Auf keinen Fall ist eine Unterbrechung der regelmäßigen Zufuhren zu befürchten. Das kann nicht vorkommen, weil jene Häfen auf einander entgegengesetzten Seiten liegen. Sollte nun der eine infolge schlechter Witterung unzugänglich sein, so steht doch der andere den Schiffen offen, die die Insel also bei jeder Windrichtung anlaufen können. Entweder im Backbord- oder im Steuerbordhafen treffen also die verschiedenen, notwendigen Waren ein, das Petroleum mit Spezialdampfern, Mehl und Feldfrüchte, Wein, Bier und andere beliebte Getränke, ferner Tee, Kaffee, Schokolade, Gewürze, Konserven usw. – Hier landet man auch Rinder, Hammel und Schweine von den besten Märkten Amerikas, wodurch der Bedarf an frischem Fleisch gedeckt wird, und überhaupt alles, was selbst die verwöhntesten Feinschmecker von Nahrungs- und Genussmitteln nur wünschen können. Ebenso erfolgt hier der Import von Stoffen, Leinenwaren und Modeartikeln, wie sie der raffinierteste Dandy und die eleganteste Weltdame nur verlangen können. Alle diese Gegenstände kauft man dann bei den Zwischenhändlern auf Standard Island … zu welchem Preise, wollen wir lieber verschweigen, um nicht die Ungläubigkeit des freundlichen Lesers zu erwecken.
Dagegen liegt die Frage nahe, wie ein regelmäßiger Dampferverkehr möglich war zwischen der Küste Amerikas und einer Insel mit Propellern, die sich selbst fortbewegte und sich heute in dieser Gegend und morgen zwanzig Meilen weiter befand?
Die Antwort ist sehr einfach. Standard Island segelt nicht aufs Geratewohl umher. Die Ortsveränderung der Insel erfolgt nach einem von der obersten Verwaltungsbehörde festgesetzten Programme, nachdem darüber die Anschauung der Meteorologen des Observatoriums eingeholt war. Ihre Fahrt ist ein Spaziergang mit nur geringen gelegentlichen Abweichungen durch den Teil des Stillen Ozeans, der die herrlichsten Inselgruppen umschließt, und unter möglichster Vermeidung schroffen Witterungswechsels, dieser mächtigsten Ursache für vielerlei Lungenkrankheiten. Deshalb konnte Calistus Munbar auch auf eine diesbezügliche Frage antworten: »Winter? … Kennen wir nicht!« Standard Island bewegt sich nur zwischen fünfunddreißig Grad nördlicher und fünfunddreißig Grad südlicher Breite. Bei siebzig Breitengraden oder etwa vierzehnhundert Seemeilen steht ihr ein prächtiges Wassergebiet offen. Die anderen Schiffe wissen also das Juwel des Großen Ozeans stets zu finden, da seine Ortsveränderung zwischen jenen reizenden Inseln, die ebenso viele Oasen in der grenzenlosen Wasserwüste des Großen Ozeans bilden, stets im Voraus festgestellt ist.
Doch auch ohnedem wären andere Schiffe nicht darauf angewiesen, die Schraubeninsel hier oder dort auf gutes Glück zu suchen, obwohl die Kompanie deshalb nicht die fünfundzwanzig – sechzehntausend Meilen langen – Kabel in Anspruch nahm, die der
Eastern Extension Australasia and China Co.
gehören. Nein; die Schraubeninsel darf von niemandem abhängig sein! Das erreichte man durch Verteilung von mehreren hundert Bojen auf den befahrenen Meeresteilen, Bojen, die das Ende elektrischer Kabel tragen, welche mit der Madeleinebucht in Verbindung stehen. Diese Bojen läuft man an, verbindet deren Kabel mit den Apparaten des Observatoriums und sendet nun die nötigen Depeschen ab. Dadurch werden die Vertreter der Kompanie in der Madeleinebucht bezüglich geographischer Länge und Breite der Lage von Standard Island immer auf dem laufenden erhalten. So erklärt es sich, dass der Dienst der Proviantschiffe mit wirklicher »Eisenbahnverlässlichkeit« vonstatten geht.
