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LISA

Lisa sitzt im Restaurant, weil sie nicht wusste, was sie sonst mit ihrer Zeit anfangen sollte. Sie hat einen kleinen Beilagensalat gegessen, ausführlich die extra kitschige Tischdekoration betrachtet, Bleikristallkerzenständer mit rosa Kerzen, rosa Servietten und in der Mitte eine Vase mit roten Rosen, hat zwei Gläser Prosecco getrunken und bestellt sich jetzt, um diesem Tag irgendeine Art von Schönheit zu geben, ein weiteres Glas Champagner. Es ist 18 Uhr, und heute ist ihr das Geld egal.

Dem Kellner ist ihr Verhältnis zu Geld ebenso egal, weil hier – im Spezialitätenrestaurant für Meeresfrüchte – immer gut Geld ausgegeben wird. Der Kellner ist das Geld gewöhnt und weiß, dass oft die Leute das Geld haben, die gar keinen Geschmack und Stil vorweisen können. Lisa sieht heute nicht besonders aufregend oder schön aus. Lisa hat heute viel geweint, ihr Gesicht ist verquollen, und bei genauerem Hinsehen ist ihr Outfit abgetragen. Lisa weiß all das und schämt sich, weiß jedoch nicht, wohin mit sich. Das teure und traditionsreiche Spezialitätenrestaurant war der erste Laden, in den einzutreten sie sich entschließen konnte. Sie irrte zuvor ziellos durch die Stadt und wusste nur, dass sie unter keinen Umständen nach Hause will. Es musste ein Etablissement sein, in dem sie noch nie war und in dem garantiert niemand säße, den sie kennt. Und wie kann eine besser eine Fehlgeburt vergessen als in einem Spezialitätenrestaurant für Austern?

Das Glas Champagner kommt an den Tisch, und Lisa, die gewissenhaft seit Wochen keinen Alkohol trank, ist jetzt – schon vor dem dritten Glas – beschwipst. Der Kellner möchte, dass die Frau etwas Richtiges isst, um nicht zu betrunken zu werden, und empfiehlt daher wärmstens die Spezialität des Hauses: eine Austernplatte. Frische Austern und leckere Saucen, mit köstlichen Schnecken in den unterschiedlichsten Variationen und als kleines Bonbon kommen sogar noch zwei Garnelen dazu: »Dafür kommen die Leute von weit her. Zu den Gästen zählt nicht nur die Prominenz, sondern auch die einfachen Leut, und das ist unserem Restaurant schon immer wichtig gewesen: die Klassenunterschiede einfach ignorieren. Weil, die Preise sind hier unschlagbar, der Service ganz klassisch, wie Sie sehen, und die Lage sowieso: top. Unsere Küche können sich auch die einfachen Menschen leisten.«

Lisa findet sein Bemühen schön. Lisa schlägt zu. Sie wird sichtlich aufgeregt: »Wenn nicht heute, wann dann? Sie haben Recht! Her damit! Und noch mehr Champagner – ich zahle mit Kreditkarte, schließlich habe ich Geburtstag …«, und so kramt sie auch schon in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie und darin nach ihrer Kreditkarte, die irrsinnigerweise mit einem Zebramuster bedruckt ist, und wedelt damit in der Luft herum. Stünde der Kellner noch da, hätte er ihren glücklichen, gelösten Gesichtsausdruck erhaschen können, der sich wieder zu einer Grimasse verzieht. Ihre Kreditkarte funktioniert. Sie ist kreditwürdig. Sie hat Geld auf dem Konto. Lisa trinkt. Ihr Lidstrich ist verschmiert. Niemand hat sie darauf hingewiesen. Mit dem ganzen Leid allein.

Der Kellner bringt artig einen Kühler, platziert die Flasche Champagner und gratuliert mit einem kleinen Stück Schokotarte. »Geburtstagsgruß aus der Küche. Und das am Tag der Liebe, wunderbar!«, säuselt er angenehm glaubwürdig.

Lisa trinkt ihr Glas schnell leer und beantwortet lieber gleich die Frage nach ihrem Alter, bevor sie saudumm gestellt wird: 44.

