Die Propeller-Insel

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Fast gleich­zei­tig sind sei­ne Ka­me­ra­den fer­tig, sei­nem Bei­spie­le, wo­hin es sei, zu fol­gen.

»Das H-moll-Quar­tett von Onslow«, ruft er. »An­fan­gen! Ein paar Tak­te um­sonst!«

Die­ses Quar­tett von Onslow kann­ten sie aus­wen­dig, und ge­üb­te Streich­mu­si­kan­ten brauch­ten ge­wiss auch kei­ne Be­leuch­tung dazu, ihre ge­schick­ten Fin­ger über das Griff­brett ei­nes Vio­lon­cells, zwei­er Vio­li­nen und ei­ner Brat­sche glei­ten zu las­sen.

So fol­gen sie denn alle ih­rer künst­le­ri­schen Ein­ge­bung. Noch nie ha­ben sie wohl in den Ka­si­nos oder auf den Büh­nen des ame­ri­ka­ni­schen Bun­des­staa­tes mit mehr Ta­lent und In­nig­keit ge­spielt. Da er­tönt eine wahr­haft himm­li­sche Har­mo­nie, der mensch­li­che We­sen, wenn sie nicht ge­ra­de mit Taub­heit ge­schla­gen sind, un­mög­lich wi­der­ste­hen kön­nen. Ja, be­fan­den sie sich auch, wie Yver­nes ver­mu­te­te, auf ei­nem Kirch­hof, so hät­ten sich die Grä­ber öff­nen, die To­ten auf­rich­ten müs­sen, und die Ske­let­te hät­ten ge­wiss die Hän­de zu­sam­men­ge­schla­gen …

Und den­noch blei­ben die Häu­ser ge­schlos­sen, die Schlä­fer er­wa­chen auch jetzt nicht. Das Mu­sik­stück en­digt mit den Pracht­sät­zen sei­nes mäch­ti­gen Fina­le, ohne dass Fre­schal ein Le­bens­zei­chen von sich gibt.

»Da sitzt doch der Teu­fel drin!« pol­ter­te Sé­bas­ti­en Zorn auf dem Gip­fel der Wut her­vor. »Be­darf es denn für die Ohren die­ser Wil­den ei­nes Cha­ri­va­ri, wie für den Bä­ren?… Auch gut, wir fan­gen noch ein­mal von vor­ne an, doch du, Yver­nes spielst in D-, du, Fras­co­lin in E- und Pin­chi­nat in G-dur. Ich selbst blei­be in H-moll, und nun aus Lei­bes­kräf­ten los!«

Das gab aber einen Miss­klang zum Trom­mel­fell­zer­spren­gen! Es er­in­ner­te an das im­pro­vi­sier­te Or­che­s­ter, das der Prinz von Join­ville der­einst in ei­nem un­be­kann­ten Dor­fe des bra­si­lia­ni­schen Ge­bie­tes di­ri­gier­te. Es klang, als ob man auf »Es­sig­kan­nen« eine ent­setz­li­che Sym­pho­nie mit ver­kehr­tem Bo­gen­strich exe­ku­tiert hät­te.

Pin­chi­nats Ge­dan­ke er­wies sich üb­ri­gens als vor­treff­lich. Was ein ganz aus­ge­zeich­ne­ter mu­si­ka­li­scher Vor­trag nicht er­ziel­te, das er­zielt die­ses gräu­li­che Durchein­an­der. Fre­schal fängt an auf­zu­wa­chen. Da und dort er­hel­len sich die Fens­ter. Die Be­woh­ner des Dor­fes sind also nicht tot, da sie jetzt Le­bens­zei­chen ver­ra­ten. Sie sind auch nicht taub, da sie hö­ren und lau­schen.

»Die Leu­te wer­den uns mit Äp­feln bom­bar­die­ren«, sagt Pin­chi­nat wäh­rend ei­ner Pau­se, denn trotz man­geln­dem Ein­klang des Ton­stücks ist des­sen Takt doch ein­ge­hal­ten wor­den.

»O, de­sto bes­ser; dann es­sen wir sie«, ant­wor­tet der prak­ti­sche Fras­co­lin.

Und auf Kom­man­do Sé­bas­ti­en Zorns be­ginnt das ka­ko­pho­ni­sche Kon­zert von Neu­em. Nach Been­di­gung des­sel­ben mit ei­nem mäch­ten »Dis«-Ak­kord in vier ver­schie­de­nen Ton­la­gen hal­ten die Mu­si­ker ein.

Das kakophonische Konzert

Nein, mit Äp­feln wirft hier kei­ner aus den zwan­zig oder drei­ßig ge­öff­ne­ten Fens­tern, son­dern lau­te Bei­falls­be­zeu­gun­gen, kräf­ti­ge Hur­ras und scharf­tö­nen­de Hips schal­len dar­aus her­vor. Die fre­scha­li­schen Ohren ha­ben sich je­den­falls noch nie­mals ei­nes sol­chen mu­si­ka­li­schen Hoch­ge­nus­ses er­freut, und es un­ter­liegt kei­nem Zwei­fel, dass jetzt je­des Haus wil­lig ist, so un­ver­gleich­li­che Vir­tuo­sen gast­lich auf­zu­neh­men.

Doch wäh­rend die­se sich ih­rer mu­si­ka­li­schen Ver­zückung völ­lig hin­ga­ben, ist ein Zuschau­er und Zu­hö­rer, ohne dass sie sei­ne An­nä­he­rung be­merk­ten, bis auf we­ni­ge Schrit­te her­an­ge­tre­ten. Die­se aus ei­ner Art elek­tri­schen Krem­sers aus­ge­stie­ge­ne Per­sön­lich­keit war­tet an ei­ner Ecke des Plat­zes. Es ist ein hoch­ge­wach­se­ner wohl­be­leib­ter Mann, so­weit das bei der Dun­kel­heit zu er­ken­nen war.