Daneben gibt es aber noch eine andere wichtige Frage, die einer Lösung wert ist.
Wie verschafft man sich denn das nötige Süßwasser für die vielfachen Bedürfnisse der Bevölkerung?
Das Wasser?… O, das gewinnt man durch Destillation in zwei besonderen Anstalten neben den Häfen. Durch ein Röhrensystem wird es nach den Häusern geleitet und unter den Feldern hingeführt. So dient es für wirtschaftliche Zwecke wie zur Straßenbesprengung und fällt als wohltätiger Regen auf die Felder und Rasenflächen, die damit den Launen der Witterung entzogen sind. Und dieses Wasser ist nicht allein süß, sondern sogar destilliert, elektrolisiert und hygienisch vorzüglicher als die reinsten Quellen der beiden Welten, aus denen ein Tropfen, in der Größe eines Stecknadelkopfes, noch fünfzehn Milliarden Mikroben enthalten kann.
Noch bleibt uns übrig zu erklären, wie die Ortsveränderung der ganzen Anlage vor sich geht. Einer großen Schnelligkeit bedarf sie nicht, da die Insel binnen sechs Monaten über die angegebenen Breitengrade und über den Raum zwischen dem hundertdreißigsten und dem hundertfünfundvierzigsten Längengrad nicht hinauskommen soll. Zwanzig bis fünfundzwanzig Seemeilen binnen vierundzwanzig Stunden, mehr verlangt Standard Island nicht. Eine solche Fortbewegung hätte man mittels Zugseil erreichen können, wenn man etwa ein Kabel aus jener indischen, Bastin genannten Faser hergestellt hätte, die sehr fest und gleichzeitig so leicht ist, dass sie sich im Wasser schwimmend und gesichert gegen Verletzungen durch Scheuern am Meeresgrunde erhalten hätte. Dieses Kabel hätte sich dann über Zylinder, die durch Dampfkraft gedreht wurden, aufgerollt, und Standard Island wäre mittels »Tauerei« vor- und rückwärts gegangen, wie noch heute hie und da Schiffe auf den Flüssen der Alten und der Neuen Welt. Dieses Kabel hätte aber außerordentlich lang und stark sein müssen und wäre doch vielfachen Havarien ausgesetzt gewesen, und dann bedeutete diese Anordnung nur eine »gefesselte Freiheit« mit dem Zwang, einer unveränderlichen Linie zu folgen – wenn sich’s aber um die Freiheit handelt, bestehen die Bürger des freien Amerika unerschütterlich auf ihrem Scheine.
Eine der Anlagen
Glücklicherweise haben die Elektrotechniker so große Fortschritte in ihrem Fache gemacht, dass man von der Elektrizität, der Seele des Weltalls, so gut wie alles verlangen kann. Ihr fiel daher auch die Aufgabe zu, die künstliche Insel fortzubewegen. Zwei Anlagen genügen, Dynamos von fast unbegrenzter Leistungsfähigkeit, die elektrische Energie in Form eines Gleichstromes von zweitausend Volt liefern, in Bewegung zu setzen. Diese Dynamos wirken auf ein mächtiges System von Propellern, die in der Nähe beider Häfen angebracht sind. Sie entwickeln jedes fünf Millionen Pferdekraft – dank den Hunderten von Kesseln, geheizt mit Petroleum-Briketts, die weit weniger Raum einnehmen und weniger rußen als Steinkohlen, zugleich aber viel mehr Wärme entwickeln. Die betreffenden Werke unterstehen der Leitung der beiden Hauptingenieure, der Herren Watson und Somwah, denen zahlreiche Mechaniker und Heizer zur Seite stehen, während die Oberleitung in den Händen des Kommodore
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Ethel Simcoë ruht. Von seiner Amtswohnung im Observatorium aus steht der Kommodore mit den beiden Elektrizitätswerken in telefonischer Verbindung. Er bestimmt nach dem vorher festgestellten Reiseplane den Kurs der künstlichen Insel. Von da war auch in der Nacht vom 25. zum 26. der Befehl ausgegangen, mit Standard Island die Küste Kaliforniens anzulaufen, in deren Nähe es sich zurzeit des Antritts seiner jährlichen Reise eben befand.