»Prächtig! Eine Schnapszahl! Herzlichen Glückwunsch«, erwidert der Kellner, der es vergisst, als er sich vom Tisch wegdreht, der einfach Mitleid hat mit einsamen Frauen, die sich in sein Restaurant verirren, die sich dorthin flüchten, sich ihrem Schicksal ausgerechnet hier hingeben wollen. Generell liebt er Menschen, die am Katalog der luxuriösen Eigenheiten festhalten, an Dingen, die irgendwann einmal für Glanz standen, für Erfolg und jetzt, schon bis zur Peinlichkeit zum Gemeingut geworden, immer noch gelten. Kaviar, Austern, Champagner, gibt’s alles beim Discounter. Aber hier ist es noch echt, hier war es schon immer authentisch. Der Kellner hat eine Schwäche für Menschen, die sich von den Versprechen eines besseren Lebens manipulieren lassen, und genießt ihre Anwesenheit. Wenn sie unbeholfen den Hummer zerlegen und nicht genau wissen, wie das geht, mit dem Krabbencocktail, dann geht ihm das Herz auf. Nicht aus Überheblichkeit, nein, aus ehrlichem Mitgefühl.

Der letzte Schimmer längst verschwundenen Glamours. Er hängt an dem Kitsch. Aber die Menschen, die sich diese Extravaganz leisten können, werden immer weniger. Die Superreichen kommen schon lange nicht mehr her.

Lisa nimmt einen großen Schluck und schenkt sich wieder nach.

Da sitzt sie also, nach außen hin zusammengehalten von einer gesund anmutenden Hülle, hat immerhin alles, was ein Körper braucht, und im Innern ein Schlachtfeld. Das Telefon klingelt, sie schaut dem leuchtenden Bildschirm zu, bis es aufhört zu vibrieren, 17 Anrufe in Abwesenheit, meine Güte, nervt der Typ. Lisa schafft es nicht ranzugehen, aber auch nicht, das Telefon in ihrer Tasche zu verstauen und starrt auf den Bildschirm, überfliegt die Nachrichten. Er will immer etwas regeln. Seine Regeln gelten dann. Er findet, er brauche jetzt Zeit, und legt den Schlüssel auf den Küchentisch. Er findet, das sei eine gute Idee. Es wäre gut für beide.

Zum Glück hat Lisa keine Zeit, sich dem nächsten Gefühlsschwall hinzugeben und in Tränen auszubrechen, sich selbst zu hassen und die Schuld auf sich zu nehmen, denn da kommt der Kellner und das Objekt, das er trägt, ist nicht gerade das, was Lisa sich unter einer ordinären Austernplatte vorgestellt hat. Eine dreistöckige Etagere, zum Überquellen belegt mit Schnecken in jeglicher Größe, Austern und auf der obersten Stufe in jeweils ein Gläschen getunkt zwei Riesengarnelen. Lisa trägt’s mit Fassung, der Kellner mit einem Glücksgefühl. Das ist die Spezialität. Das ist der Stolz des Hauses.

»Genießen Sie, Madame, auf diese drei Stockwerke feinsten Genuss kommt es an. Herzlichen Glückwunsch zu dieser phänomenalen Wahl. Und zum Ehrentag selbstredend. Was für eine herrliche Idee, sich selbst so zu feiern! Es kommt niemand mehr, nehme ich an?«

Lisa legt sich die Stoffserviette auf den Schoß und weiß gar nicht, wo sie anfangen soll, greift nach der erstbesten großen Schnecke und dem dazugehörigen Besteck. Der Kellner stellt noch ein Dutzend Saucen auf den Tisch, wünscht guten Appetit, und beide sind erleichtert, weil Lisa jetzt eine Weile lang beschäftigt sein wird. Der Kellner ist verzückt bei ihrem Anblick, kümmert sich nun allerdings um die neu eintrudelnden Gäste, würde ihr aber gern weiterhin Gesellschaft leisten. So ein schöner Tag, denkt er sich, denn da kommt eine Familie aus Niederbayern herein, mit einem München-Reiseführer in der Hand und einem ordentlichen Dialekt im Mund.

Der Kellner ist ein hundsgemeiner Typ und setzt die Familie an Lisas Nebentisch. Die ganze Familie staunt nicht schlecht über die dreistöckige Etagere, und der Vater kann seine Augen gar nicht mehr abwenden. Lisa fühlt sich in ihrer Wahl bestätigt und lobt freundlich die Qualität des Essens. Ehe der Kellner die Karten ausgeteilt hat, stürmt auch schon eine neue Gruppe ins Restaurant.

