Fast gleichzeitig sind seine Kameraden fertig, seinem Beispiele, wohin es sei, zu folgen.
»Das H-moll-Quartett von Onslow«, ruft er. »Anfangen! Ein paar Takte umsonst!«
Dieses Quartett von Onslow kannten sie auswendig, und geübte Streichmusikanten brauchten gewiss auch keine Beleuchtung dazu, ihre geschickten Finger über das Griffbrett eines Violoncells, zweier Violinen und einer Bratsche gleiten zu lassen.
So folgen sie denn alle ihrer künstlerischen Eingebung. Noch nie haben sie wohl in den Kasinos oder auf den Bühnen des amerikanischen Bundesstaates mit mehr Talent und Innigkeit gespielt. Da ertönt eine wahrhaft himmlische Harmonie, der menschliche Wesen, wenn sie nicht gerade mit Taubheit geschlagen sind, unmöglich widerstehen können. Ja, befanden sie sich auch, wie Yvernes vermutete, auf einem Kirchhof, so hätten sich die Gräber öffnen, die Toten aufrichten müssen, und die Skelette hätten gewiss die Hände zusammengeschlagen …
Und dennoch bleiben die Häuser geschlossen, die Schläfer erwachen auch jetzt nicht. Das Musikstück endigt mit den Prachtsätzen seines mächtigen Finale, ohne dass Freschal ein Lebenszeichen von sich gibt.
»Da sitzt doch der Teufel drin!« polterte Sébastien Zorn auf dem Gipfel der Wut hervor. »Bedarf es denn für die Ohren dieser Wilden eines Charivari, wie für den Bären?… Auch gut, wir fangen noch einmal von vorne an, doch du, Yvernes spielst in D-, du, Frascolin in E- und Pinchinat in G-dur. Ich selbst bleibe in H-moll, und nun aus Leibeskräften los!«
Das gab aber einen Missklang zum Trommelfellzersprengen! Es erinnerte an das improvisierte Orchester, das der Prinz von Joinville dereinst in einem unbekannten Dorfe des brasilianischen Gebietes dirigierte. Es klang, als ob man auf »Essigkannen« eine entsetzliche Symphonie mit verkehrtem Bogenstrich exekutiert hätte.
Pinchinats Gedanke erwies sich übrigens als vortrefflich. Was ein ganz ausgezeichneter musikalischer Vortrag nicht erzielte, das erzielt dieses gräuliche Durcheinander. Freschal fängt an aufzuwachen. Da und dort erhellen sich die Fenster. Die Bewohner des Dorfes sind also nicht tot, da sie jetzt Lebenszeichen verraten. Sie sind auch nicht taub, da sie hören und lauschen.
»Die Leute werden uns mit Äpfeln bombardieren«, sagt Pinchinat während einer Pause, denn trotz mangelndem Einklang des Tonstücks ist dessen Takt doch eingehalten worden.
»O, desto besser; dann essen wir sie«, antwortet der praktische Frascolin.
Und auf Kommando Sébastien Zorns beginnt das kakophonische Konzert von Neuem. Nach Beendigung desselben mit einem mächten »Dis«-Akkord in vier verschiedenen Tonlagen halten die Musiker ein.
Das kakophonische Konzert
Nein, mit Äpfeln wirft hier keiner aus den zwanzig oder dreißig geöffneten Fenstern, sondern laute Beifallsbezeugungen, kräftige Hurras und scharftönende Hips schallen daraus hervor. Die freschalischen Ohren haben sich jedenfalls noch niemals eines solchen musikalischen Hochgenusses erfreut, und es unterliegt keinem Zweifel, dass jetzt jedes Haus willig ist, so unvergleichliche Virtuosen gastlich aufzunehmen.
Doch während diese sich ihrer musikalischen Verzückung völlig hingaben, ist ein Zuschauer und Zuhörer, ohne dass sie seine Annäherung bemerkten, bis auf wenige Schritte herangetreten. Diese aus einer Art elektrischen Kremsers ausgestiegene Persönlichkeit wartet an einer Ecke des Platzes. Es ist ein hochgewachsener wohlbeleibter Mann, soweit das bei der Dunkelheit zu erkennen war.