Kommodore Ethel Simcoë
Wer von unseren Lesern sich nun im Geiste darauf mit einschifft, der wird den verschiedenen Vorkommnissen auf dieser Fahrt über den Stillen Ozean mit beiwohnen und es hoffentlich nicht zu bereuen haben.
Wir fügen hier ein, dass die größte Geschwindigkeit Standard Islands, wenn seine Maschinen ihre zehn Millionen Pferdekraft entwickeln, acht Knoten (zwei geographische Meilen) in der Stunde erreicht. Die gewaltigsten Wogen, die der Sturm aufwühlt, haben auf die Insel keine Wirkung. Durch ihre Größe entgeht sie jedem Schwanken vom Seegange, und deshalb gibt es darauf auch keine Seekrankheit. Während der ersten Tage »an Bord« empfindet man höchstens ein schwaches Erzittern, dass die Rotation der Schrauben im Unterbau hervorbringt. Mit einem Sporn von sechzig Metern am Vorder- und am Hinterteile ausgerüstet, zerteilt die Insel die Wellen ohne Schwierigkeit und durchläuft die ungeheure Meeresfläche ohne jeden fühlbaren Stoß.
Natürlich dient die in den beiden Werken erzeugte elektrische Energie außer der Fortbewegung von Standard Island auch noch anderen Zwecken. Mit ihr werden Land, Park und Stadt erleuchtet. Sie unterhält hinter den Riesenlinsen der Leuchttürme die mächtige Lichtquelle, deren Strahlen die Anwesenheit der Schraubeninsel bis weit hinaus verkünden und jeder möglichen Kollision vorbeugen. Sie liefert die verschiedenen Zweigströme, die telegrafischen, telephotischen, telautographischen und telefonischen Zwecken dienen, ebenso, wie sie die Bedürfnisse der Privathäuser und der Handelsquartiere befriedigt. Sie versorgt auch die künstlichen Monde von je fünftausend Kerzen Leuchtkraft, die jeder eine Kreisfläche von hundert Meter Durchmesser erhellen.
Zurzeit, von der wir reden, befindet sich dieses außergewöhnliche Bauwerk auf seiner zweiten Reise über den Großen Ozean. Vor einem Monate hatte es die Madeleinebai verlassen und sich nach dem fünfunddreißigsten Breitengrade begeben, um seine Fahrt, etwa in der Höhe der Sandwich-Inseln,
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anzutreten. Eben befand es sich nahe der Küste von Nieder-Kalifornien, als Calistus Munbar durch telefonische Mitteilung erfuhr, dass sich das Konzert-Quartett nach der Abreise von San Franzisko nach San Diego begeben wollte, und ihm der Gedanke kam, sich dieser hervorragenden Künstler für die Dauer der Reise sozusagen zu bemächtigen. Wir wissen schon, wie er das ausführte, wie er sie auf der, nur wenige Kabellängen von der Küste verankerten Schraubeninsel einschiffte, und wie infolge seines gelungenen Streichs den Dilettanten von Milliard City der Genuss einer vorzüglichen Kammermusik in Aussicht gestellt war.
Das ist also jenes neunte Weltwunder, jenes des zwanzigsten Jahrhunderts würdige Meisterstück menschlichen Geistes, dessen unfreiwillige Gäste zwei Violinen, eine Bratsche und ein Violoncell sind und die Standard Island nach den westlichen Teilen des Pazifischen Ozean entführt.
1 Führer eines Geschwaders bei der Kriegsmarine
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2 Die Südlichen Sandwichinseln sind eine Inselkette im subantarktischen Südatlantik.
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Sechstes Kapitel – Eingeladene … Inviti
Wenn man auch annehmen darf, dass Sébastien Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat Leute waren, die über nichts erstaunten, so wurde es diesen doch schwer, in gewiss begründetem Unwillen dem Calistus Munbar nicht an die Kehle zu springen. Es soll einer nur in dem Glauben leben, auf dem Boden des westlichen Amerika umherzuwandeln, und dann erkennen, dass man ihn aufs hohe Meer hinausbefördert! Man soll sich für einige zwanzig Meilen von San Diego entfernt halten, wo man am nächsten Tage zu einem Konzert erwartet wird, und dann ganz schlankweg hören, dass man auf einer schwimmenden Insel immer weiter davon hinwegtreibt! Wahrhaftig, ein Überfall wäre zu verzeihen gewesen.