Heute geht’s aber zu, das kann ja heiter werden, Fest der Liebe, Liebe geht durch den Magen! Klassisches Theaterpublikum, das sieht der Kellner sofort. Die Herren im Anzug, die Frauen im Kleidchen und allesamt in den guten Ausgehschuhen. Die niederbayerische Familie liest aufmerksam die Karte und hat den München-Führer schon längst verschwinden lassen. Die Theaterbesucher setzen sich und reißen die Hände in die Luft, als die Verabredung den Laden betritt.

»Endlich sehen wir uns wieder!«

»Ich freu mich so!«

»Ich mich auch!«

»Na wunderbar, setz dich doch hierhin.«

»Wein?«

»Ja, unbedingt! Und eine Flasche Wasser, aber ohne Gas.«

»Haha, nein, nein, ganz unaufgeregtes Wasser bestellen wir jetzt.«

»Nicht, dass noch eine Katastrophe passiert, hihi.«

»Meine Güte, lang ist’s her!«

Die Theaterbesucher wissen schon, was sie wollen, und deuten hin zu der einsamen Frau, die sich heute offensichtlich mal was gönnt, was ein Gefühl der Zugehörigkeit bei den Theaterbesuchern auslöst: »Eine solche Etagere – aber mit Hummer!«

»Und eine ohne Hummer, aber dafür mit doppelt so vielen Austern.«

»Eine kleine Vorspeise?«

»Nein, nein, wir haben auch gar nicht so viel Zeit.«

»Sehr schön, perfekte Wahl. Darf’s ein Aperitif sein?«

»Ja, unbedingt!«

»Bitte, was empfehlen Sie?«

»Jawoll, das nehmen wir.«

Die Familie versteht, was bestellt werden muss und winkt den Kellner heran.

»Bitte, wir hätten a gern so eine Platte.«

»Mit Hummer?«

»Na, den nicht.«

»Mit den kleinen schwarzen Schnecken?«

»Ja, freilich, und mit den großen, so wie bei ihr.«

»Vorzügliche Wahl. Sind Sie zum ersten Mal bei uns?«

»Ja, schon.«

»Ach, wie wunderbar, Sie werden begeistert sein von unseren Köstlichkeiten!«

»Wie viele brauch’ ma denn da, für uns vier?«

»Ich würde Ihnen zwei empfehlen und eine Portion Austern extra, sieben Stück?«

»Ja, guad.«

»Darf es noch das passende Glas Champagner dazu sein? So wird der Genuss erst perfekt.«

»Na dann, freilich!«

»Für die Erwachsenen, versteht sich.« Gelächter. Zum Glück ist die erste Hürde überwunden, das Essen ist bestellt, der Kellner ist freundlich.

Der Mann, die Frau, die Tochter, der Sohn nicken und legen sich die Servietten auf die Schöße. Jetzt heißt es abwarten und die Vorfreude aushalten.

 

Lisa nickt zustimmend und schlingt weiter die Meerestiere, als wäre sie bei einem Wettbewerb. Wann hat sie zuletzt gegessen und auch noch so gut? Lisa schenkt sich nach, sie säuft, sie stößt auf, sie wischt sich mit der fettigen Hand das Gesicht ab. Kräuter zieren ihre Mundwinkel und Wangen. Wo ist die ordentliche Frau hin? Das Handy vibriert. Nein, sie ist noch nicht so weit. Sie kann selbst noch nicht glauben, was heute passiert ist. Sie schlürft an der nächsten Auster und wird zusehends gieriger.

Die Theaterbesucher amüsieren sich herrlich über diesen Anblick und prosten ihr zu. Der Kellner kriegt von dem ganzen Spaß leider nichts mit, es strömen die Gäste nur so herein in die Stube. Diesmal stürmen sie sogar voraus und lassen sich erst gar nicht platzieren.

Die scheinen hier richtig zuhause zu sein, denkt sich der Familienvater, das muss ein Leben sein! Seine Frau schaut lieber den anderen Frauen zu, unsicher, ob lustvoll oder abgestoßen.

Schon wieder wird die Tür aufgerissen, und zwei Paare suchen sich jeweils die romantischsten Ecken für ihre Rendezvous. Schließlich ist heute Valentinstag. Dieses Restaurant schreit nach Romantik, die Gewölbe, die Polster mit ihrem schönen Muster, die Auswahl! Die Tische füllen sich, und bald gibt es kaum noch freie Plätze.

