Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen

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Bei all dieser Plackerei hatte die Kartoffelernte auch ihre schönen Seiten. Da waren zum einen die Mahlzeiten, die wir auf dem Feld einnahmen. Dazu wurde Kartoffelkraut ausgebreitet und Säcke draufgelegt. Auf ihnen lagerten wir uns. Als die „Giwwelstante“ uns dann ein Stück Brot und Wurst zuteilte, das wir mit Genuss verzehrten, war das wie eine Erlösung. Manchmal gab es auch eine Suppe, die sie auf geheimnisvolle Weise warmgehalten hatte. Zum Trinken bekamen wir heißen Kräutertee aus der Thermosflasche, der mitunter mit Honig gesüßt war.

Sehr schön war es auch, wenn nach der Ernte das Kartoffelkraut zu Haufen zusammengerecht und angezündet wurde. Noch heute sehe ich die brennenden Kartoffelfeuer vor mir und rieche diesen einmaligen, herben Duft. Waren die Feuer herabgebrannt, rösteten wir in der Glut unter der Asche Kartoffeln, die wir noch auf dem Feld gefunden hatten. Sie schmeckten wunderbar, auch wenn Asche und verbrannte Erde daran hafteten. Nicht selten haben wir uns die Lippen und den Gaumen verbrannt, weil wir es gar nicht abwarten konnten, die heißen, duftenden Leckerbissen zu verschlingen.

Dämpfkolonne

Eine große Kartoffelaktion fand im Dezember statt, wenn die Knollen unter heißem Dampf gegart und für die Silage vorbereitet wurden. Dazu kam die „Dämpfkolonne“. Zu ihr gehörten ein großer beheizbarer Dampfkessel mit einem Schornstein und bis zu sechs verschließbare große Kessel, die mit Kartoffeln gefüllt wurden. Waren alle Kessel vollgefüllt, wurde ein verschließbarer Deckel daraufgeschraubt. Ein dicker Schlauch verband die einzelnen Kessel mit dem Dampfkessel. Sie wurden dann unter heißen Dampf gesetzt, um die Kartoffeln zu garen. Um einen Überdruck zu vermeiden, waren Ventile an den Kesseln, aus denen gelegentlich zischend heißer Dampf entwich.

Nach etwa einer halben Stunde waren die Kartoffeln gar, und der Dampf wurde unter lautem Zischen vorsichtig aus den Kesseln abgelassen. Danach wurden die Deckel abgenommen und die Kessel wurden ins Silo gebracht. Der Transport dieser etwa zehn Zentner schweren Kessel erfolgte auf einem speziell dafür konstruierten Gefährt, das nur aus großen Eisenrädern und stabilen eisernen Halterungen bestand, die unter dicke Bolzen an der Seite der Kessel angesetzt wurden. Eine lange Führungsdeichsel, die von zwei Männern bedient wurde, hatte eine so große Hebelwirkung, dass die Kessel angehoben, ins Silo gefahren und dort ausgekippt werden konnten. Manches Mal funktionierte das aber nicht so reibungslos und der Kessel knallte auf den Boden, wobei die obere Kartoffelschicht herausgeworfen wurde. Manchmal kippte aber auch der gesamte Kessel beim Anheben um, und ein Berg heißer Kartoffeln lag auf der Straße. Sie wurden mit Schaufeln auf Schubkarren geladen und ins Silo gekippt.

Das war der Augenblick für uns Kinder. Wir fischten uns eine Kartoffel, schälten sie und aßen sie auf, leider – wieder – oft zu gierig, sodass wir uns Mund, Schlund und Magen verbrannten. Bald hatten wir aber begriffen, dass wir erst heftig blasen mussten, um eine erträgliche Temperatur zu erreichen. Aus Schaden wird man eben klug. Die Kolonne stand häufig zwischen zwei Bauernhöfen auf der Straße und beide Bauern dämpften an einem Tag. Das bedeutete für uns eine lange Zeit mit heißen Kartoffeln, die uns bei Frost auch zum Wärmen der Hände dienten. Die Kartoffeln im Silo wurden mit einer Plane abgedeckt, darauf folgte bald eine dicke Schicht Erde. Unter dieser Abdeckung fingen die Kartoffeln an zu gären und wurden dadurch haltbar. Im Winter stachen die Bauern mit einem Spaten diese Silokartoffeln ab und verwendeten sie als Schweinefutter.