Zu seinem Glücke hatte sich der Amerikaner einem solchen ersten Wutausbruche zu entziehen gewusst. Sich die Überraschung oder richtiger die Verblüffung des Konzert-Quartetts zunutze machend, verlässt er die Plattform des Turmes, betritt den Fahrstuhl und ist damit vorläufig vor den Vorwürfen und etwaigen Handgreiflichkeiten der vier Pariser geschützt.
»Solch ein Schurke!« ruft das Violoncell.
»Solch ein Untier!« fällt die Bratsche ein.
»Oho … wenn wir’s ihm zu verdanken haben, ein reines Wunder kennenzulernen …«, lässt sich die erste Violine vernehmen.
»Du willst ihn doch nicht gar noch entschuldigen?« meint die zweite Geige.
»Hier gibt’s keine Entschuldigung«, ruft Pinchinat, »und wenn sich auf Standard Island noch Gerechtigkeit findet, lassen wir ihn verdonnern, diesen Malefizkerl von Yankee!«
»Und wenn’s noch einen Henker gibt«, brüllt Sébastien Zorn, »dann lassen wir ihn aufknüpfen!«
Um so schöne Vorsätze auszuführen, gilt es freilich zuerst zum Niveau der Einwohner von Milliard City hinabzugelangen, da hundertfünfzig Fuß hoch in der Luft natürlich keine Polizei tätig ist. Das konnte ja in wenigen Augenblicken geschehen sein, wenn ein Abstieg möglich war. Der Fahrstuhl des Aufzugs ist aber nicht wieder heraufgekommen, und nirgends findet sich etwas wie eine Treppe. Das Quartett befindet sich also auf der Höhe des Turmes außer Verbindung mit der übrigen Menschheit.
Nach dem ersten Ausbruche der Enttäuschung und der Wut sind Sébastien Zorn, Pinchinat und Frascolin, die Yvernes seiner Bewunderung überlassen, endlich völlig still geworden und rühren sich nicht von der Stelle. Über ihnen flattert die Flagge an der langen Fahnenstange. Sébastien Zorn wandelt eine grimmige Lust an, die Hissleine zu durchschneiden und die Flagge wie die eines sich ergebenden Kriegsschiffes zu senken. Immerhin erscheint es besser, sich nicht in eine vielleicht schlimm auslaufende Geschichte einzulassen, und seine Kameraden halten ihn noch zurück, als er schon mit einem scharf geschliffenen Bowiemesser herumfuchtelt.
Seine Kameraden halten ihn zurück.
»Achtung, wir wollen vor allem nicht uns ins Unrecht versetzen«, mahnt der kluge Frascolin.
»Du ergibst dich also in unsere elende, lächerliche Lage?« fragt Pinchinat.
»Das nicht … doch wir wollen sie nicht noch mehr komplizieren.«
»Und unser Gepäck, das inzwischen nach San Diego unterwegs ist!« bemerkt der Bratschist, die Arme kreuzend.
»Und unser für morgen angesetztes Konzert!« ruft Sébastien Zorn.
»Das geben wir durchs Telefon!« antwortet der erste Geiger, dessen Scherz nicht geeignet ist, die Reizbarkeit des kochenden Violoncellisten abzustumpfen.
Das Observatorium nimmt, wie wir wissen, die Mitte eines großen Vierecks ein, an dem die First Avenue ausmündet. Am anderen Ende dieser drei Kilometer langen Hauptverkehrsader, die die beiden Hälften von Milliard City scheidet, erblicken die Künstler eine Art monumentalen Palast, der von einem leichten und sehr eleganten Wartturm überragt wird. Sie sagen sich, dass das der Sitz der Regierung, die Residenz der obersten Stadtbehörde sein werde, wenn Milliard City überhaupt einen Bürgermeister und andere Beamte hat. Sie täuschen sich hierin nicht. Eben jetzt beginnt die Uhr jenes Wartturms ein herrliches Glockenspiel, dessen Klänge auf den Wellen des Windes bis zum Turme hier herübergelangen.