Lisa kann ihr Glück kaum fassen und ruft nach einer neuen Flasche Schampus. Seit Stunden sitzt sie hier und endlich kommt Leben in die Stube. Der Kellner rennt hin und her. Freudig und gierig werden die Etageren der Tischnachbarn begutachtet, und es wird stets eine noch größere bestellt.

»Mehr Hummer!«

»Mehr Austern!«

»Mehr Garnelen!«

»Mehr Schnecken!«

»Mehr Saucen!«

»Mehr Eis!«

Da kommt endlich die Schneckenplatte zur niederbayerischen Familie, für die seit ihrer Reise in die Provence solch eine Schnecke eine unvergleichliche Delikatesse ist. Ein Staunen schreibt sich in ihre Gesichter, und Lisa wünscht einen guten Appetit, malt sich aus, sie könnte noch einmal mit dem Essen von vorn anfangen. Das traurigste am guten Essen ist ja der Moment, wenn es vorbei ist und der Bauch zu voll. Es erfüllt sie der Neid. Sie blickt auf ihren Tisch, reißt die Hand in die Luft: »Champagner!«

»Jawoll!«, rufen die Theaterbesucher zurück.

Der Kellner bringt ihr eine neue Flasche. So wie Lisa ausschaut, mit Öl-, Fett- und Saucenflecken auf ihrem weißen Hemd, mit ihren müde herunterhängenden Gesichtszügen, in der Art, wie sie konzentriert einatmen muss, bevor sie ernsthaft sprechen kann, mit der Schlaffheit in den Händen, die das Besteck halten, bräuchte sie vielmehr ein Gespräch, frische Luft oder ein Bett. Stattdessen bekommt sie, wonach sie verlangte. Sie findet das lustig. Hier bekommt sie alles, was sie will.

Lisa schenkt sich nach, verschüttet, fängt an zu lachen. Es ist kein freundliches, peinlich-berührtes Damenlachen, es ist ein lautes, tief aus dem Inneren kommendes, ein dreckiges Lachen. Die Theaterbesucher erschrecken sich förmlich, dass so etwas aus einer so zierlichen Frau herauskommen kann und stimmen sich dann selbst in ein Gelächter ein – allerdings in ein feindliches. Die haben sich auf das Betrachten anderer eingestellt, das Aburteilen. Warum nicht auch hier damit beginnen? Der Familienvater schaut entsetzt, und die Blicke, die Lisa gerade auf sich zieht, sind entwaffnend boshaft. Doch Lisa sieht diese Blicke nicht. Sie sieht die beinah verputzte Edelplatte Meeresfrüchte, die sie sich an diesem scheußlichen Tag bestellte, um sich besser zu fühlen, sieht die Champagner-Flasche, in der es schön aufregend prickelt und die sie kichern lässt. Sie sieht ihr Telefon, das ständig aufleuchtet, und sie sieht an ihrem Körper herunter. Mit großer Geste greift sie sich die nächste Auster, bemüht sich erst gar nicht um ein Besteck, sondern saugt und schlürft und schlabbert, holt sich die nächste, jetzt werden noch die letzten Reste gegessen, hergeschenkt wird nichts. Und warum Zeit mit Formalitäten verschwenden, wie Besteck und Etikette? Wen interessiert das schon? Wen interessiere ich schon? Ich bin nichts. Nichts wert, nicht vorhanden. Schaut mich an, ich bin eine Versagerin, alles an mir ist falsch.

Das Paar links von ihr betrachtet sie, und die Frau lästert ungeniert in einer hörbaren Lautstärke. Lisa schaut zu ihnen rüber, plötzlich eine enorme Klarheit in ihrem Blick, fährt mit der Zunge über die Auster und wirft im nächsten Moment die Schale einfach rechts neben sich, direkt auf den Tisch der nichts ahnenden Familie.

Der Vater bekommt einen Spritzer ins Gesicht, blinzelt, greift erhaben nach der Serviette, reinigt sich und sagt anschließend laut genug, um durch die Spannung des Restaurants zu peitschen: »Kinder, schaut sie euch an, diese Frau ist verrückt.«

Verrückt. Ich bin verrückt. