich verteilten sie sich in einem weiten Kreis um die Kinder.

Tarja zählte zwölf: zwei Schäferhunde, eine Dogge, ein Jagdhund, mehrere Terrier, darunter ein Pitbull, ein Dobermann und ein paar, die sie keiner speziellen Rasse zuordnen konnte.

Der Dobermann löste sich aus dem Kreis, kam bis auf weniger als zwei Meter heran und betrachtete Tarja und Milo aus dunklen Augen. »Namen?«

Milo räusperte sich und sagte: »Ich bin Milo und das ist Tarja. Wir …«

»Still!«, blaffte der Hund. »Ich frage, ihr antwortet. Ich bin Ziska, die Rudelführerin, und ich stelle die Fragen. Wisst ihr, wo ihr euch befindet?«

 

»Jawohl«, sagten Tarja und Milo einstimmig.

»Dann wisst ihr auch, dass ihr gegen das Gesetz verstoßt. Weil ihr aber Zweibeiner seid und Zweibeiner als klug gelten, gebe ich euch die Möglichkeit, umzukehren.«

»Wir kehren nicht um«, sagte Tarja, erstaunt über ihren Mut. »Wir möchten zu Hasso dem Weisen.«

Die Hündin wandte ihr den schmalen Kopf zu. Ihre Augen funkelten angriffslustig. »Immer eins nach dem anderen. Ihr weigert euch, zu gehen?«

»Ja.«

»Ihr wünscht, zu Hasso vorgelassen zu werden?«

»Ja.«

»Warum?«

»Wir möchten etwas über den Verbleib eines Bewohners von Späterland erfahren«, sagte Tarja. »Ein Kater, sein Name lautet Pluto.«

»Pluto?« Ziska ließ ein schauerliches Heulen hören, in das die anderen Hunde einstimmten.

Nach einer Schrecksekunde wurde Tarja klar, was der Laut zu bedeuten hatte: Die Hunde lachten.

»Das ist kein Name für eine Katze«, stellte Ziska fest.

»Seinen Namen haben seine früheren Besitzer für ihn ausgesucht«, sagte Tarja, die langsam ärgerlich wurde. »Also, ist er bei euch?«

Ziska schien zu überlegen, ob sie ihnen die gewünschte Auskunft erteilen durfte.

»Er ist unser Gefangener«, sagte sie schließlich. »Wie alle Aufrührer wird er seine gerechte Strafe erhalten.«

Also lebte Pluto! Vor Erleichterung hätte Tarja beinahe aufgeschluchzt. Doch ihre Stimme war fest, als sie sagte: »Als Plutos ehemaliges Frauchen verlange ich, zu Hasso vorgelassen zu werden, um dem Urteil beizuwohnen.«

Ziska hob die Lefzen und ließ ein bedrohliches Knurren hören. Einen Herzschlag lang befürchtete Tarja, sie würde sich auf sie stürzen.

»Warte, Ziska«, rief der Pitbullterrier. Er war weiß, abgesehen von schwarzen Flecken an den Ohren, am Rücken und an seinem Stummelschwanz. »Zweibeiner sind weise. Hasso hat großen Respekt vor ihnen. Trachtet er nicht sogar danach, einige ihrer Gesetze zu übernehmen?«

»Und? Was willst du damit sagen, Killer?« Dieser Vorstoß eines Rudelmitglieds niederen Rangs schien Ziska zu verwirren.

»Hasso würde wünschen, mit den jungen Zweibeinern zu sprechen. Es könnte ihn verärgern, wenn wir sie fortjagen.« Der Pitbull sprach langsam, als wolle er sichergehen, dass Ziska den Sinn seiner Worte verstand.

Die Dobermannhündin schüttelte den Kopf, wie um den Gedankenwirrwarr daraus zu vertreiben. »Na gut. Als Zweibeiner besitzen die beiden das Ausnahmerecht. Sie kommen mit uns. Hasso wird entscheiden, was mit ihnen geschieht.«

Sie setzte sich an die Spitze der Meute und rannte los, einen ausgetretenen Pfad zwischen den beiden Hügelkuppen entlang. Der Pitbullterrier und drei weitere Hunde warteten, bis Tarja und Milo folgten, dann trabten sie hinter ihnen her.

Das Hecheln der Eskorte in ihrem Rücken verursachte Tarja Unbehagen. Andererseits besaßen sie als Menschen hier wohl einen Sonderstatus, der ihnen mit etwas Glück auch weiterhin nützlich sein könnte.

»Diesen Killer hätte ich gern über Hasso ausgefragt«, stieß Milo beim Laufen hervor. »Ich glaube, der ist ein helleres Köpfchen als Ziska.«

»Sei ruhig«, keuchte Tarja. Sie hatte gesehen, wie sich die Ohren der Hunde vor ihnen spitzten. Ein falsches Wort über die Dobermannhündin könnte sich verhängnisvoll auswirken. Für sie beide – und damit auch für Pluto.


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