»Hört! … Das geht aus D-dur«, sagt Yvernes.
»Und im Zweivierteltakt«, setzt Pinchinat hinzu.
Da schlägt der Wartturm fünf Uhr.
»Und wann essen wir«, ruft Sébastien Zorn, »wie wird’s mit dem Schlafen? Sollen wir etwa wegen des Spitzbuben von Munbar hier auf der Plattform des Turmes die Nacht in freier Luft zubringen?«
So scheint es allerdings, denn der Fahrstuhl kommt nicht wieder herauf, um die Gefangenen zu erlösen.
In jenen niedrigen Breiten dauert die Dämmerung nur kurze Zeit, und das Strahlengestirn stürzt wie ein Geschoss nach dem Horizonte hinab. Blickt das Quartett nach den äußersten Grenzen des Himmels hinaus, so schimmert ihm nur das unbegrenzte Meer, ohne ein Segel, ohne eine Rauchsäule entgegen. Über das Stück Land unter ihm rollen die Tramwagen an der Peripherie der Insel oder eilen von einem Hafen zum anderen hin. Zur Stunde ist der Park noch sehr belebt. Oben vom Turme aus würde man ihn für einen riesigen Blumenkorb ansehen, worin Azaleen, Klematis, Jasmin, Glycinen, Passionsblumen, Begonien, Hyazinthen, Dahlien, Kamelien und Hunderte von Rosensorten blühen. Da strömen Spaziergänger hinzu … gemachte Männer und junge Leute, nicht solche »Zierbengel«, wie sie leider in europäischen Großstädten so viele herumlaufen, sondern gesunde, kräftige Jünglinge. Frauen und junge Mädchen, meist in strohgelber Toilette – dem dafür unter den Tropen beliebtesten Farbentone – leiten schlanke, mit Seidendecken geschützte Windspiele mit goldigen Halsbändern an weicher Schnur. Da und dort folgt diese Gentry den feinsandigen Alleen, die sich durch den Park hinwinden. Hier sieht man die einen auf die Polster der elektrischen Straßenbahnwagen hingestreckt, dort ruhen andere auf den von dichtem Grün überdachten Bänken. Noch weiter draußen widmen sich junge Gentlemen dem Lawn-tennis, dem Krocket, Golf oder dem Fußballspiele, während andere auf munteren Ponies dem Polo obliegen. Ganze Scharen von Kindern – von jenen amerikanischen Kindern, die sich so schnell entwickeln und bei denen, vorzüglich bei den kleinen Mädchen, eine ausgesprochene Individualität so bezeichnend hervortritt – tummeln sich auf den Rasenplätzen. Dazwischen trotten Reiter auf eleganten Pferden oder sieht man hier und da übermütig lustige Gartengesellschaften.
Auch den Handelsvierteln fehlt es zur Stunde nicht an Besuch.
Die beweglichen Trottoirs gleiten mit ihrer Last längst der Hauptstraße dahin. Am Fuße des Turmes, in dem Viereck des Observatoriums, gehen viele Personen hin und her, deren Aufmerksamkeit die Gefangenen wohl erregen könnten. Pinchinat und Frascolin rufen auch wiederholt laut hinunter. Dass sie gehört wurden, erkennt man daraus, dass manche Arme sich emporstrecken, ja auch einzelne Worte dringen bis zu ihnen hinauf.
Niemand zeigt die geringste Überraschung oder scheint sich über die Gruppe auf der Plattform irgendwie zu verwundern. Die oben verständlichen Worte bestehen in einem »Good bye«, einem »How do You do!«, einem »Guten Tag« oder anderen landläufigen Höflichkeitsausdrücken. Es scheint, als ob die ganze Bevölkerung von dem Eintreffen der vier Pariser, die Calistus Munbar empfangen hatte, völlig unterrichtet sei.
»He … he … die machen sich über uns noch lustig!« sagt Pinchinat.
»Das scheint mir auch so!« stimmt ihm Yvernes bei.