Im Dorf gab’s nur eine Dreschmaschine

Im Dorf gab es eine Dreschmaschine, die vermutlich der Raiffeisen-Genossenschaft gehörte. Die Bauern mieteten diese Maschine. Sie wurde nach einem vorher festgelegten Plan auf die Bauernhöfe gebracht und dort aufgestellt. Die Dreschmaschine wurde mit Starkstrom betrieben. Die Kraftübertragung erfolgte mittels Transmissionsriemen. Sie wurde von oben mit den Getreidegarben beschickt und warf auf der Vorderseite schwere Strohbündel aus, während hinten in angeklemmten Jutesäcken die Getreidekörner aufgefangen wurden. War ein Sack voll, wurde der Auslauf mit einem Schieber geschlossen und ein neuer Sack angeklemmt. Es hingen immer drei oder vier Säcke gleichzeitig an der Maschine.

Ein voller Sack wurde auf einen Aufzug gestellt und damit so hochgezogen, dass die Träger ihn leichter schultern konnten. Für die Sackträger war das eine schwere Arbeit. Sie nahmen den offenen Sack auf den Rücken, trugen ihn drei Treppen hoch bis zum Getreideboden unter dem Dach des Wohnhauses, kippten ihn dort aus und gingen wieder zur Maschine, um den nächsten zu holen. Diese Arbeit leisteten sie stundenlang. Als ich erstmals Säcke auf den Speicher trug, war ich fünfzehn Jahre alt. Wir wohnten zu dieser Zeit nicht mehr bei Giebels, halfen aber dennoch bei der Ernte mit. Dafür erhielten wir einen halben oder ganzen Sack Getreide,

Das Dreschen war für die Familien im Dorf eine freudige Angelegenheit, wurde dabei doch ein Teil des Ertrages ihrer Jahresarbeit offenbar. Damit man die Maschine nicht zu lange mieten musste, halfen auch Verwandte und Nachbarn beim Dreschen mit. Die Frauen kochten zu Mittag einen kräftigen Eintopf und die Männer bekamen einen Schnaps – manchmal auch zwei. Wenn abends die Maschine weggebracht und Hof und Scheune aufgeräumt waren, gab es noch ein gutes Abendessen, ein Bier und einen Schnaps. Man blieb noch eine Weile beisammen und erzählte sich vom Verlauf des Tages. Dabei wurde auch gelacht.

Gab es neben dem Getreide noch andere Körnerfrüchte zu dreschen, wie Hirse und Linsen, so wurden getrockneten Pflanzen mit ihren Früchten auf dem Boden der Scheune ausgelegt und mit Dreschflegeln gedroschen. Die Flegel bestanden aus einem Stiel, an dessen oberen Ende mit einem Lederband ein flaches Holz von etwa 60 cm Länge angebracht war, dem Schlegel. Mit ihm schlugen drei Männer auf die trockenen Pflanzen auf dem Boden ein uns lösten so die Körner aus ihrer Umhüllung. Für mich war es faszinierend anzusehen, wie die Männer diese Arbeit in stets gleichbleibendem Takt erledigten.

Otto, der Imker

Noch interessanter aber war die Imkerei, die Otto betrieb. Er hatte ca. zwölf Bienenstöcke, die in einem Schuppen im Garten aufgestellt waren. Otto erklärte uns, dass die verschiedenen Farben den Bienen die Orientierung gaben, immer zu ihrem Volk zurückzufinden. Er zeigte uns auch, wie sich die Bienen mit Tänzen gegenseitig informierten, wenn sie mit kleinen Klümpchen Pollen an den Hinterbeinen von der Nahrungssuche zurückkehrten. Wir konnten zusehen, wie der Imker im Frühjahr vorgefertigte Rähmchen mit Waben in die Kästen hängte, die er im Herbst voll mit Honig wieder herausnahm. Otto entfernte zunächst die kleinen Wachsdeckel von den Waben. Danach spannte er die Rahmen in eine Zentrifuge. Zunächst vorsichtig und dann immer schneller schleudert er die Rahmen, sodass der Honig aus den Waben herauslief und sich in einem Gefäß sammelte. Danach wurde dieses flüssige Gold in Gläser mit Deckeln umgefüllt und verschlossen. Die Rahmen mit den Waben wurden danach wieder in die Bienenkästen eingehängt. Im Winter erhielten die Bienen Zuckerwasser als Nahrung.

Wir staunten sehr, dass Otto diese Arbeiten ganz ohne Schutz durchführte, wussten wir doch, wie weh Bienenstiche taten. Er erklärte uns aber, dass die Bienen nicht stechen, solange man sie nicht reizt. Bei manchen Gelegenheiten zog er sich doch einen großen Hut mit Netz über und rauchte eine große qualmende Pfeife aus Blech. Das geschah meistens, wenn eine neue Königin herangewachsen war und ein Volk sich teilte. Die kleinere Hälfte der Bienen eines Stockes folgte der ausfliegenden jungen Königin, die sich auf einem Ast niederließ, wo sie von den sie umschwärmenden Drohnen befruchtet wurde. Um diese neue Königin sammelten sich die mit ihr ausgeschwärmten Arbeitsbienen.