Wäh­rend sich dann un­se­re Pa­ri­ser Kin­der noch fra­gen, ob sich nach den Fens­tern auch die Tü­ren der Häu­ser öff­nen wer­den, um sie auf­zu­neh­men – was min­des­tens noch un­ge­wiss ist –, nä­hert sich der neue An­kömm­ling noch wei­ter und spricht in lie­bens­wür­digs­tem Tone und im reins­ten Fran­zö­sisch:

»Ich bin Kunst­lieb­ha­ber, mei­ne Her­ren, und eben jetzt so glück­lich ge­we­sen, Ih­nen Bei­fall zol­len zu dür­fen.«

»Wäh­rend un­se­res letz­ten Mu­sik­stücks?« er­wi­dert Pin­chi­nat iro­nisch.

»Nein, mei­ne Her­ren, wäh­rend des ers­ten; ich habe das Quar­tett von Onslow sel­ten in so vollen­de­ter Wei­se spie­len hö­ren.«

Der Mann ist of­fen­bar ein Ken­ner.

»Mein Herr«, ant­wor­tet ihm Pin­chi­nat im Na­men sei­ner Ge­fähr­ten, »wir sind Ih­nen für Ihre Aner­ken­nung sehr ver­bun­den. Hat un­se­re zwei­te Num­mer Ihre Ohren zer­ris­sen, so kommt das da­her …«

»Mein Herr«, fällt ihm der Un­be­kann­te ins Wort und schnei­det da­mit einen Satz ab, der je­den­falls sehr lang ge­wor­den wäre, »ich habe nie­mals mit glei­cher Vollen­dung so falsch spie­len hö­ren. Ich durch­schaue es aber, wes­halb Sie zu die­sem Aus­we­ge grif­fen: Sie woll­ten die wa­cke­ren Be­woh­ner von Fre­schal, die schon im tiefs­ten Schla­fe lie­gen, auf­we­cken. Nun, mei­ne Her­ren, ge­stat­ten Sie mir, Ih­nen das an­zu­bie­ten, was Sie mit je­nem selt­sa­men Mit­tel er­streb­ten …«

»Gast­li­che Auf­nah­me?« fragt Fras­co­lin.

»Ge­wiss, eine ul­tra­schot­ti­sche Gast­freund­schaft. Irre ich mich nicht, so steht vor mir das Kon­zert-Quar­tett, das in un­se­rem herr­li­chen Ame­ri­ka über­all be­rühmt ist, und ge­gen das letz­te­res mit sei­nem En­thu­si­as­mus nicht ge­geizt hat …«

»Ver­ehr­ter Herr«, glaubt Fras­co­lin hier ein­flech­ten zu müs­sen, »wir füh­len uns aufs höchs­te ge­schmei­chelt. Doch … die gast­li­che Auf­nah­me … wo könn­ten wir die durch Ihre Güte fin­den?«

»Zwei Mei­len von hier.«

»In ei­nem an­de­ren Dor­fe?«

»Nein … Nein, in ei­ner Stadt.«

»Ei­ner be­deu­ten­de­ren Stadt?…«

»Ge­wiss.«

»Er­lau­ben Sie, man hat uns ge­sagt, dass hier und vor San Die­go kei­ne Stadt lie­ge …«

»Ein Irr­tum … wirk­lich ein Irr­tum, den ich nicht zu er­klä­ren ver­mag.«

»Ein Irr­tum?…« wie­der­holt Fras­co­lin.

»Ja, mei­ne Her­ren, und wenn Sie mir nur fol­gen wol­len, ver­spre­che ich Ih­nen einen Empfang, wie er sich für solch her­vor­ra­gen­de Künst­ler ge­bührt.«

»Ich den­ke, das er­schie­ne an­nehm­bar«, ließ sich Yver­nes ver­neh­men.

»Ganz mei­ne An­sicht«, be­stä­tigt Pin­chi­nat.

»Halt, halt … noch einen Au­gen­blick«, ruft Pin­chi­nat; »nie­mals schnel­ler als der Lei­ter des Or­che­s­ters.«

»Das be­deu­tet?«… fragt der Ame­ri­ka­ner.

»Dass wir in San Die­go er­war­tet wer­den«, ant­wor­tet Fras­co­lin.

»In San Die­go«, fügt der Vio­lon­cel­list hin­zu, »wo die Stadt uns zu ei­ner Rei­he von mu­si­ka­li­schen Ma­tinées en­ga­giert hat, de­ren ers­te be­reits über­mor­gen Sonn­tag statt­fin­den soll.«

»Ah so!« ver­setzt der Frem­de mit dem Aus­druck der Ent­täu­schung.

Gleich dar­auf er­greift er je­doch wie­der das Wort:

»Nun, das tut nichts, mei­ne Her­ren«, setzt er hin­zu. »Bin­nen ei­nes Ta­ges wer­den Sie Zeit ge­nug ha­ben, eine Stadt zu se­hen, die des Be­su­ches wert ist, und ich ver­pflich­te mich, Sie bis zur nächs­ten Sta­ti­on zu­rück­zu­be­för­dern, so­dass Sie am Sonn­tag in San Die­go sein kön­nen.«

In der Tat, das Aner­bie­ten ist eben­so ver­füh­re­risch, wie un­ter den ge­ge­be­nen Um­stän­den will­kom­men. Das Quar­tett kann si­cher sein, in ei­nem gu­ten Ho­tel ein treff­li­ches Zim­mer zu fin­den, ohne von den wei­te­ren Vor­tei­len zu re­den, die sie von und durch die­sen zu­vor­kom­men­den Herrn er­war­ten dür­fen.