So verrinnt eine Stunde – eine Stunde, aber alle Rufe nach unten bleiben nutzlos. Die dringlichen Bitten Frascolins haben ebensowenig Erfolg, wie das Schmähen und Schelten Sébastien Zorns. Die Zeit zum Essen rückt immer näher, der Park wird von Spaziergängern, die Straße von müßigen Flaneuren immer leerer. Es ist zum Tollwerden!
»Wir gleichen ohne Zweifel«, sagt Yvernes, romantischen Erinnerungen nachhängend, »jenen profanen Gästen, die ein böser Geist an einen geheiligten Ort verlockt hat, und die nun den Tod erleiden müssen, weil sie etwas gesehen hatten, was ihre Augen nicht sehen durften …«
»Und hier lässt man uns den Qualen des Hungers erliegen!« seufzt Pinchinat.
»Nicht ohne dass wir alles mögliche versucht haben werden, um unsere Existenz zu verlängern!« erklärt Sébastien Zorn.
»Und wenn wir gezwungen sind, einer den anderen aufzuzehren, dann kommt Yvernes zuerst an die Reihe!« sagt Pinchinat.
»Wie es euch beliebt!« stöhnt die erste Geige mit schwacher Stimme und senkt schon den Kopf, um den Todesstreich zu empfangen.
Da dringt vom Turme unten ein Geräusch herauf. Der Fahrstuhl gleitet nach oben und hält im Niveau der Plattform an. Bei dem Gedanken, Calistus Munbar wieder auftauchen zu sehen, bereiten sich die Gefangenen schon, ihn nach Gebühr zu empfangen …
Der Fahrstuhl ist leer.
Gut, so ist die Sache aufgeschoben; die Gefoppten werden den sauberen Herrn schon finden. Jetzt gilt’s nur, eiligst nach der Erde hinabzugelangen, und das einzige Mittel dazu ist, im Fahrstuhl Platz zu nehmen.
Das geschieht denn auch sofort. Sobald der Violoncellist nebst Genossen sich in dem Behälter befinden, setzt dieser sich in Bewegung und langt binnen kaum einer Minute unten im Turme an.
»Und nun«, ruft Pinchinat mit dem Fuße stampfend, »befinden wir uns nicht einmal auf natürlichem Boden!« (Im Original ein Wortspiel, da »sol« ebenso Boden, Erdboden heißt, wie es das »G« der Tonleiter bezeichnet.)
Für derartige Kalauer war der Zeitpunkt freilich schlecht gewählt. Es erfolgt auch keine Antwort darauf. Die Tür ist offen. Alle vier treten hinaus. Der innere Hof ist menschenleer. Sie schreiten darüber hin und folgen einer Avenue.
Einzelne Personen kommen an den Fremdlingen vorüber, ohne diesen irgendwelche Beachtung zu schenken. Auf eine Bemerkung Frascolins, der vor allem Klugheit empfahl, muss Sébastien Zorn auf alles Schimpfen und Wettern verzichten. Bei den Behörden nur wollen sie Gerechtigkeit suchen. Das läuft ihnen ja nicht davon. Man beschließt also, erst nach dem Exzelsior-Hotel zu gehen und da den nächsten Morgen abzuwarten, um dann in der Eigenschaft als freie Männer seine Rechte geltend zu machen. Das Quartett wandert also die First Avenue hinauf.
Haben unsere Pariser denn das Privilegium, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erwecken? … Ja und nein. Man sieht sie wohl an, doch nicht in auffallender Weise, höchstens so, als gehörten sie zu den seltenen Touristen, die Milliard City zuweilen besuchen. Unter dem Drucke ganz außergewöhnlicher Verhältnisse sind sie selbst nicht gerade bei rosiger Laune und bilden sich ein, weit mehr angestarrt zu werden, als es wirklich der Fall ist. Andrerseits wird man es verzeihlich finden, dass ihnen diese »segelnden Insulaner« etwas närrisch erscheinen, diese Leute, die sich freiwillig von ihresgleichen trennten und nun auf dem größten Ozean der Erdkugel umherirren. Mit ein wenig Fantasie könnte man glauben, sie gehörten einem anderen Planeten unseres Sonnensystems an. Das ist wenigstens die Ansicht Yvernes, den sein überreiztes Hirn leicht nach nur erdachten Welten versetzt.