Während sich dann unsere Pariser Kinder noch fragen, ob sich nach den Fenstern auch die Türen der Häuser öffnen werden, um sie aufzunehmen – was mindestens noch ungewiss ist –, nähert sich der neue Ankömmling noch weiter und spricht in liebenswürdigstem Tone und im reinsten Französisch:
»Ich bin Kunstliebhaber, meine Herren, und eben jetzt so glücklich gewesen, Ihnen Beifall zollen zu dürfen.«
»Während unseres letzten Musikstücks?« erwidert Pinchinat ironisch.
»Nein, meine Herren, während des ersten; ich habe das Quartett von Onslow selten in so vollendeter Weise spielen hören.«
Der Mann ist offenbar ein Kenner.
»Mein Herr«, antwortet ihm Pinchinat im Namen seiner Gefährten, »wir sind Ihnen für Ihre Anerkennung sehr verbunden. Hat unsere zweite Nummer Ihre Ohren zerrissen, so kommt das daher …«
»Mein Herr«, fällt ihm der Unbekannte ins Wort und schneidet damit einen Satz ab, der jedenfalls sehr lang geworden wäre, »ich habe niemals mit gleicher Vollendung so falsch spielen hören. Ich durchschaue es aber, weshalb Sie zu diesem Auswege griffen: Sie wollten die wackeren Bewohner von Freschal, die schon im tiefsten Schlafe liegen, aufwecken. Nun, meine Herren, gestatten Sie mir, Ihnen das anzubieten, was Sie mit jenem seltsamen Mittel erstrebten …«
»Gastliche Aufnahme?« fragt Frascolin.
»Gewiss, eine ultraschottische Gastfreundschaft. Irre ich mich nicht, so steht vor mir das Konzert-Quartett, das in unserem herrlichen Amerika überall berühmt ist, und gegen das letzteres mit seinem Enthusiasmus nicht gegeizt hat …«
»Verehrter Herr«, glaubt Frascolin hier einflechten zu müssen, »wir fühlen uns aufs höchste geschmeichelt. Doch … die gastliche Aufnahme … wo könnten wir die durch Ihre Güte finden?«
»Zwei Meilen von hier.«
»In einem anderen Dorfe?«
»Nein … Nein, in einer Stadt.«
»Einer bedeutenderen Stadt?…«
»Gewiss.«
»Erlauben Sie, man hat uns gesagt, dass hier und vor San Diego keine Stadt liege …«
»Ein Irrtum … wirklich ein Irrtum, den ich nicht zu erklären vermag.«
»Ein Irrtum?…« wiederholt Frascolin.
»Ja, meine Herren, und wenn Sie mir nur folgen wollen, verspreche ich Ihnen einen Empfang, wie er sich für solch hervorragende Künstler gebührt.«
»Ich denke, das erschiene annehmbar«, ließ sich Yvernes vernehmen.
»Ganz meine Ansicht«, bestätigt Pinchinat.
»Halt, halt … noch einen Augenblick«, ruft Pinchinat; »niemals schneller als der Leiter des Orchesters.«
»Das bedeutet?«… fragt der Amerikaner.
»Dass wir in San Diego erwartet werden«, antwortet Frascolin.
»In San Diego«, fügt der Violoncellist hinzu, »wo die Stadt uns zu einer Reihe von musikalischen Matinées engagiert hat, deren erste bereits übermorgen Sonntag stattfinden soll.«
»Ah so!« versetzt der Fremde mit dem Ausdruck der Enttäuschung.
Gleich darauf ergreift er jedoch wieder das Wort:
»Nun, das tut nichts, meine Herren«, setzt er hinzu. »Binnen eines Tages werden Sie Zeit genug haben, eine Stadt zu sehen, die des Besuches wert ist, und ich verpflichte mich, Sie bis zur nächsten Station zurückzubefördern, sodass Sie am Sonntag in San Diego sein können.«
In der Tat, das Anerbieten ist ebenso verführerisch, wie unter den gegebenen Umständen willkommen. Das Quartett kann sicher sein, in einem guten Hotel ein treffliches Zimmer zu finden, ohne von den weiteren Vorteilen zu reden, die sie von und durch diesen zuvorkommenden Herrn erwarten dürfen.
