El Niño de Hollywood

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Die Fulton Locos Salvatrucha, die Gang von El Veneno

Im San Fernando Valley, etwa vierzig Autominuten nördlich vom Stadtzentrum von Los Angeles, gibt es eine Straße. Sie ist keine Hauptstraße und auch nicht sehr lang. Auf beiden Seiten stehen meist billige Wohnhäuser, und von ihr gehen kleinere Nebenstraßen aus, die teils zu anderen Straßen führen, teils an einer Mauer enden. Die Straße heißt Fulton Street. Mitte der Achtzigerjahre wurden die Nebenstraßen von den salvadorianischen Banden kontrolliert. Was dort mit den jungen Salvadorianern passierte, sollte viele Jahre später für das Schicksal von Miguel Ángel Tobar auf den Kaffeeplantagen des ländlichen Atiquizaya entscheidend werden.

Zu jener Zeit waren die Siedlungen der Hispanos im San Fernando Valley bereits ein brodelnder Schmelztiegel. Angelockt von den niedrigen Preisen fern des Stadtzentrums, zogen Hunderte salvadorianischer Familien in die neue Gegend, darunter auch einige Bandenmitglieder, die im Zentrum gekämpft hatten. Andere beschlossen erst im Valley, sich der Mara Salvatrucha anzuschließen.

Hier zu leben bedeutete, ein paar Stufen auf der Statusleiter der illegalen Einwanderer aufzusteigen. Nur wer im Stadtzentrum zu Geld gekommen war, konnte ins Valley ziehen, und die Reichsten konnten sich sogar ein Haus mit Hinterhof leisten. Einige machten einen Stand auf einem der Flohmärkte, den berühmten swap meets, auf. Dort verkauften sie Schmuggelware, geklaute Artikel und T-Shirts mit kleinen Fehlern, die in den Vergnügungsparks der Universal Studios in Hollywood nicht verkauft werden konnten, weil sie den Anforderungen nicht genügten.

Die Salvadorianer aus dem Valley gehörten, wenn man so will, der Mittelschicht an. Natürlich im Rahmen der miserablen Lebensumstände der Migranten jener Jahre. Die Jugendlichen gründeten ihre eigenen Gangs. Nur dass sie im Gegensatz zu den wilden Stonern weder Leichen auf Friedhöfen ausgruben noch Die Bestie verehrten. Sie gründeten low rider-Clubs und nannten sich Mini Toy, die Abkürzung für Mini Toyota. Bei diesen Autos handelte es sich um Statussymbole und Prestigeobjekte, wahre mobile Werbeflächen. Je tiefer der Wagen lag und je auffälliger er war, umso höher war das Prestige des Besitzers und des Fahrers.

Die Mitglieder jener Gangs erinnern sich an das cruising als einen wahren Karnevalszug bunt lackierter, getunter Autos, an deren Steuer dunkelhäutige Fahrer saßen. Es war, als befände man sich im Videoclip von »La Raza« des Rappers Kid Frost.

Die Mehrheit von ihnen waren Mexikaner oder chicanos, doch die Salvadorianer hatten sich inzwischen einen Platz in der Szene erkämpft. Ihre Autos waren vielleicht nicht so auffällig, aber sie griffen zu anderen Methoden. Die Mini Toy und ähnliche car gangs der Salvadorianer fingen an, die anderen Gangs zu bekämpfen. In Windeseile verabschiedeten sie sich von Knüppeln, Ketten, Macheten und Äxten. Die bunten Lackierungen der Autos hatten nichts mit Gewalt zu tun, aber jene vom System vergessenen Jungen versuchten mit allen Mitteln, einen Konflikt herbeizuführen, ihrem Leben einen Sinn zu geben: die anderen zu hassen. Und nicht nur das: sie zu bekämpfen. Es war die einzige Lebensform, die sie kannten.

Es ist nicht ganz klar, wie eine car gang zu einer mächtigen Zelle der MS-13 werden konnte. Bekannt ist, dass einige Mitglieder aus der Hollywood Gang und aus irgendwelchen Verbindungen zwischen Mitgliedern beider Gruppen kamen. Doch ein konkretes Datum oder einen genauen Moment gibt es nicht. Die MS-13 tauchte irgendwann als Idee im San Fernando Valley auf. Die Mini Toy streiften sich das T-Shirt der MS-13 über, ohne diese Bande richtig zu kennen. Sie nahmen ein Gerücht auf, einen Kriegsschrei, eine fremde Fahne, die aber aussah, als wäre es ihre eigene, und ließen sie im Valley wehen.