»Neh­men Sie mei­nen Vor­schlag an, mei­ne Her­ren?«

»Mit Ver­gnü­gen«, ver­si­chert jetzt Sé­bas­ti­en Zorn, den der Hun­ger und die Er­mü­dung be­stim­men, eine der­ar­ti­ge Ein­la­dung nicht ab­zu­wei­sen.

»Also ab­ge­macht!« er­wi­dert der Ame­ri­ka­ner. »Wir bre­chen so­fort auf, sind bin­nen zwan­zig Mi­nu­ten am Zie­le, und ich weiß, dass Sie mir da­für Dank wis­sen wer­den.«

Selbst­ver­ständ­lich hat­ten sich nach den Hur­ras, die der exe­ku­tier­ten Kat­zen­mu­sik folg­ten, die Fens­ter der Häu­ser so­gleich wie­der ge­schlos­sen. Die Lich­ter er­lo­schen und Fre­schal ver­fiel aufs neue in tie­fen Schlaf.

Von dem Ame­ri­ka­ner ge­führt, be­ge­ben sich die Mu­si­ker nach dem Krem­ser, brin­gen dar­auf ihre In­stru­men­te un­ter und neh­men im hin­te­ren Tei­le des Ge­fähr­tes Platz, wäh­rend sich ihr freund­li­che Füh­rer ganz vorn­hin ne­ben den Mecha­ni­ker setzt. Dann wird ein He­bel um­ge­legt, die elek­tri­schen Ak­ku­mu­la­to­ren tre­ten in Wir­kung, der Wa­gen rückt von der Stel­le und kommt sehr bald in ra­sche Be­we­gung nach Wes­ten hin­aus.

Nach ei­ner Vier­tel­stun­de leuch­tet ein aus­ge­brei­te­ter weiß­li­cher Schein auf, ein die Au­gen blen­den­des Durchein­an­der von leuch­ten­den Strah­len. Da liegt also eine Stadt, von de­ren Vor­han­den­sein un­se­re Pa­ri­ser gar kei­ne Ah­nung hat­ten.

Der Krem­ser hält an und Fras­co­lin sagt:

»Aha, da wä­ren wir ja an der Küs­te.«

»An der Küs­te … nein«, ent­geg­net der Ame­ri­ka­ner. »Das ist ein Strom, den wir zu über­schrei­ten ha­ben.«

»Doch auf wel­che Wei­se?« fragt Pin­chi­nat.

»Mit­tels der Fäh­re hier, die gleich un­se­ren Wa­gen auf­nimmt.«

In der Tat liegt vor ih­nen ei­nes der in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten so häu­fi­gen Fer­ry-boats, auf das der Wa­gen samt In­sas­sen hin­über­rollt. Ohne Zwei­fel wird die­ses Fer­ry-boat durch Elek­tri­zi­tät an­ge­trie­ben, denn es stößt kei­nen Dampf aus, und schon zwei Mi­nu­ten spä­ter legt es nach Über­schrei­tung des Was­sers an der Kai­mau­er ei­nes Bass­ins im Hin­ter­grun­de ei­nes Ha­fens an.

 

Der Krem­ser rollt nun durch über Land füh­ren­de Al­leen wei­ter und dringt in eine Park­an­la­ge ein, über die hoch oben an­ge­brach­te elek­tri­sche Lam­pen hel­les Licht aus­gie­ßen.

Am Git­ter die­ses Parks öff­net sich ein Tor, der Zu­gang zu ei­ner brei­ten und lan­gen, mit tö­nen­den Plat­ten be­leg­ten Stra­ße. Fünf Mi­nu­ten spä­ter stei­gen un­se­re Künst­ler am Vor­bau ei­nes ele­gan­ten Ho­tels aus, wo sie auf ein Wort des Ame­ri­ka­ners hin mit viel­ver­spre­chen­der Zu­vor­kom­men­heit emp­fan­gen wer­den. Man ge­lei­tet sie so­fort nach ei­ner lu­xu­ri­ös aus­ge­stat­te­ten Ta­fel, und sie neh­men – wie sich wohl vor­aus­set­zen lässt, mit bes­tem Ap­pe­tit – ein reich­li­ches Abendes­sen ein.

Nach Been­di­gung des­sel­ben führt sie der Ober­kell­ner nach ei­nem sehr ge­räu­mi­gen Zim­mer mit meh­re­ren Glühlam­pen, die durch nie­der­zu­las­sen­de Schir­me in mild leuch­ten­de Nacht­lam­pen ver­wan­delt wer­den kön­nen. Die Er­klä­rung al­ler die­ser Wun­der von dem kom­men­den Mor­gen er­war­tend, schlum­mern sie end­lich in den die vier Zim­me­r­e­cken ein­neh­men­den be­que­men Bet­ten ein und schnar­chen mit der au­ßer­ge­wöhn­li­chen Über­ein­stim­mung, der das Kon­zert-Quar­tett sei­nen künst­le­ri­schen Ruhm ver­dankt.