»Nehmen Sie meinen Vorschlag an, meine Herren?«
»Mit Vergnügen«, versichert jetzt Sébastien Zorn, den der Hunger und die Ermüdung bestimmen, eine derartige Einladung nicht abzuweisen.
»Also abgemacht!« erwidert der Amerikaner. »Wir brechen sofort auf, sind binnen zwanzig Minuten am Ziele, und ich weiß, dass Sie mir dafür Dank wissen werden.«
Selbstverständlich hatten sich nach den Hurras, die der exekutierten Katzenmusik folgten, die Fenster der Häuser sogleich wieder geschlossen. Die Lichter erloschen und Freschal verfiel aufs neue in tiefen Schlaf.
Von dem Amerikaner geführt, begeben sich die Musiker nach dem Kremser, bringen darauf ihre Instrumente unter und nehmen im hinteren Teile des Gefährtes Platz, während sich ihr freundliche Führer ganz vornhin neben den Mechaniker setzt. Dann wird ein Hebel umgelegt, die elektrischen Akkumulatoren treten in Wirkung, der Wagen rückt von der Stelle und kommt sehr bald in rasche Bewegung nach Westen hinaus.
Nach einer Viertelstunde leuchtet ein ausgebreiteter weißlicher Schein auf, ein die Augen blendendes Durcheinander von leuchtenden Strahlen. Da liegt also eine Stadt, von deren Vorhandensein unsere Pariser gar keine Ahnung hatten.
Der Kremser hält an und Frascolin sagt:
»Aha, da wären wir ja an der Küste.«
»An der Küste … nein«, entgegnet der Amerikaner. »Das ist ein Strom, den wir zu überschreiten haben.«
»Doch auf welche Weise?« fragt Pinchinat.
»Mittels der Fähre hier, die gleich unseren Wagen aufnimmt.«
In der Tat liegt vor ihnen eines der in den Vereinigten Staaten so häufigen Ferry-boats, auf das der Wagen samt Insassen hinüberrollt. Ohne Zweifel wird dieses Ferry-boat durch Elektrizität angetrieben, denn es stößt keinen Dampf aus, und schon zwei Minuten später legt es nach Überschreitung des Wassers an der Kaimauer eines Bassins im Hintergrunde eines Hafens an.
Der Kremser rollt nun durch über Land führende Alleen weiter und dringt in eine Parkanlage ein, über die hoch oben angebrachte elektrische Lampen helles Licht ausgießen.
Am Gitter dieses Parks öffnet sich ein Tor, der Zugang zu einer breiten und langen, mit tönenden Platten belegten Straße. Fünf Minuten später steigen unsere Künstler am Vorbau eines eleganten Hotels aus, wo sie auf ein Wort des Amerikaners hin mit vielversprechender Zuvorkommenheit empfangen werden. Man geleitet sie sofort nach einer luxuriös ausgestatteten Tafel, und sie nehmen – wie sich wohl voraussetzen lässt, mit bestem Appetit – ein reichliches Abendessen ein.
Nach Beendigung desselben führt sie der Oberkellner nach einem sehr geräumigen Zimmer mit mehreren Glühlampen, die durch niederzulassende Schirme in mild leuchtende Nachtlampen verwandelt werden können. Die Erklärung aller dieser Wunder von dem kommenden Morgen erwartend, schlummern sie endlich in den die vier Zimmerecken einnehmenden bequemen Betten ein und schnarchen mit der außergewöhnlichen Übereinstimmung, der das Konzert-Quartett seinen künstlerischen Ruhm verdankt.