Ende 1985 geriet der Krieg in El Salvador ins Stocken. Die Guerilleros des FMLN griffen die Armee bei jeder ihrer Bewegungen an. Mit brutaler Gewalt stürmten sie die größten Kasernen, ohne sich jedoch einen entscheidenden Vorteil in dem militärisch-politischen Konflikt verschaffen zu können. Seit Kriegsausbruch waren fast sechs Jahre vergangen. Es herrschte allgemeine Erschöpfung, und dieser Zustand ließ den Strom salvadorianischer Migranten nach Kalifornien noch weiter anschwellen. Immer häufiger kamen Deserteure beider Seiten in die dortige salvadorianische Gemeinschaft, Männer und Frauen, deren Leben von Gewalt geprägt war, sei es, dass sie sie selbst ausgeübt, sei es, dass sie sie erlitten hatten.

Einer jener Deserteure war ein junger Mann Anfang zwanzig, ein ehemaliges Mitglied der Nationalgarde aus Atiquizaya im Westen El Salvadors. An seiner Adlernase und seinen tief liegenden, schwarzen Augen erkannte man in ihm einen Nachkommen der 1932 ermordeten Ureinwohner. Sein Name war José Antonio Terán. Im Valley nannte man ihn El Veneno (»Das Gift«) und im Westen El Salvadors, Jahre später, Chepe Furia.

Als das ehemalige Mitglied der Nationalgarde ins San Fernando Valley kam, war die Mara Salvatrucha 13 bereits Teil des Systems El Sur, auch wenn sie noch nicht die Bedeutung von Gangs wie der Pacoima Flats oder der gefürchteten, als Pacas bekannten Pacoimas 13 hatte. Der erste Krieg, in den sich die neueste Zelle der MS-13 von Los Angeles verwickelt sah, war der gegen eine Gruppe des Barrio 18 namens North Side. Die Gefechte fanden in der Gegend um die Fulton Street statt. Ihr erbitterter Kampf um diesen Abschnitt des Valleys erregte im kriminellen Milieu der Gegend Aufsehen. Die ehemaligen Krieger und Flüchtlinge wussten wirklich, wie man kämpfte. Das sollte wenig später überdeutlich werden.

Ein ehemaliges salvadorianisches Bandenmitglied namens Fuentes wurde auf die neuen Gruppen aufmerksam. Es gab da einen starken Zweig der Mareros im Valley. Fuentes selbst hatte die tödlichen Kämpfe um kleine Abschnitte der Stadt gegen ein anderes Leben eingetauscht. Jetzt dealte er mit Crack und Kokain. Also schlug er den salvadorianischen Gangs ein neues Geschäft vor: den Verkauf von Drogen.

Doch es gab ein Problem. Damit die Gang der Fulton Street für Fuentes Drogen verkaufen konnte, musste zuerst eine andere beseitigt werden, die in diesem Gebiet das Monopol für den Drogenhandel hatte. Und so kam es, dass die Bande Tijuana Locos ausgelöscht wurde. Sie war eine rein mexikanische Bande des Sur. Ihr Lebensunterhalt war gleichzeitig ihr Verderben: Die Tijuana Locos verbrauchten einen Großteil des Cracks und des Kokains selbst. Dann gaben sie Fuentes weniger Geld, oder sie gaben ihm einfach gar keins.

Fuentes bot den Mareros aus dem Valley dieses Geschäft an. Er hatte gesehen, wie sie verprügelt wurden, wenn man sie beim Drogenkonsum erwischte, und das gefiel ihm.

Nach wenigen Monaten waren die Mitglieder der Tijuana Locos beseitigt. Einer an dieser Straßenecke, ein anderer in jener Seitengasse. Einer nach dem anderen. Die neue Zelle oder Gruppe der Mara Salvatrucha 13 wurde zu einer der respektiertesten Gangs im San Fernando Valley. Die anderen Banden kannten bereits ihren Namen: Fulton Locos Salvatrucha.

Der Große Krieg

Es geschah 1989 auf dem King Boulevard. In einer Seitengasse hinter einer Reihe von Wohnhäusern. Auf einer Party von Banden des Systems El Sur.