1 Fi­gur in der grie­chi­schen My­tho­lo­gie, der schö­ne und ewig ju­gend­li­che Lieb­ha­ber der Mond­göt­tin Se­le­ne <<<

2 Ge­stalt aus Schil­lers „Räu­bern“ <<<

3 Soh­len­gän­ger, Land­wir­bel­tie­re, die bei der Fort­be­we­gung die ge­sam­te Fuß­soh­le auf­set­zen, Bsp: Bä­ren oder Men­schen­af­fen <<<

4 Das Mot­to des Dart­mouth Col­le­ge ist „Vox Cla­man­tis in De­ser­to" („Ei­ne Stim­me ruft in der Wüs­te") Sinn­ge­mäß: Ein (ein­sa­mer) Ru­fer in der Wüs­te. <<<

Drittes Kapitel – Ein redseliger Cicerone

Am frü­hen Mor­gen, ge­gen sie­ben Uhr, er­schal­len nach täu­schen­der Nach­ah­mung des To­nes ei­ner Trom­pe­te – gleich dem ers­ten Si­gnal bei der Re­veil­le ei­nes Re­gi­ments – im ge­mein­schaft­li­chen Zim­mer fol­gen­de Wor­te oder rich­ti­ger Rufe:

»Al­lons! … Hopp! … Auf die Füße … und in zwei Tem­pos!« … wo­mit Pin­chi­nat den jun­gen Tag ein­lei­tet.

Yver­nes, das be­quems­te Mit­glied des Quar­tetts, hät­te ge­wiss drei, oder noch lie­ber vier, Tem­pos vor­ge­zo­gen, um sich aus den mol­li­gen Hül­len des Bet­tes zu schä­len. Doch auch er muss dem Bei­spie­le sei­ner Ka­me­ra­den fol­gen und die ho­ri­zon­ta­le Lage ge­gen die ver­ti­ka­le Hal­tung ver­tau­schen.

»Wir ha­ben kei­ne ein­zi­ge Mi­nu­te zu ver­lie­ren!« be­merkt Sei­ne Ho­heit.

»Frei­lich«, schließt Sé­bas­ti­en Zorn sich ihm an, »denn mor­gen müs­sen wir un­be­dingt in San Die­go sein.«

»Schon recht«, er­wi­dert Yver­nes, »ein hal­ber Tag wird ja aus­rei­chen, die Stadt un­se­res lie­bens­wür­di­gen Ame­ri­ka­ners zu be­su­chen.«

»Was mich ver­wun­dert«, lässt sich Fras­co­lin ver­neh­men, »ist, dass über­haupt eine so be­deu­ten­de Stadt in der Nähe von Fre­schal liegt! … Wie moch­te es nur kom­men, dass un­ser Kut­scher da­von kein Ster­bens­wört­chen ge­sagt hat?«

»Die Haupt­sa­che bleibt doch, dass wir hier sind, al­ter G-Schlüs­sel«, be­merkt Pin­chi­nat.

Durch zwei große Fens­ter dringt reich­li­ches Licht ins Zim­mer, das auf etwa eine Mei­le Län­ge Aus­sicht nach ei­ner schö­nen, mit dop­pel­ter Baum­rei­he ge­schmück­ten Stra­ße bie­tet.

Die vier Freun­de be­gin­nen nun in ei­nem be­hag­li­chen Ne­ben­rau­me ihre Toi­let­te, üb­ri­gens eine kur­ze und leich­te Ar­beit, denn al­les ist hier nach den neues­ten Ver­bes­se­run­gen ein­ge­rich­tet: Dreh­häh­ne für war­mes und kal­tes Was­ser zur be­lie­bi­gen Mi­schung, Wasch­ge­schir­re, die sich durch Ach­sen­dre­hung selbst­tä­tig ent­lee­ren, Fuß- und Hand­wär­mer, Zer­stäu­ber mit wohl­rie­chen­den Flüs­sig­kei­ten, die nach Be­lie­ben in Funk­ti­on tre­ten, durch den elek­tri­schen Strom be­weg­te Ven­ti­la­to­ren, me­cha­nisch be­weg­te Bürs­ten, so­dass man an die einen nur den Kopf, an die an­de­ren die Klei­dung oder die Stie­fel zu hal­ten braucht, um ers­te­re ge­rei­nigt, letz­te­re blank­ge­wischt zu be­kom­men.

Des wei­te­ren, ohne die elek­tri­sche Uhr und die elek­tri­schen Öl­fläsch­chen, die sich durch einen Fin­ger­druck nach Be­darf er­gie­ßen, zu rech­nen, set­zen Klin­gel­tas­ten oder Te­le­fo­ne die ver­schie­de­nen Tei­le der gan­zen An­la­ge mit dem Zim­mer in so­for­ti­ge Ver­bin­dung.

Und Sé­bas­ti­en Zorn nebst sei­nen Ka­me­ra­den kann von hier aus nicht al­lein mit dem Ho­tel spre­chen, son­dern auch mit den ver­schie­de­nen Tei­len der Stadt, ja viel­leicht gar – das ist we­nigs­tens Pin­chi­nats An­sicht – mit je­der be­lie­bi­gen Stadt der Ve­rei­nig­ten Staa­ten.

»Wenn nicht der bei­den Wel­ten«, setzt Yver­nes hin­zu.