So entstand ein neues Bienenvolk. Der Imker wusste schon bald, wann ein Volk geschwärmt war. Er zog sich dann die erwähnte Schutzkleidung an, hielt einen Behälter unter das neue Volk, das wie ein großer summender Klumpen von dem Ast herunterhing, und schüttelte es dort hinein. Danach wurde es in einen vorbereiteten neuen Bienenkasten getan, der seinen Platz neben oder auf dem schon vorhandenen fand.

Wie die Arnolds lebten

Die Familie Arnolds hatte es mit ihrer kleinbäuerlichen Existenz nicht leicht. Sparsamkeit gehörte zu ihren obersten Grundsätzen und auch die Einstellung, dass jedes Familienmitglied etwas zum Unterhalt beitragen musste. Dies war umso wichtiger, als Herr Arnold, „Giwwels Unkel“, im Krieg einen Kehlkopfdurchschuss erhalten hatte und nicht mehr voll arbeitsfähig war. Man hatte ihm zwar eine neue Speiseröhre eingesetzt, aber er hatte große Schwierigkeiten beim Schlucken. Die Geräusche, die er dabei machte, waren für uns anfangs sehr befremdlich. Später gewöhnten wir uns daran. Weil er ein gutmeinender Mensch war und uns Kinder gern hatte, fühlten wir uns auch zu ihm hingezogen.

Die Lebensweise der Familie war sehr nüchtern und karg. Ihr protestantischer Glaube trug, wie ich vermute, zusätzlich dazu bei, dass größere Lebensfreude nicht aufkam. Frau Arnold führte ihren Haushalt mit größter Sparsamkeit. Jede Verschwendung war ihr ein Graus. Das Essen war einfach. Fleisch gab es meistens nur am Sonntag. Im Frühjahr und im Herbst schlachteten sie ein Schwein. Das Fleisch wurde zum großen Teil zu Dauerwurst verarbeitet, eingemacht oder geräuchert. Mit diesen Vorräten wurde ihr Fleischbedarf im Wesentlichen gedeckt. Daneben schlachteten sie auch einige ältere Hühner und junge Hähne. Die Legehennen sorgten für Eier.

Ich erinnere mich gut, dass die Hausfrau zu ihren Gemüse- und Kartoffelsuppen manches Mal ein Stückchen Dauerwurst „röre Worscht“ (rote Wurst) als Fleischbeilage gab. Die Hausherrin backte alle 14 Tage bis drei Wochen zehn bis fünfzehn Laibe Roggenbrot. Sie wurden im gemeindeeigenen Backhaus gebacken und auf Brettern in der Speisekammer gelagert. Auf einem flachen Raum über dem Backofen trockneten die Bauern im Herbst auf Blechen Apfel- und Birnenschnitzel und Zwetschen. Sie waren für uns Kinder, die leicht in diesen flachen Raum gelangen konnten, eine ständige Versuchung. Frau Arnold machte auch eigenen Handkäse aus Quark, den sie aus der Milch ihrer Kühe gewann. Er wurde in der Speisekammer ebenfalls auf Brettern gelagert, bis er „durch“ war. Das dauerte etwa drei Wochen. Oft kam dieser Käse aber schon früher auf den Tisch. Er war dann in der Mitte noch weiß und krümelig. So mochte ich ihn nicht, wenn er aber „reif“ war, aß ich ihn gern.

 

Alles Gemüse, das Obst und die Kartoffeln stammten aus eigener Produktion, auch die Eier. Das Mehl bekam man aus dem Roggen, der in der Mühle in Rennertehausen gemahlen wurde. Die groben Teile, den Schrot, benutzte man als Schweinefutter. Für den Kuchen erhielten sie vom Müller im Tausch Weizenmehl. Aus dem Laden holte sich die Bauern damals nur die Sachen, die sie nicht selbst erzeugen konnten, wie Salz, Zucker, Zimt, Rosinen, Pfeffer, Öl, Schnittkäse etc. Auf dieser Weise lebten die meisten Kleinbauern in dem Ort. Frische Wurst oder Käse wurden nicht gekauft Auch in unserer Familie war das zum großen Teil so. Geld war bei ihnen wie bei uns immer knapp.