Pinchinat begnügt sich dagegen zu sagen:
»Alle diese Leute haben meiner Treu das richtige Millionäraussehen und scheinen mir unter den Nieren, ganz wie ihre Insel, einen kleinen Propeller mit herumzutragen.«
Inzwischen macht sich der Hunger immer mehr geltend. Seit dem Frühstück ist geraume Zeit verflossen und der Magen pocht auf sein Recht. Also schnellstens nach dem Exzelsior-Hotel! Morgen sollten die nötigen Schritte erfolgen, um mittels eines der Steamer von Standard Island nach San Diego zurückbefördert zu werden, nachdem Calistus Munbar von Rechts wegen eine reichlich bemessene Entschädigungssumme erlegt hätte.
Auf dem Wege durch die First Avenue bleibt Frascolin aber vor einem prächtigen Gebäude stehen, dessen Front in goldenen Lettern die Aufschrift »Casino« trägt. Rechts von der stolzen Säulenreihe, die den Haupteingang schmückt, erblickt man durch die mit Arabesken verzierten Spiegelscheiben eines Restaurants eine Menge Tische, von denen an verschiedenen gespeist wird, während ein zahlreiches Personal diensteifrig hin und her eilt.
»Hier gibt’s etwas zu essen!« ruft die zweite Violine mit einem Blicke auf die hungrigen Kameraden.
Darauf erfolgt von Pinchinat nur die lakonische Antwort:
»Hineintreten!«
Einer nach dem anderen betreten sie das Restaurant. Man scheint ihre Gegenwart in dem luxuriösen, von den Fremden meist aufgesuchten Etablissement nicht besonders zu bemerken. Fünf Minuten später vertilgen die Halbverhungerten schon mit Begierde die ersten Schüsseln einer vortrefflichen Mahlzeit, wozu Pinchinat – und der versteht sich darauf – die Speisenfolge aufgestellt hat. Glücklicherweise ist der Geldbeutel des Quartetts gut gespickt, und wenn er auf Standard Island auch abmagert, so werden die Einnahmen in San Diego ihn schon bald wieder aufschwellen lassen.
Die Küche ist ganz ausgezeichnet und der in den Hotels von New York und San Franzisko weit überlegen, und die Speisen werden hier in und auf elektrischen Öfen bereitet, die eine sehr genaue Regelung der Hitze ermöglichen. Auf die Suppe mit konservierten Austern, die Fricassés, den Sellerie und den hier stets aufgetischten Rhabarberkuchen folgen ganz frische Fische, Rumpsteaks von unvergleichlicher Zartheit, Wild, das jedenfalls den Prärien und Wäldern Kaliforniens entstammt, und Gemüse, die aus den intensiven Kulturen der Insel selbst herrühren. Als Getränk gibt es nicht das in Amerika allgemein gebräuchliche Eiswasser, sondern verschiedene Biere und Weine, die für die Kellereien von Milliard City aus den Geländen von Burgund, Bordeaux und des Rheins, natürlich mit hohen Kosten, bezogen waren.
Dieses Menü bringt unsere Pariser auf andere Gedanken. Vielleicht betrachten sie das Abenteuer, in das sie geraten sind, schon unter günstigerem Lichte. Bekanntlich haben ja alle Orchestermusiker einen guten Zug. Was aber bei denen natürlich erscheint, die bei der Handhabung von Blasinstrumenten ihre Lunge tüchtig anstrengen, ist weniger zu entschuldigen bei denen, die Streichinstrumente spielen. Doch gleichviel: Yvernes, Pinchinat, selbst Frascolin fangen an, das Leben rosenrot und in dieser Stadt der Milliardäre selbst goldfarbig zu sehen. Nur Sébastien Zorn allein widersteht der Versuchung und lässt seinen Ingrimm nicht durch die feurigen Gewächse Frankreichs ertränken.
Kurz, das Quartett ist bemerkbar »angehaucht«, wie man im alten Gallien sagt, als die Stunde kommt, die Rechnung zu verlangen. Von dem Oberkellner des Hotels, der in schwarzer Kleidung erscheint, wird sie Frascolin, als dem Kassierer, eingehändigt.
Die zw