In der Er­war­tung, sich hier­von noch spä­ter zu über­zeu­gen, lässt sich zwei Mi­nu­ten nach drei Vier­tel acht Uhr in eng­li­scher Spra­che fol­gen­de te­le­fo­ni­sche Mit­tei­lung ver­neh­men:

»Ca­lis­tus Mun­bar ent­bie­tet sei­nen Gu­ten Mor­gen al­len ver­ehr­li­chen Mit­glie­dern des Kon­zert-Quar­tetts und er­sucht sie, so­bald sie dazu fer­tig sind, her­un­ter zu kom­men, um im Di­ning-room des Ex­zel­si­or-Ho­tels das ers­te Früh­stück ein­zu­neh­men.«

»Ex­zel­si­or-Ho­tel!« rief Yver­nes. »Der Name die­ser Ka­ra­wan­se­rei1 klingt viel­ver­spre­chend!«

»Ca­lis­tus Mun­bar, das ist un­ser so un­ge­mein zu­vor­kom­men­der Ame­ri­ka­ner«, be­merkt Pin­chi­nat, »und der Name ist groß­ar­tig!«

»Lie­be Freun­de«, ruft der Vio­lon­cel­list, des­sen Ma­gen eben­so selbst­wil­lig ist wie sein Ei­gen­tü­mer, »da der Mor­ge­nim­biss auf­ge­tra­gen ist, wol­len wir früh­stücken, und nach­her …«

»Nach­her … spa­zie­ren wir durch die Stadt«, fällt Fras­co­lin ein. »Doch wel­che Stdt in al­ler Welt kann das sein?«

Nach­dem un­se­re Pa­ri­ser ihre Mor­gen­toi­let­te so ziem­lich vollen­det ha­ben, ant­wor­tet Pin­chi­nat te­le­fo­nisch, dass sie sich bin­nen fünf Mi­nu­ten die Ehre ge­ben wer­den, Herrn Ca­lis­tus Mun­bars Ein­la­dung nach­zu­kom­men.

Bald dar­auf be­ge­ben sie sich nach dem Per­so­nen­auf­zug, der sich so­fort in Be­we­gung setzt und sie in die mo­nu­men­ta­le Vor­hal­le des Ho­tels hin­un­ter­be­för­dert. An der Rück­sei­te des Flurs liegt die Tür nach dem Di­nin­groom, ei­nem großen, in rei­chem Gold­schmuck er­glän­zen­den Saa­le.

»Ganz zu Ihren Diens­ten, mei­ne Her­ren, ganz zu Ihrem Be­fehl!«

Der Herr vom vo­ri­gen Abend ist es, der die­sen Satz von zehn Wör­tern aus­spricht. Er ge­hört dem Ty­pus von Per­sön­lich­kei­ten an, von de­nen man sa­gen kann, dass sie sich gleich selbst vor­stel­len. Er­scheint es nicht, als ob man mit ih­nen schon lan­ge oder rich­ti­ger, schon »von je­her« be­kannt wäre?

»Ganz zu Ihren Diensten, meine Herren!«

Ca­lis­tus Mun­bar kann zwi­schen fünf­zig und sech­zig Jah­re zäh­len, sieht aber höchs­tens wie ein mitt­ler­er Vier­zi­ger aus. Er ist über mit­tel­groß, ziem­lich be­leibt und hat star­ke Glied­ma­ßen. Ge­sund und kräf­tig, zeigt er si­che­re Be­we­gun­gen – kurz, er »platzt« vor Ge­sund­heit, wenn die­ser Aus­druck er­laubt ist.

Dem Sé­bas­ti­en Zorn und sei­nen Kol­le­gen sind sol­che Leu­te – de­ren gibt es ja in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten nicht so we­ni­ge – schon oft in den Weg ge­lau­fen. Der ge­wal­ti­ge, ku­gel­run­de Kopf Ca­lis­tus Mun­bars strotzt von noch blon­dem, üp­pi­gem Haar, das auf- und ab­schwankt, wie Ba­um­laub un­ter dem Win­de; sein Teint ist recht frisch; der ziem­lich lan­ge, rot­gel­be Bart läuft in zwei Spit­zen aus; den Schnurr­bart hat er weg­ra­siert; der an den Lip­pen­win­keln et­was hin­auf­ge­zo­ge­ne Mund er­scheint lä­chelnd, so­gar scherz­haft; die Zäh­ne glei­chen blen­dend­weißem El­fen­bein; die an der Spit­ze et­was ver­dick­te Nase, mit leicht be­weg­li­chen Flü­geln und mit zwei lot­rech­ten Fal­ten un­ter der Stirn so­lid be­fes­tigt, trägt einen Klem­mer, der von ei­ner fei­nen, gleich ei­nem Sei­den­fa­den schmieg­sa­men sil­ber­nen Schnur ge­hal­ten wird. Hin­ter den Glä­sern des Klem­mers blitzt ein be­weg­li­ches Auge mit grün­li­cher Iris auf, de­ren Pu­pil­le wie von Koh­lenglut er­leuch­tet aus­sieht. Die­ser Kopf ist mit den Schul­tern durch einen wirk­li­chen Stier­nacken ver­bun­den und der Rumpf auf flei­schi­gen Ober-, nebst tüch­ti­gen Un­ter­schen­keln über et­was großen Fü­ßen auf­ge­baut.