Die Mara Salvatrucha 13 war gewachsen. Sie hatte Kaliforniens Erde mit Blut getränkt, mit Sur-Blut. Die Auseinandersetzungen mit den anderen Banden waren brutal gewesen. Die Drifters hatten sich mit den salvadorianischen homeboys von der Western angelegt, die Crazy Riders 13 hatten die junge Gang von der Leeward über die Klinge springen lassen, die Playboy 13 hatten die von der Berendos abgestochen: die MS-13 wurde an allen Fronten angegriffen. Sie hatte bereits mehrere ihrer Mitglieder beerdigt. Nach Black Sabbath waren noch mehr hinzugekommen. Viel mehr.

An jenem Tag im Jahre 1989 nahmen sowohl Mareros als auch 18er an der Party auf dem King Boulevard teil.

»Es gab da ein Problem wegen einem Jungen, der früher bei der MS gewesen war und jetzt als 18er zu der Party kam. Pony nannten wir ihn. Er hatte uns um Erlaubnis gebeten, unsere Gang verlassen zu dürfen, und wir haben sie ihm gegeben. Er sagte, seine Mutter sei krank. Aber das war gelogen, er war ausgetreten, um zum Barrio 18 überzulaufen. Auf der Party haben wir ihm gesagt, dass bei einem Austritt dasselbe Ritual galt wie beim Eintritt in die Gang: 13 Sekunden [Prügel]«, erzählt Zarco Jahrzehnte später. Ein wenig verwirrt starrt er auf den Plastiktisch eines McDonald’s in San Salvador. Er vertraut seinem Gedächtnis nicht so ganz. Der Aufenthalt in kalifornischen Gefängnissen und die Abschiebung in ein ihm unbekanntes El Salvador haben mit seinen Erinnerungen das gemacht, was ein Hurrikan mit den Dächern macht.

Einige Mitglieder seiner Gang, der Western Locos Salvatrucha, waren auch dort, sagt er. Als Boxer, einer vom Barrio 18, sah, wie sein neuer homeboy verprügelt wurde, verlangte er einen one on one, etwas Heiliges im Kodex des Sur, einen Kampf zwischen zwei Bandenmitgliedern, vergleichbar dem Duell des europäischen Adels im 19. Jahrhundert. Etwas, dem man sich nicht entziehen kann, wenn einem seine Ehre und sein guter Name etwas bedeuten. Zarco erinnert sich daran, dass Boxer sehr kräftig war. Einer von der MS-13 stand auf, Popeye, einer der Jüngsten der Gang, ein dunkelhäutiger Junge mit langen Haaren, noch im Stil der Stoner. David gegen Goliath. Boxer schlug hart zu. Popeye auch. Unentschieden. Danach wollte ein weiterer 18er einen Zweikampf, und jemand musste die Ehre einer Bande retten, die seit Jahrzehnten in Kalifornien zu Hause war. Also stand El Soldado von der MS-13 auf, ein ehemaliges Mitglied der salvadorianischen Armee. Er gewann.

 

Wütend über ihre Niederlage, zogen sich die Mitglieder des Barrio 18 zurück. Sie kamen mit einer automatischen Waffe wieder, aber auf der Party war nur noch Shaggy von der MS-13. Sie schossen ihm in die Beine, und er verblutete. So ist es laut Zarco passiert. So erinnert er sich daran.

Sicher ist, dass jene Schüsse in den darauffolgenden Jahrzehnten das Leben und den Tod Tausender junger Männer in den Vereinigten Staaten und in ganz Mittelamerika bestimmen sollten.

Jener Streit sollte auch das Leben eines Jungen bestimmen, der zum damaligen Zeitpunkt gerade einmal sechs Jahre alt war und auf einer Kaffeeplantage im Westen El Salvadors lebte: El Niño de Hollywood.

FÜNFTES KAPITEL
Der Blick eines Mörders

Es ist der 2. Januar 2012. Inspektor Gil Pineda bemüht sich, in seinem Büro in El Refugio im salvadorianischen Westen nicht zu zerfließen, während er mit zwei Fingern auf seinem alten Computer herumtippt. In El Salvador ist es reine Formsache, den Winter Winter und den Sommer Sommer zu nennen. Es gibt Regen mit Hitze und Hitze ohne Regen. Zurzeit ist Hitze ohne Regen an der Reihe.