Frau Arnold hatte ein Spinnrad und spann damit Schafwolle zu Garn. Sie strickte daraus selbst wollene Leibchen, Strümpfe und Handschuhe. Die Tochter Frieda beteiligte sich daran. Im Winter trafen sich die heiratsfähigen Mädchen und junge Frauen zur „Spinnstube“. Ich berichte davon in anderen Zusammenhang. Otto betrieb neben seiner Imkerei auch noch einen Fahrradhandel. Er verkaufte Räder der Marke „Panther“ und brachte auf diese Weise ein wenig Geld ins Haus. Bei der üblichen Produktionsweise der Kleinbauern, überwiegend Selbstversorgungswirtschaft, war der Geldmangel ein ständiger Begleiter des Lebens.

Die „Giwwelstante“ erzählte uns Kindern Geschichten, die mit Magie, „bösem Blick“ und Gespenstern zu tun hatten. Sie versetzte uns Kinder in Unruhe. An die Möglichkeit, dass bestimmte Menschen die Fähigkeit hatten, anderen aus der Entfernung Schaden zuzufügen, glaubte sie fest. So habe ein böser Bauer (Hexer) eine Speiche eines seiner Wagenräder mit einer Axt durchgehauen, und im selben Moment habe sich ein Mann, dem er schaden wollte, das Bein gebrochen. Eine böse Frau habe durch einen Zauberspruch eine ihrer Kühe verhext, die danach keine Milch mehr gab – oder nur noch verdorbene Milch. Da sie gerade ein Kälbchen hatte, musste dieses mit der Flasche aufgezogen werden. Eine schwangere Frau habe eine Nachbarin durch den „bösen Blick“ so erschreckt, dass diese ihr Kind verloren habe. Eine andere, die gern ein Kind wollte, sei durch einen bösen Blick unfruchtbar geworden. Durch den Blick einer bösen Frau können Krankheiten ausgelöst werden etc … Diese Geschichten erschreckten uns Kinder zwar, aber nicht allzu sehr, da sie sich nicht auf uns bezogen.

Die weiße Frau und der Wirrwahn

Anders war das aber mit der „Weißen Frau“, die sich beim Mondschein um Mitternacht im Hohlweg nicht weit von Giebels Haus herumtreibe und alle, die vorbeikamen, in Angst und Schrecken versetze. Wir empfanden ein heftiges Gruseln, als wir uns in der nächsten Vollmondnacht dem Hohlweg näherten, der tagsüber unser beliebter Spielplatz war. Angestrengt spähten wir den Weg hinauf. Je länger wir das taten, desto deutlicher sahen wir die Weiße Frau, die wie ein Schemen durch die Luft schwebte, verschwand und wieder auftauchte, solange, wie wir nicht aufhörten, dorthin zu starren. Schließlich drehten wir uns um und sahen in die andere Richtung. Der Spuk war vorbei. Er tauchte auch nicht wieder auf, als wir noch einmal in den Hohlweg zurückblickten. Also gingen wir nach Hause. Eine gewisse Angst vor diesem Gespenst verfolgte uns aber in den hellen Nächten noch lange.

Die Roggenmuhme, die faule und liederliche junge Leute, die sich in den Kornfeldern liebten, tötet, gehörte ebenfalls zum Instrumentarium des Schreckens der guten „Tante“. Am größten war die Angst, die uns die Geschichtenerzählerin mit ihrem Bericht vom „Mann unter der Kellertreppe“ einflößte. In einem Haus im Nachbardorf habe sich ein Mann unter einer Kellertreppe versteckt, eine junge Frau, die in dem Keller ging, überfallen und ihr „Schaden angetan“. Danach habe er ihr die Kehle durchgeschnitten und sei verschwunden. Man müsse davon ausgehen, dass sich der Mörder immer noch in der Gegend herumtreibe und sich andere Opfer suche. Damit hatte mir die gute Frau eine große Angst vor dunklen Kellertreppen eingejagt. Vermutlich hat sie uns das erzählt, damit wir nicht ohne Erlaubnis in ihrem Keller herumtrieben, wo ein Teil ihrer Vorräte lagerte. Noch Jahre danach hatte ich ein klammes Gefühl, wenn ich in unseren Keller gehen musste, um etwas zu holen. Mein lieber Bruder wusste um diese Angst und hat mich später fast zu Tode erschreckt. Heute kann ich mir gut vorstellen, dass die „Giwwelstante“ mit dem Mann unter der Kellertreppe verhindern wollte, dass wir uns unbefugt in ihrem Keller herumtrieben und dort eventuell etwas klauten.

Eine weitere Schreckensgestalt unserer Kinderjahre war der „Wirrwahn“. Er habe in unserer Gegend schon einige Morde begangen und halte sich immer noch dort versteckt. Er verberge sich in Höhlen, Feldscheunen aber auch in Schäferkarren. Ein solcher stand immer in der Nähe unseres Dorfes und diente dem Schäfer als Unterkunft. Wir Kinder trieben uns häufig am Waldrand herum und beobachteten misstrauisch den Schäferkarren. Der „Wirrwahn“ ließ sich nicht blicken. Wenn aber am Horizont, nur undeutlich sichtbar, ein Mann vorbeiging, dann war uns klar, das musste der Mörder sein. Wir rannten nach Hause und erzählten, was wir gesehen hatten. Aber die Erwachsenen schienen sich für unsere Kriminalgeschichten nicht zu interessieren. Nur einer machte eine Ausnahme, Otto. Er hatte für Kriminalgeschichten sehr viel übrig. Regelmäßig las er „Tom Brox“- und „Jerry Cotton“-Hefte. In langen Reihen lagerten sie in seinem Zimmer. Vielleicht ist er wegen dieser Leidenschaft Junggeselle geblieben, wer weiß? Wenn wir bei ihm waren, erzählte er uns von den Abenteuern seiner Helden und freute sich, wenn sie wieder einen Bösewicht erledigt hatten. Es war ihm, als hätte er selbst deren Taten vollbracht und ihre Abenteuer erlebt.

29 Alle erwachsenen Frauen wurden von Kindern als Tante angesprochen, die Männer als Onkel (Unkel).

Wir bauen ein Haus

Ungarersiedlung

Nachdem Vater nach Berghofen gekommen war, hat er mit anderen Männern im Wald gearbeitet. Ab 1948 fand er Arbeit als Hilfsarbeiter bei einem Maurer in Allendorf. Später dann, vermutlich ab 1951, arbeitete er auf dem „Auhammer“, einer Eisengießerei, etwa sieben Kilometer von Berghofen entfernt. Bis Mitte/Ende der Fünfzigerjahre fuhr er mit dem Fahrrad zur Arbeit, danach mit einem Moped. Alle anderen vertriebenen Männer waren immer vor dem Vater da, sagte die Mutter. Er habe immer die schlechteste Arbeit und den schlechtesten Lohn bekommen. Das hat sie ihm ein Leben lang vorgehalten. Dennoch bauten sich unsere Eltern 1954/55 in Berghofen ihr erstes eigenes Haus und konnten 1955 dort einziehen.

Fünf andere Familien aus Perbál hatten vor uns schon ihr Haus in der „Ungarer-Siedlung“ gebaut. Der ältere Bruder meiner Mutter, Hans, hatte sogar schon vor 1952 ein kleines Haus gebaut, auf einem kleinen Eckgrundstück neben der Dreschhalle. Ein Bauplatz in der Siedlung war noch frei, der letzte in der Marburger Straße, am äußersten Rand des Dorfes, der wurde unserer. Dort bauten wir 1954/55 unser Haus. Wir haben unseren Bauplatz für 50 Pfg. pro m2 bekommen. Aus dem Lastenausgleich haben wir etwa 12000 D-Mark erhalten und dazu noch ein Landesbaudarlehen etwa in der gleichen Höhe aufgenommen. Beim Hausbau halfen alle Männer zusammen, die Verwandten und teilweise auch die Nachbarn. Nur ihre Eigenleistungen und die „Nachbarschaftshilfe“ machten es möglich, dass die ungarndeutschen Familien schon gut fünf Jahre nach ihrer Vertreibung mit ihren geringen Mitteln anfangen konnten, eigene Häuser zu bauen. Es war selbstverständlich, dass wir Kinder beim Bauen helfen mussten. Ich hatte dabei einen schlechten Start. Als sich die Familie und die Nachbarn zum ersten Spatenstich zusammenfanden, war ich nicht dabei. Ich hatte mich unten am Fluss, der Eder, herumgetrieben und verpasste die kleine Zeremonie. Als ich endlich auftauchte, war schon alles vorbei. Vorwurfsvoll sahen mich die anderen an. Ich weiß nicht mehr was geredet wurde, vielleicht folgendes: „Jetzt machen wir den ersten Spatenstich und der Bankert treibt sich in der Gegend herum, schämen solltest du dich.“ Ich schämte mich.

Nur einer wurde anfangs bei unserem Bau bezahlt: Schlotter Hans. Er war der Maurer beim Bau unseres ersten Hauses, ein Bekannter meines Vaters, der auch aus Perbál vertrieben worden war. Ein gelernter Maurer war er, aber unsere Mutter beobachtete ihn mit Argwohn, weil er gern einen trank. Das tat er, aber nicht bei der Arbeit. Alle zwei Stunden eine Flasche Bier, mehr nicht. Er war ein guter und schneller Arbeiter, der sein Handwerk verstand.

„Handlanger, Speis!“

Neben meinem Vater oder einem anderen Helfer war ich sein Handlanger, d. h. ich musste ihm Material, das er brauchte, herbeischaffen. Die großen Hohlblocksteine waren mir zu schwer, ich war zwölf Jahre alt, aber beim Mörtel anrühren konnte ich schon helfen: Sieben Schaufeln Sand, eine Schaufel Kalk, eine Schaufel Zement, gut vermischen, dann Wasser dazu und so lange umschaufeln, bis der Mörtel, die Speis, schön geschmeidig war. Dann kam von oben auch schon der Ruf: „Handlanger, Speis!“ Der Mörtel wurde in einen „Vogel“ gefüllt, einen etwa 50 cm langen, eckigen Behälter aus Blech, der auf der Schulter die Leiter hochgetragen und in den Maurerkübel gekippt wurde. Wenn ich dran war, wurde der Vogel nur halb gefüllt. Ihn auf die Schulter zu heben, half mir ein Erwachsener, aber nach oben tragen musste ich ihn selbst. Mann, war der schwer. Der Maurer Hans stand oben und grinste wohlwollend, und wie zur Ermunterung rief er wieder: „Handlanger, Speis!“ Mit weichen Knien kämpfte ich mich von Stufe zu Stufe nach oben. „Hört denn diese elendige Leiter nie auf?“ Doch dann: Geschafft! Hans nahm mir den Vogel von der Schulter und leerte ihn in seinen Maurerkübel. Vielleicht wollte er verhindern, dass ich die wertvolle Speis vor lauter Schwäche auf die Gerüstbretter kippte. Zum Hans durften wir Kinder Du sagen. Er legte keinen Wert auf die sonst übliche Anrede für Erwachsene: „Ihr“ (Eijs). Als ich ihm den ersten (halben) Vogel mühsam, aber sicher nach oben gebracht hatte, lobte er mich. Das machte mich stolz. Dann bot er mir sogar einen Schluck Bier aus seiner Flasche an. Den lehnte ich aber ab. Bier schmeckte mir nicht, es war mir zu bitter. Die „Vogelei“ ging so weiter. Nach einer Woche war es mir schon leichter, obwohl ich einen ziemlichen Muskelkater in den Beinen hatte.

Schlotter Hans

In den Pausen saßen wir zusammen, und Hans erzählte Geschichten aus seinem Leben. Viele davon hatten mit „Weibern“ zu tun. Der Ausdruck war nicht pejorativ gemeint. Das Wort „Frau“ wurde in unserem Dialekt nur zur Bezeichnung einer „Dame“ benutzt. Unsere Männer hatten Weiber (Wäwe). Mit einer sei er einmal im hohen Gras auf einer Wiese gewesen, ihr wisst schon, zwinkerte er seinen Helfern zu. Ja, und dann sei das Malheur passiert. Wie sie gerade schön herzig miteinander wurden, habe das Madel angefangen, zu schreien und wild um sich zu schlagen. „Ja, was ist denn passiert, um Gottes Willen?“ „Siehst du‘s denn nicht?“ „Dann sah ich‘s. Von oben bis unten waren auf ihrer nackten Haut lauter kleine rote Ameisen. Ihr kennt sie, ihre Bisse brennen höllisch.“ Mit solchen und ähnlichen Geschichten unterhielt er uns in den Pausen. Dass da ein Zwölfjähriger dabei war, genierte ihn nicht. Einmal sagte er – gespielt traurig – am Ende einer solchen Pause. „Ja, ja, die Pfaffen haben es gut.“ Stille, wir sahen ihn gespannt an. „Ja, ja, die Pfaffen haben es gut.“ Stille. „Warum denn, Hans?“, fragte ich ungeduldig. „Die Pfaffen haben alle sechs Monate eine neue Haushälterin, und ich muss immer in die gleiche Tasche stecken.“ Der zweite Erwachsene nickte zustimmend. Ich verstand zwar in etwa schon, worum es ging, aber so richtig verstanden habe ich ihn damals noch nicht. Der Hans wurde keiner von meinen größeren Helden, aber ich fand ihn sehr gut. Mich Zwölfjährigen nahm er ernst und behandelte mich nicht wie ein Kind. Die Art, wie er mit mir umging, machte es, dass ich ihn sehr gern hatte. Er war so ganz anders als unser Vater, fröhlich und umgänglich, nicht so streng und distanziert. Einen Vater wie ihn wünschte ich mir. Die Frage, ob er zu Hause bei seiner Frau und seiner Tochter genau so war, habe ich mir damals nicht gestellt. Später erhielten die Zimmerleute, der Dachdecker und die Installateure ihre Aufträge Fenster mussten wir natürlich kaufen. Als Bauherr war unser Vater schlauer als die anderen. Er legte schon eine Drainage unter das Fundament und befestigte die Dachziegel mit Drahtklammern. Später zahlte sich das aus. Bei dem Hurrikan 1957 flogen bei den anderen die halben Dächer weg. Bei uns nur einige Ziegel.

 

Obwohl unsere Mutter ihn im Vergleich mit den anderen Männern ständig als Nachzügler kritisierte, hat er seine Familie ernährt und zwei Häuser in Deutschland gebaut. Darauf war er zu Recht stolz. Von den schlesischen Flüchtlingen im Dorf hat damals keiner ein Haus gebaut.


Der stolze Haubesitzer, etwa 1965

Wein und Schnaps

In beiden Häusern, die er in Deutschland baute, hatte unser Vater im Keller einen Platz, wo er Wein machte und Schnaps brannte. Im Grunde konnte er aus allen Früchten Wein zubereiten, sogar aus Getreide. In einem großen Tonbottich setzte er eine Maische an. Sie wurde mit einer Weinpresse abgepresst und als Most in große bauchige Flaschen gefüllt. Der Gummistopfen darauf hatte ein Loch, in dem ein entsprechend gebogenes Glasröhrchen mit einer Erweiterung steckte, die mit Wasser gefüllt war. Es war für mich immer faszinierend zu sehen, wie das Gärgas in Blasen nach oben stieg und in dem Röhrchen ein leises „Plopp“ erzeugte. Nach dem Ende der Gärung wurde der fertige Wein von den Rückständen genommen und in saubere Flaschen umgefüllt. Mir hat sein Wein nicht geschmeckt. Die vergorene Maische wurde gebraucht. Schnaps- und Weinmachen war ihm eine befriedigende Tätigkeit, die ihn eine Zeitlang in seine verlorene Heimat entführte. Er beherrschte eine Reihe von Tätigkeiten, die der Familie zugutekamen. Im Grunde konnte er alle Reparaturen im Haus selbst erledigen, und er war ein geübter Gärtner und Landwirt.

Schuster

Sehr gern sah ich meinem Vater zu, wenn er unsere Schuhsohlen and Absätze erneuerte und Schuheisen daran befestigte. Er saß in einer Ecke des Zimmers auf einem Schemel hatte eine grobe Schürze um und auf den Knien einen Dreifuß, auf den die Schuhe aufgezogen wurden. Mit einem speziellen Messer schnitt er Sohlen aus dickem Rindleder und Absätze aus Gummi zu, raspelte feilte und bog sie so zurecht, dass sie auf den Schuh passten. Dann durchbohrte er die Sohlen mit einem Stichel und klebte sie auf den Schuh, ebenso die Absätze. Danach wurde der Schuh in eine Presse eingespannt, bis der Kleber trocken war. In die Durchbohrungen der Sohle klopfte er kleine Holznägel. Die Überstände brach er ab und feilte alles schön eben. Zum Schluss wurden auf den Absatz und auf die Schuhspitze je ein Eisen angebracht und die neue Sohle wurde mit einer schwarzen Farbe eingefärbt. Den Geruch des Leders, der Farbe und des Klebers mochte ich sehr gern. Ich bewunderte meinen Vater, der so etwas konnte.

„Holz machen“

Im Winter nahm uns unser Vater zum „Holz machen“ mit in den Wald. Meistens war er mit anderen Männern zusammen. Anfangs durften sie nur Wurzelstöcke ausgraben. Diese Arbeit war am schwersten. Die Erdstöcke mussten mit Spitzhacken und Brecheisen aus dem Boden geholt und anschließend mit Schlegel, Keilen und Äxten zerkleinert werden. Das war eine Knochenarbeit, die noch schwerer wurde, wenn der Boden gefroren war. Wir Kinder konnten dabei kaum helfen. Unsere Aufgabe war es, auf das Feuer aufzupassen, das wegen der Kälte ständig brennen musste, und trockenes Holz zum Nachlegen zu sammeln. Da die Männer ihren Schnaps tranken, war es nicht ratsam, ihnen bei der Arbeit zu nahe zu kommen. Manch einem sprang die Axt aus der Hand, wenn sie auf das hart gefrorene Holz traf. Ein Schienbein hätte sie dabei leicht durchschlagen. Zum Glück sind schwerere Unfälle bei uns nicht vorgekommen.