Ca­lis­tus Mun­bar trägt ein wei­tes, ka­te­chu­far­be­nes Jacket von Dia­go­nal­stoff. Aus der Ta­sche an der Sei­te lugt der Zip­fel des Ta­schen­tuchs her­vor. Die stark aus­ge­schnit­te­ne Wes­te wird von drei gol­de­nen Knöp­fen ge­schlos­sen ge­hal­ten. Von ei­ner Ta­sche der­sel­ben zur an­de­ren hängt bo­gen­för­mig eine schwe­re Ket­te, die an dem einen Ende einen Chro­no­me­ter, am an­de­ren einen Pe­do­me­ter trägt, ohne die Bre­lo­ques, die in ih­rer Mit­te klim­pern und klir­ren. Die­ser Gold­schmuck wird noch ver­voll­stän­digt durch einen wah­ren Ro­sen­kranz von Rin­gen, wo­mit die vol­len, ro­sen­ro­ten Fin­ger ver­ziert sind. Das ta­del­los wei­ße, stei­fe und glanz­ge­plät­te­te Hemd lässt drei schö­ne Dia­man­ten se­hen und läuft in einen breit zu­rück­ge­schla­ge­nen Kra­gen aus, un­ter dem eine nicht recht zu be­zeich­nen­de Kra­wat­te, mehr nur ein braun­ro­ter Ga­lon, her­ab­hängt. Das Bein­kleid aus strei­fi­gem Stof­fe mit wei­ten Fal­ten ver­engt sich nur über den mit Alu­mi­ni­u­ma­graf­fen ge­schlos­se­nen Schu­hen.

Die Phy­sio­gno­mie2 die­ses Yan­kees ist im höchs­ten Maße aus­drucks­voll – die Phy­sio­gno­mie der Leu­te, die an nichts zwei­feln und »die noch ganz an­de­re Din­ge ge­se­hen ha­ben«, wie man zu sa­gen pflegt. Der bra­ve Mann weiß of­fen­bar, was er will, und ist oben­drein ener­gisch, was man an der Spann­kraft sei­ner Mus­keln und an der sicht­ba­ren Zu­sam­men­zie­hung sei­nes Kau­mus­kels er­kennt. End­lich lacht er gern, und das recht laut, doch mehr durch die Nase als durch den Mund, also in ei­ner Art Ki­chern, ei­nem hen­ni­tus, wie es die Phy­sio­lo­gen nen­nen.

Das ist die­ser Ca­lis­tus Mun­bar. Beim Ein­tritt des Quar­tetts lüf­tet er den breit­krem­pi­gen Hut, dem eine Fe­der à la Lud­wig XIII. nicht übel an­ge­stan­den hät­te. Er drückt den vier Künst­lern die Hän­de und führt sie dann nach ei­ner Ta­fel, wor­auf der Tee­kes­sel sie­det und der lan­des­üb­li­che Bra­ten dampft. Er spricht un­aus­ge­setzt und lässt über­haupt kei­ne Fra­ge auf­kom­men – viel­leicht um ei­ner Ant­wort aus­zu­wei­chen – in­dem er die Vor­zü­ge sei­ner Stadt her­vor­hebt, die wun­der­ba­re Grün­dung der­sel­ben rühmt, ohne Un­ter­lass in sei­nem Mo­no­lo­ge fort­fährt und die­sen nach Been­di­gung des Früh­stücks mit den Wor­ten schließt:

»Wol­len Sie mir nun freund­lichst fol­gen, mei­ne Her­ren! Doch eine War­nung …«

»Und die wäre?« fragt Fras­co­lin.

»Es ist hier strengs­tens ver­bo­ten, auf den Stra­ßen aus­zu­spu­cken.«

»Das ist un­se­re Ge­wohn­heit nie ge­we­sen«, pro­tes­tiert Yver­nes.

»De­sto bes­ser, so wer­den Sie vor Geld­stra­fen ge­si­chert sein.«

»In Ame­ri­ka … und nicht aus­spu­cken!« mur­melt Pin­chi­nat mit ei­nem Tone, in dem sich Über­ra­schung und Un­glau­ben ver­mi­schen.

Es wäre schwie­rig ge­we­sen, sich einen Füh­rer zu ver­schaf­fen, der gleich­zei­tig ein Er­klä­rer wie Ca­lis­tus Mun­bar ge­we­sen wäre. Er kennt die­se Stadt gründ­lichst. Hier gibt es kein Ho­tel, das er nicht zu nen­nen, kein Haus, von dem er nicht zu sa­gen wüss­te, wer es be­wohn­te, gibt es kei­nen Vor­über­kom­men­den, der ihn nicht freund­lich be­grüßt hät­te.

Die gan­ze Stadt ist sehr re­gel­mä­ßig an­ge­legt. Al­leen und Stra­ßen, letz­te­re auch mit Schutz­dach über den Trot­toirs, schnei­den sich, wie die Li­ni­en ei­nes Schach­bretts, in rech­ten Win­keln. Gleich­mä­ßig­keit be­herrscht den gan­zen geo­me­tri­schen Plan; doch auch an Ab­wechs­lung fehlt es nicht, denn die Häu­ser fol­gen, was Stil und äu­ße­res Aus­se­hen wie in­ne­re Ein­rich­tung be­trifft, kei­ner an­de­ren Re­gel, als der Fan­ta­sie der Archi­tek­ten. Mit Aus­nah­me ei­ni­ger, mehr dem Han­del die­nen­den Stra­ßen, bil­den die Häu­ser der üb­ri­gen mehr eine Art Pa­läs­te mit ih­ren von ele­gan­ten Ne­ben­ge­bäu­den be­grenz­ten Vor­hö­fen, dem ar­chi­tek­to­ni­schen Reich­tum ih­rer Fassa­den, mit der lu­xu­ri­ösen Aus­stat­tung der Wohn­räu­me und den Gär­ten oder rich­ti­ger den Parks, die zu je­dem Grund­stück ge­hö­ren. Im­mer­hin fällt es auf, dass die Bäu­me dar­in nir­gends ihre vol­le Ent­wick­lung er­reicht ha­ben. Das­sel­be gilt für die an den Durch­schnitts­stel­len der Haupt­ver­kehrs­adern aus­ge­spar­ten Squa­res, auf de­nen man zwar Ra­sen­flä­chen von ent­zücken­der Fri­sche fin­det, wäh­rend die Baum­grup­pen mit ih­rem Ge­misch von Ar­ten aus der ge­mä­ßig­ten und der hei­ßen Zone dem Erd­bo­den noch nicht ge­nug Nähr­stof­fe ab­ge­saugt zu ha­ben schei­nen. Gera­de die­se Ei­gen­tüm­lich­keit bil­det einen schar­fen Ge­gen­satz zu dem Tei­le des west­li­chen Ame­ri­ka, wo in der Nach­bar­schaft der großen ka­li­for­ni­schen Städ­te ge­ra­de­zu Rie­sen­wäl­der die Re­gel sind.