1 Figur in der griechischen Mythologie, der schöne und ewig jugendliche Liebhaber der Mondgöttin Selene <<<
2 Gestalt aus Schillers „Räubern“ <<<
3 Sohlengänger, Landwirbeltiere, die bei der Fortbewegung die gesamte Fußsohle aufsetzen, Bsp: Bären oder Menschenaffen <<<
4 Das Motto des Dartmouth College ist „Vox Clamantis in Deserto" („Eine Stimme ruft in der Wüste") Sinngemäß: Ein (einsamer) Rufer in der Wüste. <<<
Am frühen Morgen, gegen sieben Uhr, erschallen nach täuschender Nachahmung des Tones einer Trompete – gleich dem ersten Signal bei der Reveille eines Regiments – im gemeinschaftlichen Zimmer folgende Worte oder richtiger Rufe:
»Allons! … Hopp! … Auf die Füße … und in zwei Tempos!« … womit Pinchinat den jungen Tag einleitet.
Yvernes, das bequemste Mitglied des Quartetts, hätte gewiss drei, oder noch lieber vier, Tempos vorgezogen, um sich aus den molligen Hüllen des Bettes zu schälen. Doch auch er muss dem Beispiele seiner Kameraden folgen und die horizontale Lage gegen die vertikale Haltung vertauschen.
»Wir haben keine einzige Minute zu verlieren!« bemerkt Seine Hoheit.
»Freilich«, schließt Sébastien Zorn sich ihm an, »denn morgen müssen wir unbedingt in San Diego sein.«
»Schon recht«, erwidert Yvernes, »ein halber Tag wird ja ausreichen, die Stadt unseres liebenswürdigen Amerikaners zu besuchen.«
»Was mich verwundert«, lässt sich Frascolin vernehmen, »ist, dass überhaupt eine so bedeutende Stadt in der Nähe von Freschal liegt! … Wie mochte es nur kommen, dass unser Kutscher davon kein Sterbenswörtchen gesagt hat?«
»Die Hauptsache bleibt doch, dass wir hier sind, alter G-Schlüssel«, bemerkt Pinchinat.
Durch zwei große Fenster dringt reichliches Licht ins Zimmer, das auf etwa eine Meile Länge Aussicht nach einer schönen, mit doppelter Baumreihe geschmückten Straße bietet.
Die vier Freunde beginnen nun in einem behaglichen Nebenraume ihre Toilette, übrigens eine kurze und leichte Arbeit, denn alles ist hier nach den neuesten Verbesserungen eingerichtet: Drehhähne für warmes und kaltes Wasser zur beliebigen Mischung, Waschgeschirre, die sich durch Achsendrehung selbsttätig entleeren, Fuß- und Handwärmer, Zerstäuber mit wohlriechenden Flüssigkeiten, die nach Belieben in Funktion treten, durch den elektrischen Strom bewegte Ventilatoren, mechanisch bewegte Bürsten, sodass man an die einen nur den Kopf, an die anderen die Kleidung oder die Stiefel zu halten braucht, um erstere gereinigt, letztere blankgewischt zu bekommen.
Des weiteren, ohne die elektrische Uhr und die elektrischen Ölfläschchen, die sich durch einen Fingerdruck nach Bedarf ergießen, zu rechnen, setzen Klingeltasten oder Telefone die verschiedenen Teile der ganzen Anlage mit dem Zimmer in sofortige Verbindung.
Und Sébastien Zorn nebst seinen Kameraden kann von hier aus nicht allein mit dem Hotel sprechen, sondern auch mit den verschiedenen Teilen der Stadt, ja vielleicht gar – das ist wenigstens Pinchinats Ansicht – mit jeder beliebigen Stadt der Vereinigten Staaten.
»Wenn nicht der beiden Welten«, setzt Yvernes hinzu.
In der Erwartung, sich hiervon noch später zu überzeugen, lässt sich zwei Minuten nach drei Viertel acht Uhr in englischer Sprache folgende telefonische Mitteilung vernehmen:
»Calistus Munbar entbietet seinen Guten Morgen allen verehrlichen Mitgliedern des Konzert-Quartetts und ersucht sie, sobald sie dazu fertig sind, herunter zu kommen, um im Dining-room des Exzelsior-Hotels das erste Frühstück einzunehmen.«
»Exzelsior-Hotel!« rief Yvernes. »Der Name dieser Karawanserei1 klingt vielversprechend!«
»Calistus Munbar, das ist unser so ungemein zuvorkommender Amerikaner«, bemerkt Pinchinat, »und der Name ist großartig!«
»Liebe Freunde«, ruft der Violoncellist, dessen Magen ebenso selbstwillig ist wie sein Eigentümer, »da der Morgenimbiss aufgetragen ist, wollen wir frühstücken, und nachher …«
»Nachher … spazieren wir durch die Stadt«, fällt Frascolin ein. »Doch welche Stdt in aller Welt kann das sein?«
Nachdem unsere Pariser ihre Morgentoilette so ziemlich vollendet haben, antwortet Pinchinat telefonisch, dass sie sich binnen fünf Minuten die Ehre geben werden, Herrn Calistus Munbars Einladung nachzukommen.
Bald darauf begeben sie sich nach dem Personenaufzug, der sich sofort in Bewegung setzt und sie in die monumentale Vorhalle des Hotels hinunterbefördert. An der Rückseite des Flurs liegt die Tür nach dem Diningroom, einem großen, in reichem Goldschmuck erglänzenden Saale.
»Ganz zu Ihren Diensten, meine Herren, ganz zu Ihrem Befehl!«
Der Herr vom vorigen Abend ist es, der diesen Satz von zehn Wörtern ausspricht. Er gehört dem Typus von Persönlichkeiten an, von denen man sagen kann, dass sie sich gleich selbst vorstellen. Erscheint es nicht, als ob man mit ihnen schon lange oder richtiger, schon »von jeher« bekannt wäre?
»Ganz zu Ihren Diensten, meine Herren!«
Calistus Munbar kann zwischen fünfzig und sechzig Jahre zählen, sieht aber höchstens wie ein mittlerer Vierziger aus. Er ist über mittelgroß, ziemlich beleibt und hat starke Gliedmaßen. Gesund und kräftig, zeigt er sichere Bewegungen – kurz, er »platzt« vor Gesundheit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist.
Dem Sébastien Zorn und seinen Kollegen sind solche Leute – deren gibt es ja in den Vereinigten Staaten nicht so wenige – schon oft in den Weg gelaufen. Der gewaltige, kugelrunde Kopf Calistus Munbars strotzt von noch blondem, üppigem Haar, das auf- und abschwankt, wie Baumlaub unter dem Winde; sein Teint ist recht frisch; der ziemlich lange, rotgelbe Bart läuft in zwei Spitzen aus; den Schnurrbart hat er wegrasiert; der an den Lippenwinkeln etwas hinaufgezogene Mund erscheint lächelnd, sogar scherzhaft; die Zähne gleichen blendendweißem Elfenbein; die an der Spitze etwas verdickte Nase, mit leicht beweglichen Flügeln und mit zwei lotrechten Falten unter der Stirn solid befestigt, trägt einen Klemmer, der von einer feinen, gleich einem Seidenfaden schmiegsamen silbernen Schnur gehalten wird. Hinter den Gläsern des Klemmers blitzt ein bewegliches Auge mit grünlicher Iris auf, deren Pupille wie von Kohlenglut erleuchtet aussieht. Dieser Kopf ist mit den Schultern durch einen wirklichen Stiernacken verbunden und der Rumpf auf fleischigen Ober-, nebst tüchtigen Unterschenkeln über etwas großen Füßen aufgebaut.
Calistus Munbar trägt ein weites, katechufarbenes Jacket von Diagonalstoff. Aus der Tasche an der Seite lugt der Zipfel des Taschentuchs hervor. Die stark ausgeschnittene Weste wird von drei goldenen Knöpfen geschlossen gehalten. Von einer Tasche derselben zur anderen hängt bogenförmig eine schwere Kette, die an dem einen Ende einen Chronometer, am anderen einen Pedometer trägt, ohne die Breloques, die in ihrer Mitte klimpern und klirren. Dieser Goldschmuck wird noch vervollständigt durch einen wahren Rosenkranz von Ringen, womit die vollen, rosenroten Finger verziert sind. Das tadellos weiße, steife und glanzgeplättete Hemd lässt drei schöne Diamanten sehen und läuft in einen breit zurückgeschlagenen Kragen aus, unter dem eine nicht recht zu bezeichnende Krawatte, mehr nur ein braunroter Galon, herabhängt. Das Beinkleid aus streifigem Stoffe mit weiten Falten verengt sich nur über den mit Aluminiumagraffen geschlossenen Schuhen.
Die Physiognomie2 dieses Yankees ist im höchsten Maße ausdrucksvoll – die Physiognomie der Leute, die an nichts zweifeln und »die noch ganz andere Dinge gesehen haben«, wie man zu sagen pflegt. Der brave Mann weiß offenbar, was er will, und ist obendrein energisch, was man an der Spannkraft seiner Muskeln und an der sichtbaren Zusammenziehung seines Kaumuskels erkennt. Endlich lacht er gern, und das recht laut, doch mehr durch die Nase als durch den Mund, also in einer Art Kichern, einem hennitus, wie es die Physiologen nennen.
Das ist dieser Calistus Munbar. Beim Eintritt des Quartetts lüftet er den breitkrempigen Hut, dem eine Feder à la Ludwig XIII. nicht übel angestanden hätte. Er drückt den vier Künstlern die Hände und führt sie dann nach einer Tafel, worauf der Teekessel siedet und der landesübliche Braten dampft. Er spricht unausgesetzt und lässt überhaupt keine Frage aufkommen – vielleicht um einer Antwort auszuweichen – indem er die Vorzüge seiner Stadt hervorhebt, die wunderbare Gründung derselben rühmt, ohne Unterlass in seinem Monologe fortfährt und diesen nach Beendigung des Frühstücks mit den Worten schließt:
»Wollen Sie mir nun freundlichst folgen, meine Herren! Doch eine Warnung …«
»Und die wäre?« fragt Frascolin.
»Es ist hier strengstens verboten, auf den Straßen auszuspucken.«
»Das ist unsere Gewohnheit nie gewesen«, protestiert Yvernes.
»Desto besser, so werden Sie vor Geldstrafen gesichert sein.«
»In Amerika … und nicht ausspucken!« murmelt Pinchinat mit einem Tone, in dem sich Überraschung und Unglauben vermischen.
Es wäre schwierig gewesen, sich einen Führer zu verschaffen, der gleichzeitig ein Erklärer wie Calistus Munbar gewesen wäre. Er kennt diese Stadt gründlichst. Hier gibt es kein Hotel, das er nicht zu nennen, kein Haus, von dem er nicht zu sagen wüsste, wer es bewohnte, gibt es keinen Vorüberkommenden, der ihn nicht freundlich begrüßt hätte.
Die ganze Stadt ist sehr regelmäßig angelegt. Alleen und Straßen, letztere auch mit Schutzdach über den Trottoirs, schneiden sich, wie die Linien eines Schachbretts, in rechten Winkeln. Gleichmäßigkeit beherrscht den ganzen geometrischen Plan; doch auch an Abwechslung fehlt es nicht, denn die Häuser folgen, was Stil und äußeres Aussehen wie innere Einrichtung betrifft, keiner anderen Regel, als der Fantasie der Architekten. Mit Ausnahme einiger, mehr dem Handel dienenden Straßen, bilden die Häuser der übrigen mehr eine Art Paläste mit ihren von eleganten Nebengebäuden begrenzten Vorhöfen, dem architektonischen Reichtum ihrer Fassaden, mit der luxuriösen Ausstattung der Wohnräume und den Gärten oder richtiger den Parks, die zu jedem Grundstück gehören. Immerhin fällt es auf, dass die Bäume darin nirgends ihre volle Entwicklung erreicht haben. Dasselbe gilt für die an den Durchschnittsstellen der Hauptverkehrsadern ausgesparten Squares, auf denen man zwar Rasenflächen von entzückender Frische findet, während die Baumgruppen mit ihrem Gemisch von Arten aus der gemäßigten und der heißen Zone dem Erdboden noch nicht genug Nährstoffe abgesaugt zu haben scheinen. Gerade diese Eigentümlichkeit bildet einen scharfen Gegensatz zu dem Teile des westlichen Amerika, wo in der Nachbarschaft der großen kalifornischen Städte geradezu Riesenwälder die Regel sind.
Das Quartett schlenderte so für sich hin, wobei sie das betreffende Stadtviertel jeder nach seiner Neigung in Augenschein nahmen, Yvernes angezogen von dem, was Frascolin weniger interessierte, Sébastien Zorn von dem, was Pinchinat mehr gleichgültig ließ … alle jedoch höchst begierig, das Geheimnis zu durchdringen, das die ihnen unbekannte Stadt umhüllte. Die Verschiedenheit der Anschauungen musste gerade eine Menge recht bezeichnender Beobachtungen ergeben. Übrigens ist ja auch Calistus Munbar bei der Hand, der auf jede Frage eine Antwort weiß. Doch was sagen wir … eine Antwort?… Er wartet gar nicht ab, bis man ihn fragt, er spricht, plaudert, erklärt in einem fort. Seine Wörtermühle dreht sich schon beim leisesten Lufthauch. Eine Viertelstunde nach dem Weggange aus dem Exzelsior-Hotel sagt Calistus Munbar:
»Wir befinden uns jetzt in der Third Avenue, und deren hat die Stadt dreißig. Diese hier, die an Verkaufsläden reichste, bildet unseren Broadway, unsere Regent-Street, unsere Große Friedrichsstraße oder unseren Boulevard des Italiens. In ihren Magazinen und Bazaren findet man das Überflüssige neben dem Notwendigen, alles, was für verfeinertes Wohlleben und modernen Komfort nur irgend verlangt werden kann.«
»Wir befinden uns jetzt in der Third Avenue …«
»Die Magazine sehe ich wohl«, bemerkt Pinchinat, »doch keine Einkäufer …«
»Vielleicht ist es noch zu früh am Morgen …?« setzt Yvernes hinzu.
»Nein, das kommt daher«, antwortet Calistus Munbar, »dass die meisten Bestellungen telefonisch oder auch telautografisch erfolgen …«
»Telautografisch?… Was bedeutet das?« fragt Frascolin.
»Das bedeutet, dass wir vielfach den Telautografen benützen, einen sinnreichen Apparat, der die Handschrift ebenso überträgt, wie das Telefon die Sprache, ohne den Kinetografen zu vergessen, der alle Bewegungen nachbildet und für das Auge dasselbe ist, was der Phonograph für das Ohr ist – und endlich das Telefot, das jedes Bild wiedergibt. Der Telautograf bietet eine weit größere Sicherheit als die einfache Depesche, mit der jeder Beliebige Missbrauch treiben kann, deshalb können wir auf elektrischem Wege Bestellungen aufgeben und Rechnungen senden oder Verträge schließen …«
»Auch Eheverträge vielleicht …«, unterbricht ihn Pinchinat ironischen Tones.
»Gewiss, Herr Bratschist. Warum sollte man sich nicht mittels elektrischen Drahtes verheiraten können …«
»Und auch wieder scheiden?…«
»Auch wieder scheiden! Das kommt sogar noch häufiger vor!«
Der Cicerone lacht dazu so unbändig, dass alle Schmuckgegenstände an seiner Weste zittern und klirren.
»Sie sind recht lustiger Natur, Herr Munbar«, sagt Pinchinat, der von der Heiterkeit des Amerikaners angesteckt wird.