Der Inspektor ist ein Polizist mit mehr als fünfzehn Jahren Berufserfahrung. Er ist um die fünfundvierzig und besitzt jene reife Entschlossenheit, die die Jahre einem verleihen, bevor das Alter sie verkümmern lässt. Ein Mann wie er deutet einen Faustschlag nur an, indem er die halb geschlossene Faust ein wenig hin und her bewegt, ohne alle Finger zur Faust zu ballen. Aber man kann sich gut vorstellen, wie es gekracht hat, wenn er zuschlug. Ein Mann wie er lacht leise in sich hinein, nie schallend laut. Ein Mann wie er erzählt die unwahrscheinlichsten Dinge, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne alles zu sagen. »Ich verstehe nicht, warum Gerichtsbeschlüsse so wichtig sind. Ich erlebe Kollegen, die verzweifelt einen Richter suchen, der einen Durchsuchungsbeschluss unterschreibt. Ich fasse jeden Morgen den Beschluss, mir die Schuhe zuzubinden. Das ist wichtig für mich«, sagte er einmal und hob seinen rechten Fuß, um zu zeigen, dass sein Schuh perfekt geschnürt war. Er ist nicht groß. Er ist nicht klein. Er hat einen dichten schwarzen Schnurrbart. Er pflegt einen Kamm in der Hosentasche zu haben und sein Haar sorgfältig zu scheiteln. Die obersten zwei Knöpfe seines Hemds sind nicht zugeknöpft. Er war Leiter der Mordkommission in La Libertad, einem der konfliktreichsten Departments El Salvadors mit einer starken Präsenz der MS-13. Er war Mitglied des Geheimdienstes in den Gefängnissen, den großen Kontrollzentren der Banden. Er trägt ein goldenes Armband und eine goldene Halskette. Er riecht nach Kölnischwasser. Seine Beretta 9mm steckt in einer schwarzen Pistolentasche am Gürtel.

Der Inspektor ist jemand, der mehr als nur seine Arbeit macht. Er sperrt nicht nur ein und setzt nicht nur die Verfügungen der Staatsanwaltschaft um. Ihm gefällt seine Arbeit. Er ist gerührt, wenn er es schafft, dass jemand seine Bande verrät und ihre Geheimnisse preisgibt. Nachdem er die Denunzianten mit Schlägen zur Mitarbeit überredet hat, gibt er ihnen Geld aus seiner eigenen Tasche, wenn der Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Einmal sprach er über El Crimen, ein Mitglied der MS-13 mit tätowiertem Gesicht. Er hat ihn persönlich zu einem Informanten der Sonderkommission zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens gemacht. Wie ihm das gelungen ist? »Ich musste ihn nur eine halbe Stunde verprügeln«, antwortete der Inspektor seelenruhig, während er im El Camerón Cervecero, einem Restaurant am Hafen von La Libertad, Bier trank und kleine Fischchen, pescadetas, mit Zitrone und Salz aß.

Er ist ein harter Hund, der, wie fast jeder aus seiner Einheit, hin und wieder das Gesetz missachtet, um das zu erreichen, was er als sein wichtigstes Ziel betrachtet: die Zerschlagung der Banden.

Er ist besessen von der Frage, wie es den Banden gelingt, die Jugendlichen zu rekrutieren, und darum macht er Fotos von ihren Augen, wenn sie anfangen, und später, wenn er glaubt, dass sie getötet haben. Er ist davon überzeugt, dass sich ihr Blick verändert. »Siehst du«, sagt er, als er seine Fotosammlung zeigt, »schau dir den Blick an, wie seine Augen danach zur Seite oder nach oben oder unten sehen. Wie ein Tier, das kurz davor ist, sich auf seine Beute zu stürzen. Oder von oben herab, wie um sie zu provozieren.« Wie ein Tier, das auf der Lauer liegt. Wie ein tyrannischer König.

»In meinem Leben werde ich wohl an die hundert Mörder verhaftet haben«, sagte der Inspektor später bei einem Gespräch in der Kantine, während er gegrilltes Hähnchen isst. »Die meisten davon waren Mitglieder irgendeiner Bande. Ich weiß, wenn ein Junge bereits getötet hat. Man sieht es daran, wie er lauernd um sich blickt, wenn er Schutzgeld kassiert. Sein Blick ist … Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Vorher sind die Brauen gerade, und der Blick ist ganz normal, wie der eines normalen Menschen, nicht wie bei jemandem, der immer auf der Lauer liegt. Danach wird sein Blick düster, und er zieht die Augenbrauen mehr nach unten, und dort bleiben sie. Ich mache Fotos von den lauernden Tierchen, und danach, wenn sie getötet haben. Siehst du? Ihr Blick verändert sich. El Niño hab ich nie normal blicken sehen. Seit ich ihn kenne, hat er den Blick eines Mörders.«

Wir schreiben also den 2. Januar 2012. Der Inspektor erledigt das, was er am wenigsten mag: Papierkram. Berichte schreiben, Power-Point-Präsentationen anfertigen, damit seine Vorgesetzten oder die Staatsanwälte (aus seiner Sicht alles Bürohengste) die Struktur der MS-13 verstehen, die er in den letzten zweieinhalb Jahren untersucht hat.

Die Polizeidienststelle, in der er tippt, verdient die Bezeichnung »Dienststelle« nicht. Es ist ein Kabuff mit Ziegeldach und nackten Backsteinwänden, auf denen nur ein paar Kleckse weißer, mit Wasser verdünnter Farbe zu sehen sind. In dem Raum stehen drei Schreibtische, die aussehen, als wären sie vom Sperrmüll, und nur auf einem steht ein alter Computer mit seinem ausladenden, lärmenden Hinterteil und einer Tastatur, auf der einige Buchstaben unleserlich sind. Im hinteren Teil befindet sich eine praktisch unbenutzbare Toilette. Um nachzuspülen, muss man kleine Plastikeimerchen mit Wasser füllen und sie über der schwarz verkrusteten Schüssel ausgießen.

Es gibt nur eine Sache, die der Inspektor gerne am Computer erledigt. Er hat Spaß daran, die Strukturen der Banden zu analysieren. Er sammelt die Fotos der Mitglieder und ordnet sie nach ihrem Rang in der Hierarchie der jeweiligen Gang. Wenn er sie zeigt, tut er das mit der Begeisterung eines Jungen, der sein Sticker-Album der Fußballweltmeisterschaft oder von Baseballspielern herzeigt.

»Das ist El Extraño«, sagt er und deutet auf das Foto eines dunkelhäutigen, fetten Mannes. José Guillermo Solito Escobar, El Extraño (»Der Fremde«). Dreißig Jahre alt, Zweiter in der Hierarchie der Hollywood Locos Salvatrucha. Soeben aus dem Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe wegen schwerer Körperverletzung verbüßt hat.

»Das ist Liro Jocker«, sagt der Inspektor und zeigt auf einen stämmigen weißen Mann mit kahlem Schädel, den Prototyp eines Bandenmitglieds. Jorge Alberto González Navarrete. »Liro« ist das Ergebnis einer Lautverschiebung von »little« zu »liro«. Er ist ein Mann von dreißig Jahren mit vielen Totenkopf-Tattoos. Dritter in der Hierarchie der Hollywood Locos Salvatrucha. Im Juni 2009 aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen, nachdem er eine Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung verbüßt hatte. Laut Karteikarte gehörte er in Maryland einer anderen Gang der MS-13 an und war als Baby Yorker bekannt. El Niño sollte ihn eines Tages so beschreiben: »Ein altes Arschloch, ein Killer.«

»Das ist El Maniático«, sagt der Inspektor und deutet auf einen schlanken Mann mit Adlernase und zugeknöpftem Hemd. Ein Durchschnittsbürger, bei dem niemand die Straßenseite wechseln würde. Fredy Crespín Morán, El Maniático (»Der Besessene«). Achtunddreißig Jahre alt, von Beruf Elektriker, Schatzmeister der Hollywood Locos Salvatrucha und Sozialarbeiter in der Gemeinde Atiquizaya, die von der rechtsgerichteten Partei ARENA regiert wird.

»Und das hier, das ist der Eichelkönig. Das ist Chepe Furia«, sagt der Inspektor und zeigt auf das Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes mit den unverkennbar indigenen Gesichtszügen. José Antonio Terán, ein Mann von sechsundvierzig Jahren, Gründer und Wortführer der Gang Hollywood Locos Salvatrucha von Atiquizaya, ehemaliges Mitglied der Fulton Locos Salvatrucha im San Fernando Valley, damals besser bekannt als El Veneno. In den ersten Jahren des Bürgerkriegs Mitglied der gefürchteten Polícia Nacional, der Militärpolizei El Salvadors. Chepe Furia floh jung vor dem Krieg, in dem er selbst gekämpft hatte. Jahre später kehrte er in sein Land zurück, als er bereits die Buchstaben auf dem Körper trug, mit denen er sich identifizierte: MS.

All diese Männer wurden dank der von Inspektor Pineda geleiteten Ermittlungen verhaftet und erwarten nun einen Prozess wegen illegaler Bandenbildung und wegen Mordes an Rambito, einem Informanten der Polizei.

Samuel Menjívar Trejo, genannt Rambito, ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, Gemüsehändler auf dem Markt von Atiquizaya. Rambito war ein »Kandidat«, ein Anwärter bei den Hollywood Locos Salvatrucha, aber 2008 fing er an, mit der Polizei, das heißt, mit Inspektor Pineda, zusammenzuarbeiten. Er hat ihm geholfen, sein Fotoalbum zu vervollständigen, hat ihm gesagt, wer wer war auf der untersten Stufe der Gang.

An einem Mittag im November 2009 befahlen zwei Cabos der untergeordneten Polizeidienststelle von Atiquizaya ihren Kollegen von der Streife, zum Markt zu fahren und Rambito aufs Revier zu bringen. Die Beamten kamen der Anweisung ihrer Vorgesetzten nach. Sie fuhren zum Markt und setzten Rambito vor den Augen der übrigen Händler in den Streifenwagen. Die Cabos José Wilfredo Tejada Castaneda, Mitglied der Mordkommission, und Walter Misael Hernández Hernández, Ermittler für Erpressung und Leiter der Drogenabteilung von Ahuachapán, warteten auf der Polizeidienststelle von Atiquizaya auf Rambito und nahmen ihn dann in ihrem Dienstwagen mit, weigerten sich aber, das Protokoll zu unterschreiben, um ihr Vorgehen zu dokumentieren. Der diensthabende Beamte war gezwungen, das Formular eigenhändig auszufüllen und diesen unüblichen Vorgang schriftlich festzuhalten.

Die Cabos brachten Rambito weder zum Markt noch zur Polizeidienststelle zurück. Am selben Nachmittag wurde Rambito gesehen, wie er zwei Stricke kaufte, einen blauen und einen grünen, in einen Pick-up stieg und auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Am Steuer des Wagens saß Chepe Furia. Hinten saßen Liro Jocker und El Extraño.

Noch am selben Tag fand man Rambito in der Siedlung Talpetate im Osten des Landes, 190 Kilometer von Atiquizaya entfernt, in einem Straßengraben neben der Fahrbahn. Seine Leiche wies Folterspuren und mehrere Einschusslöcher im Kopf und im Oberkörper auf. Bei der Autopsie fanden sich Schmauchspuren an der linken Wange. Man hatte ihn aus einer Entfernung von weniger als 50 Zentimetern erschossen. Er war an den Händen mit einem grünen und an den Füßen mit einem blauen Strick gefesselt.

Dies überzeugte den Inspektor schließlich davon, dass man, wollte man gegen die Hollywood Locos Salvatrucha ermitteln, Atiquizaya verlassen musste, die Stadt oder, besser gesagt, das Dorf, in dem sich die untergeordnete Dienststelle befindet. Der Inspektor beschloss, sein gesamtes Ermittlerteam in dieses Kabuff der Dienststelle der Gemeinde El Refugio zu verfrachten, wenige Kilometer von Atiquizaya entfernt, inmitten von Kaffeeplantagen.

Die PowerPoint-Präsentation, die der Inspektor mir auf seinem prähistorischen Computer zeigt, enthält Fotos von mehr als vierzig Mitgliedern der Hollywood Locos Salvatrucha. Es ist unmöglich, dass Rambito, ein einfacher Kandidat der Gang, in der Lage war, den Fotos die Namen all dieser Bandenmitglieder zuzuordnen. Es ist unmöglich, dass ein Bauer im Schachspiel der Bande in der Lage war, die Geheimnisse des Königs zu verraten. Rambito war ein Informant, der das wenige lieferte, das er wusste. Deswegen hatte die Polizei ihn nie in das staatliche Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Er war ein unbedeutender Maulwurf.

»Wir haben einen Zeugen«, sagt der Inspektor, um das Rätsel zu lösen, und weist mit den Augen und einer Kopfbewegung auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Einen aus der Gang. Den Killer, dem Chepe Furia vertraut hat.«

 

Auf die Frage hin, ob es möglich sei, mit diesem Zeugen zu sprechen, zögert der Inspektor ein paar Sekunden. Ernster Gesichtsausdruck. Er vertieft sich in den Papierkram, der vor ihm liegt, als würde er etwas Bestimmtes suchen. Dann ruft er Cabo Pozo und gibt ihm den Befehl:

»Cabo, bring El Niño her!«


Ende 2009. In einem ärmlichen Vorort von Atiquizaya sitzt ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren gegen die Innenseite der Tür seiner Baracke gelehnt und raucht seinen fünften Stein Crack. Die Tür kann mit einem Eisenriegel verschlossen werden, der im Moment aber nicht vorgelegt ist. Die Tür steht einen Spaltbreit offen. Der junge Mann macht einen erschöpften Eindruck. Es ist kein guter Moment seines Lebens. Zu viele Probleme gehen ihm durch den Kopf. Er nimmt einen tiefen Zug. Plötzlich hört er, dass die Tür knarrend geöffnet wird. Er hält den Rauch zurück. Er hört das Klicken einer Pistole. Der junge Mann umklammert seine .40er mit der einen und seine .357er mit der anderen Hand.

»He, ganz ruhig! Ich seh ja, dass du bewaffnet bist«, sagt der Besucher, der seine 9mm mit beiden Händen hält.

Der junge Mann erkennt die gelassene Stimme. Sie gehört Cabo Pozo von der Polizeidienststelle El Refugio.

»Und high bin ich auch«, erwidert der junge Mann.

»Ich will nur mit dir reden.«

»Ich bin völlig stoned.«

»Arschloch! Meinst du, wir können trotzdem reden?«

Cabo Pozo hält den Atem an und beschließt, es zu riskieren. Er schießt nicht, als er sieht, dass der junge Mann von seinem Stuhl aufsteht und sich zu ihm umdreht, in jeder Hand eine Pistole. Ohne den Cabo aus den Augen zu lassen, geht der junge Mann an ihm vorbei nach draußen. Er springt auf die Ladefläche des Pick-ups des Cabo, immer noch mit seinen Pistolen in den Händen, und sagt: »Los, fahren wir.« Cabo Pozo steckt seine Waffe weg, steigt ein und fährt mit klopfendem Herzen durch die wenig befahrenen Straßen zu seiner Dienststelle. Hinter ihm auf der Ladefläche sitzt ein bewaffneter Killer der Gang Hollywood Locos Salvatrucha.

Cabo Pozo hat endlich erreicht, dass sich ein hochrangiges Mitglied der von Chepe Furia gegründeten Gang bereit erklärt, mit der Polizei zu sprechen, um ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden: El Niño, der von den Mitgliedern seiner eigenen Bande verfolgt wird.

Cabo Pozo ist ein beleibter Mann, der, wie die meisten einfachen Polizisten und Cabos, in einer Siedlung wohnt, die von einer der Banden kontrolliert wird. Tagsüber ist Cabo Pozo eine Autorität, nachts schläft er unter der Kontrolle der Mara Salvatrucha 13. So nah beieinander liegen Staat und Banden in diesem winzigen Land. Tatsächlich sind die Banden in einigen Vororten, Gemeinden und Siedlungen der eigentliche Staat. Cabo Pozo war von Inspektor Pineda auserkoren worden, El Niño zur Zusammenarbeit zu bewegen. Dafür, dass er sich auf staubigen Straßen herumtreibt, um einen Killer der MS zu belagern, verdient Cabo Pozo 604,96 Dollar monatlich. Der Inspektor hatte weitere Cabos und Ermittler eingesetzt, um den Willen auch anderer Bandenmitglieder mittleren Ranges zu brechen, aber keiner von denen befand sich in einer so heiklen Lage wie El Niño. Denn er hatte zu dieser Zeit Probleme mit anderen Killern. In seiner Gang war schon viel Blut geflossen.

El Niño hat keine Angst, der Polizei gegenüberzutreten. Es wäre nicht das erste Mal. Wenn er nicht genau wüsste, dass er sich in einer Sackgasse befindet, hätte er einen Rückzieher gemacht, und Cabo Pozo wäre nicht hier.

Wie der Inspektor später einmal im Restaurant La Ola Beto’s in der Hauptstadt sagen sollte, während er ein mar y tierra (Meeresfrüchte und Steaks) aß: »El Niño kann sehr gut schießen. Fast immer, wenn er getötet hat, hat er dem Opfer in den Kopf geschossen.« Und er hat oft getötet, wie der Polizist weiß. El Niño taucht im Zusammenhang mit dreißig Tötungsdelikten in verschiedenen Berichten der Polizei und der Staatsanwalt auf. An neunzehn Morden war El Niño direkt beteiligt. Er hat erhängt, erstochen, erschossen: getötet. Bei elf weiteren hat er Schmiere gestanden, während andere töteten, oder die Waffe besorgt oder den Mord befohlen. Der Inspektor räumt freimütig ein, dass die Behörden nur ein paar Morde, an denen El Niño beteiligt war, dokumentiert haben, nur die jüngsten.

Nicht zum ersten Mal versucht das Ermittlerteam des Inspektors, El Niño zur Zusammenarbeit zu bewegen. Dem Inspektor gelingt es immer wieder, Zwietracht zu säen und Kronzeugen zu ernten. Mehrmals hat er Gefangenen damit gedroht, sie in Feindesland zu schicken, um herauszufinden, ob sie, wie sie behaupten, tatsächlich keiner Bande angehören. Manchmal hat er die Jüngsten unter ihnen mit seinem Handy gefilmt, als sie ihre Zugehörigkeit zur MS-13 bestritten oder in Momenten der Schwäche während der Verhöre weinten. Danach droht er ihnen, die Videos an andere Bandenmitglieder zu schicken. So erhält er Informationen, Namen, Aufgabenverteilungen. Dank seiner unorthodoxen Methoden ist es ihm innerhalb nur eines Jahres gelungen, sein Puzzle mit den Gesichtern der Gang zu vervollständigen. Seit Ende 2009 hat er sich einen nach dem anderen vorgeknöpft, um an El Niño, »seinen« Verräter, heranzukommen. Doch erst als dieser verdächtigt wurde, am Mord eines sechzehnjährigen Mädchens namens Wendy beteiligt gewesen zu sein, konnte er den Kontakt zu dem Bandenmitglied aus dem unmittelbaren Umfeld des Veteranen Chepe Furia herstellen. Er wies Cabo Pozo an, alle Register zu ziehen, um El Niño zum Reden zu bringen. Das Angebot, das der Cabo dem jungen Mann machte, war unmissverständlich: Entweder du gibst uns Informationen über sie, oder wir kriegen dich wegen aller Morde der Gang dran. Dieses Angebot hatte der Cabo El Niño bereits mehrmals gemacht, wenn er ihm auf den Straßen von Atiquizaya begegnet war und eine Verhaftung vorgetäuscht hatte, um mit ihm reden zu können.

Einmal ließ Cabo Pozo El Niño von einer aus sieben Soldaten und zwei Polizisten bestehenden Streife verhaften. Dann ging er zu ihm.

»Willst du mich fertigmachen? Heute bin ich nämlich unbewaffnet«, schrie El Niño ihn an.

Der Cabo zeigte sich verständnisvoll und sagte, dass er ihm helfen wolle, aber um das tun zu können, müsse El Niño ihm helfen. Da er wusste, dass diese naive Taktik bei einem Killer mit so viel Erfahrung nicht funktionieren würde, deutete Pozo an, dass El Niño am Ende für Morde zur Verantwortung gezogen werden könne, an denen er vielleicht gar nicht beteilig gewesen sei. Insbesondere für einen, bei dem er nur Schmiere gestanden habe: den an einem sechzehnjährigen Mädchen namens Wendy. El Niño konnte sich aus der Affäre ziehen, indem er einige seiner Karten auf den Tisch legte und damit zeigte, dass er über viele Informationen verfügte.

»Also, was ist? Wenn du mir helfen willst, dann hilf. Wenn nicht, dann verprügele mich jetzt gleich oder mach mit mir, was du willst … Aber dann wirst du nichts von Eliús Nägeln erfahren, vom Mord an der Hure, vom Mord an dem Polizisten im Puff. Oder wer Wilman aus dem zweiten Stock geworfen hat, oder das mit den Motorradtaxifahrern, denen man die Rübe abgeschlagen hat, oder das mit der Frau von Moncho Garrapata«, sagte El Niño.

Nach jenem Gespräch war El Niño für ein paar Wochen verschwunden. Als Cabo Pozo ihn wieder ausfindig machte, startete er einen letzten Versuch. Der Inspektor wusste nichts von den Problemen, die der Killer mit der Bestie hatte. Sein Plan war ganz einfach: Er wollte ihn wegen des Mordes an Wendy vor Gericht bringen und dann im Prozess versuchen, ihn wegen weiterer Morde dranzukriegen. Man würde ihm mit einer jahrelangen Haftstrafe drohen. Doch diese Strategie hatte bei El Niño noch nie funktioniert.

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