 

Das Quar­tett schlen­der­te so für sich hin, wo­bei sie das be­tref­fen­de Stadt­vier­tel je­der nach sei­ner Nei­gung in Au­gen­schein nah­men, Yver­nes an­ge­zo­gen von dem, was Fras­co­lin we­ni­ger in­ter­es­sier­te, Sé­bas­ti­en Zorn von dem, was Pin­chi­nat mehr gleich­gül­tig ließ … alle je­doch höchst be­gie­rig, das Ge­heim­nis zu durch­drin­gen, das die ih­nen un­be­kann­te Stadt um­hüll­te. Die Ver­schie­den­heit der An­schau­un­gen muss­te ge­ra­de eine Men­ge recht be­zeich­nen­der Beo­b­ach­tun­gen er­ge­ben. Üb­ri­gens ist ja auch Ca­lis­tus Mun­bar bei der Hand, der auf jede Fra­ge eine Ant­wort weiß. Doch was sa­gen wir … eine Ant­wort?… Er war­tet gar nicht ab, bis man ihn fragt, er spricht, plau­dert, er­klärt in ei­nem fort. Sei­ne Wör­ter­müh­le dreht sich schon beim lei­ses­ten Luft­hauch. Eine Vier­tel­stun­de nach dem Weg­gan­ge aus dem Ex­zel­si­or-Ho­tel sagt Ca­lis­tus Mun­bar:

»Wir be­fin­den uns jetzt in der Third Ave­nue, und de­ren hat die Stadt drei­ßig. Die­se hier, die an Ver­kaufs­lä­den reichs­te, bil­det un­se­ren Broad­way, un­se­re Re­gent-Street, un­se­re Gro­ße Fried­richs­s­tra­ße oder un­se­ren Bou­le­vard des Ita­li­ens. In ih­ren Ma­ga­zi­nen und Ba­za­ren fin­det man das Über­flüs­si­ge ne­ben dem Not­wen­di­gen, al­les, was für ver­fei­ner­tes Wohl­le­ben und mo­der­nen Kom­fort nur ir­gend ver­langt wer­den kann.«

»Wir befinden uns jetzt in der Third Avenue …«

»Die Ma­ga­zi­ne sehe ich wohl«, be­merkt Pin­chi­nat, »doch kei­ne Ein­käu­fer …«

»Vi­el­leicht ist es noch zu früh am Mor­gen …?« setzt Yver­nes hin­zu.

»Nein, das kommt da­her«, ant­wor­tet Ca­lis­tus Mun­bar, »dass die meis­ten Be­stel­lun­gen te­le­fo­nisch oder auch tel­au­to­gra­fisch er­fol­gen …«

»Tel­au­to­gra­fisch?… Was be­deu­tet das?« fragt Fras­co­lin.

»Das be­deu­tet, dass wir viel­fach den Tel­au­to­gra­fen be­nüt­zen, einen sinn­rei­chen Ap­pa­rat, der die Hand­schrift eben­so über­trägt, wie das Te­le­fon die Spra­che, ohne den Ki­ne­to­gra­fen zu ver­ges­sen, der alle Be­we­gun­gen nach­bil­det und für das Auge das­sel­be ist, was der Pho­no­graph für das Ohr ist – und end­lich das Te­le­fot, das je­des Bild wie­der­gibt. Der Tel­au­to­graf bie­tet eine weit grö­ße­re Si­cher­heit als die ein­fa­che De­pe­sche, mit der je­der Be­lie­bi­ge Miss­brauch trei­ben kann, des­halb kön­nen wir auf elek­tri­schem Wege Be­stel­lun­gen auf­ge­ben und Rech­nun­gen sen­den oder Ver­trä­ge schlie­ßen …«

»Auch Ehe­ver­trä­ge viel­leicht …«, un­ter­bricht ihn Pin­chi­nat iro­ni­schen To­nes.

»Ge­wiss, Herr Brat­schist. Wa­rum soll­te man sich nicht mit­tels elek­tri­schen Drah­tes ver­hei­ra­ten kön­nen …«

»Und auch wie­der schei­den?…«

»Auch wie­der schei­den! Das kommt so­gar noch häu­fi­ger vor!«

Der Ci­ce­ro­ne lacht dazu so un­bän­dig, dass alle Schmuck­ge­gen­stän­de an sei­ner Wes­te zit­tern und klir­ren.

»Sie sind recht lus­ti­ger Na­tur, Herr Mun­bar«, sagt Pin­chi­nat, der von der Hei­ter­keit des Ame­ri­ka­ners an­ge­steckt wird.