»Warum nicht? Wie ein Schwarm Buchfinken an einem sonnigen Tage!«
Jetzt zeigt sich eine größere Querstraße. Es ist die Neunzehnte Avenue, aus der jeder Handelsverkehr verbannt ist. Durch dieselbe verlaufen, wie durch die anderen, zwei Trambahngleise. Schnell rollen die Wagen darüber hin, ohne ein Körnchen Staub aufzuwirbeln, denn die mit einem unveränderlichen Belag von Karry oder australischem Jarraholz – warum nicht von brasilianischem Mahagoni? – versehene Straßenfläche ist so sauber, als hätte man sie mit Schmirgelpapier abgerieben. Frascolin, der alle physikalischen Erscheinungen scharf beobachtet, meint, dass sie unter den Füßen fast einen metallischen Klang hören lasse.
»Das sind offenbar großartige Eisenindustrielle!« sagt er für sich. »Nun stellen sie gar die Fahrwege aus Eisenguss her!«
Eben wollte er sich bei Calistus Munbar darüber näher unterrichten, als dieser ausrief:
»Sehen Sie sich dieses Hotel an, meine Herren!«
Er zeigt dabei nach einem umfänglichen und großartigen Bauwerk, dessen Seitenflügel, die einen Schmuckhof begrenzen, durch ein Gitter aus Aluminium verbunden sind.
»Dieses Hotel, man könnte sagen, dieser Palast wird von einer der ersten Familien der Stadt bewohnt. Ich erwähnte Ihnen bereits Jem Tankerdon. Der Mann ist Eigentümer unerschöpflicher Petroleumquellen in Illinois und der reichste und deshalb der ehrbarste und verehrteste unserer Mitbürger …«
»Mit einem Vermögen von Millionen?« fragt Sébastien Zorn.
»Pah!« stieß Calistus Munbar hervor. »Eine Million ist für uns so viel wie ein Dollar, und deren gibt’s hier Hunderte! In unserer Stadt wohnen manche überreiche Nabobs. Damit erklärt es sich, dass die Kaufleute in den Handelsvierteln bald ein Vermögen machen … ich meine die Detailhändler, denn von Großhändlern findet sich auf diesem, in der Welt einzig dastehenden Mikrokosmos kein einziger …«
»Aber Industrielle?« fragte Pinchinat weiter.
»Industrietreibende gibt es hier nicht!«
»So doch wohl Reeder!«3 ließ sich Frascolin vernehmen.
»Ebensowenig!«
»Also lauter Rentiers!« sagte darauf Sébastien Zorn.
»Nichts als Rentiers, neben Kaufleuten, die im besten Zuge sind, sich eine schöne Rente anzusammeln.«
»Nun, aber Handwerker doch auch?« bemerkte Yvernes.
»Wenn man Handwerker braucht, lässt man sie von auswärts kommen, und wenn die Leute fertig sind, kehren sie wieder zurück … natürlich mit einem hübschen Batzen Geld in der Tasche.«
»Doch selbstverständlich, Herr Munbar«, sagte Frascolin, »haben Sie auch einige Arme in Ihrer Stadt, und wäre es nur, um die Rasse nicht ganz aussterben zu lassen.«
»Arme, mein Herr zweiter Geiger?… Von solchen würden Sie keinen einzigen entdecken!«
»So ist das Betteln wohl strengstens verboten?…«
»Zu einem solchen Verbote fehlte jede Veranlassung, da die Stadt Bettlern gar nicht zugänglich ist. So etwas passt für die Städte der Union mit ihren Stiften, Asylen und Arbeitshäusern … und mit den Besserungsanstalten, die jene vervollständigen …«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie keine Gefängnisse hätten?«
»So wenig, wie wir Gefangene haben.«
»Doch mindestens Verbrecher oder Übeltäter?«
»Diese ersuchen wir, in der Alten oder der Neuen Welt zu bleiben, wo sie ihrem Berufe unter günstigeren Umständen obliegen können.«
»Wahrhaftig, Herr Munbar«, rief Sébastien Zorn, »Ihren Worten nach würde man kaum glauben, sich in Amerika zu befinden.«
»Da waren Sie noch gestern, Herr Violoncellist«, antwortet dieser merkwürdige Cicerone.