Später wurde den Männern auch erlaubt, Bäume zu fällen, die der Förster zuvor gekennzeichnet hatte. Man musste sich dafür einen Schein kaufen, der die Erlaubnis zum Fällen der Bäume war. Gefällt werden durften nur solche Bäume, die krumm gewachsen, krank oder trocken waren und sich nur als Brennholz eigneten. Ich erinnere mich an eine solche Aktion im „Neuner Schlag“ in einer Gemarkung, die „Lierloch“ hieß. Auf einer Lichtung brannte ein großes Feuer, das ich bewachen und versorgen musste. Es roch herrlich nach Tannennadeln und Harz. In meinem Eifer um das Feuer hatte ich nicht bemerkt, dass die Männer sich entfernt hatten. Ich konnte sie nicht mehr hören und sehen. Einsam und verlassen stand ich tief im Wald und bekam mächtige Angst, zumal uns unser Vater gewarnt hatte, nicht herumzulaufen, weil es dort Wildschweine gab. Als die Angst immer größer wurde, fing ich an, laut zu rufen, bekam aber zunächst keine Antwort. Ich geriet in Panik und schrie aus Leibeskräften, bis schließlich einer der Männer aus dem Wald auf die Lichtung kam und mich erlöste. Selbstverständlich wurde ich später von den Erwachsenen gehänselt. Das machte mir nicht viel aus. Hauptsache: Ich war „gerettet“.

Das Holz wurde von einem Bauern abgefahren und auf einem unbebauten Grundstück neben unserem Haus abgeladen. Später wurde es zum Trocknen gestapelt und im Herbst geschnitten. Zunächst mit einer Bügelsäge von Hand, später von einem Bauern, der eine Säge an seinen Traktor montiert hatte. Damit ging es natürlich viel leichter und schneller. Die geschnittenen runden Stücke mussten dann noch gespalten werde. Das geschah wieder von Hand mit einer Axt und mit Spaltkeilen. Von meinem 13. Lebensjahr an gehörte Holzhacken und Stapeln zu meinen Aufgaben. Bei gerade gewachsenen Stücken war das Spalten nicht schwer, wohl aber, wenn ein Stück krumm oder verdreht war. Das kostete viel Mühe und Schweiß. Wenn das Holz gespalten war, blieb es zum Trocknen noch ein paar Wochen liegen und wurde dann in unserem Holzschuppen aufgestapelt. Was nicht in den Schuppen passte, stapelten wir im Freien zu einem runden Holzschober. Bis zu einem Meter Höhe etwa hatten die Kreise aus Holzscheiten den gleichen Durchmesser. Nach oben hin verjüngten sie sich, bis schließlich oben ein spitzer Kegel als kleines Dach aufgesetzt wurde. Damit die Schober nicht von den schweren Herbststürmen auseinander gewirbelt wurden, spannte unser Vater mit dicken Drähten aufrecht stehende Bretter herum, die das Holz stabilisierten.

Die schnelle Hexe

Diese Holzschober dienten Ratten als Unterschlupf. Dort bauten sie auch ihre Nester. Obwohl uns unsere Dackelhündin Hexe ihre Anwesenheit durch Bellen, Knurren und Kratzen anzeigte, konnten wir sie nicht fangen. Ratten sind sehr schlau und umgehen aufgestellte Fallen. Als aber der Schober abgetragen und das Holz in dem Schuppen umgesetzt wurde, bestand eine Chance, die Tiere zu fangen. Zu diesem Zweck waren Männer und Kinder aus der Nachbarschaft um die letzten Reihen aus Holzscheiten versammelt, wohl ausgerüstet mit Spaten, Gabeln und Schaufeln. Damit sollten die flüchtenden Tiere zu erschlagen werden. Unser Vater klopfte mit seinem Spaten so lange auf das Holz, bis die erste Ratte wie ein Blitz herauskam. Wir hätten sie niemals töten können, dafür war sie viel zu schnell. Die Hexe aber stürzte sich ebenso schnell auf das Tier, packte es am Genick und schüttelte es kurz. Ein hoher spitzer Todesschrei zeigte den Jagderfolg an. Dieses Schauspiel wiederholte sich noch zweimal. Dann waren die Ratten verschwunden. Andere kamen aber und bezogen im nächsten Schober erneut eine Wohnung. Ich war stolz auf unsere Hexe und belohnte sie später mit einem Stück Wurst. Die versammelten Männer mussten etwas verlegen einsehen, dass sie bei der Rattenjagd ihren Meister gefunden hatten. Zum Trost erhielten sie von unserem Vater einen Schnaps.

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