»Wa­rum nicht? Wie ein Schwarm Buch­fin­ken an ei­nem son­ni­gen Tage!«

Jetzt zeigt sich eine grö­ße­re Qu­er­stra­ße. Es ist die Neun­zehn­te Ave­nue, aus der je­der Han­dels­ver­kehr ver­bannt ist. Durch die­sel­be ver­lau­fen, wie durch die an­de­ren, zwei Tram­bahn­glei­se. Schnell rol­len die Wa­gen dar­über hin, ohne ein Körn­chen Staub auf­zu­wir­beln, denn die mit ei­nem un­ver­än­der­li­chen Be­lag von Kar­ry oder aus­tra­li­schem Jar­ra­holz – warum nicht von bra­si­lia­ni­schem Ma­ha­go­ni? – ver­se­he­ne Stra­ßen­flä­che ist so sau­ber, als hät­te man sie mit Schmir­gel­pa­pier ab­ge­rie­ben. Fras­co­lin, der alle phy­si­ka­li­schen Er­schei­nun­gen scharf be­ob­ach­tet, meint, dass sie un­ter den Fü­ßen fast einen me­tal­li­schen Klang hö­ren las­se.

»Das sind of­fen­bar groß­ar­ti­ge Ei­sen­in­dus­tri­el­le!« sagt er für sich. »Nun stel­len sie gar die Fahr­we­ge aus Ei­sen­guss her!«

Eben woll­te er sich bei Ca­lis­tus Mun­bar dar­über nä­her un­ter­rich­ten, als die­ser aus­rief:

»Se­hen Sie sich die­ses Ho­tel an, mei­ne Her­ren!«

Er zeigt da­bei nach ei­nem um­fäng­li­chen und groß­ar­ti­gen Bau­werk, des­sen Sei­ten­flü­gel, die einen Schmuck­hof be­gren­zen, durch ein Git­ter aus Alu­mi­ni­um ver­bun­den sind.

»Die­ses Ho­tel, man könn­te sa­gen, die­ser Palast wird von ei­ner der ers­ten Fa­mi­li­en der Stadt be­wohnt. Ich er­wähn­te Ih­nen be­reits Jem Tan­ker­don. Der Mann ist Ei­gen­tü­mer un­er­schöpf­li­cher Pe­tro­le­um­quel­len in Il­li­nois und der reichs­te und des­halb der ehr­bars­te und ver­ehr­tes­te un­se­rer Mit­bür­ger …«

»Mit ei­nem Ver­mö­gen von Mil­lio­nen?« fragt Sé­bas­ti­en Zorn.

»Pah!« stieß Ca­lis­tus Mun­bar her­vor. »Eine Mil­li­on ist für uns so viel wie ein Dol­lar, und de­ren gib­t’s hier Hun­der­te! In un­se­rer Stadt woh­nen man­che über­rei­che Na­bobs. Da­mit er­klärt es sich, dass die Kauf­leu­te in den Han­dels­vier­teln bald ein Ver­mö­gen ma­chen … ich mei­ne die De­tail­händ­ler, denn von Groß­händ­lern fin­det sich auf die­sem, in der Welt ein­zig da­ste­hen­den Mi­kro­kos­mos kein ein­zi­ger …«

»Aber In­dus­tri­el­le?« frag­te Pin­chi­nat wei­ter.

»In­dus­trie­trei­ben­de gibt es hier nicht!«

»So doch wohl Ree­der!«3 ließ sich Fras­co­lin ver­neh­men.

»Eben­so­we­nig!«

»Also lau­ter Ren­tiers!« sag­te dar­auf Sé­bas­ti­en Zorn.

»Nichts als Ren­tiers, ne­ben Kauf­leu­ten, die im bes­ten Zuge sind, sich eine schö­ne Ren­te an­zu­sam­meln.«

»Nun, aber Hand­wer­ker doch auch?« be­merk­te Yver­nes.

»Wenn man Hand­wer­ker braucht, lässt man sie von aus­wärts kom­men, und wenn die Leu­te fer­tig sind, keh­ren sie wie­der zu­rück … na­tür­lich mit ei­nem hüb­schen Bat­zen Geld in der Ta­sche.«

»Doch selbst­ver­ständ­lich, Herr Mun­bar«, sag­te Fras­co­lin, »ha­ben Sie auch ei­ni­ge Arme in Ih­rer Stadt, und wäre es nur, um die Ras­se nicht ganz aus­ster­ben zu las­sen.«

»Arme, mein Herr zwei­ter Gei­ger?… Von sol­chen wür­den Sie kei­nen ein­zi­gen ent­de­cken!«

»So ist das Bet­teln wohl strengs­tens ver­bo­ten?…«

»Zu ei­nem sol­chen Ver­bo­te fehl­te jede Ver­an­las­sung, da die Stadt Bett­lern gar nicht zu­gäng­lich ist. So et­was passt für die Städ­te der Uni­on mit ih­ren Stif­ten, Asy­len und Ar­beits­häu­sern … und mit den Bes­se­rungs­an­stal­ten, die jene ver­voll­stän­di­gen …«

»Wol­len Sie da­mit sa­gen, dass Sie kei­ne Ge­fäng­nis­se hät­ten?«

»So we­nig, wie wir Ge­fan­ge­ne ha­ben.«

»Doch min­des­tens Ver­bre­cher oder Übel­tä­ter?«

»Die­se er­su­chen wir, in der Al­ten oder der Neu­en Welt zu blei­ben, wo sie ih­rem Be­ru­fe un­ter güns­ti­ge­ren Um­stän­den ob­lie­gen kön­nen.«

»Wahr­haf­tig, Herr Mun­bar«, rief Sé­bas­ti­en Zorn, »Ihren Wor­ten nach wür­de man kaum glau­ben, sich in Ame­ri­ka zu be­fin­den.«

»Da wa­ren Sie noch ges­tern, Herr Vio­lon­cel­list«, ant­wor­tet die­ser merk­wür­di­ge Ci­ce­ro­ne.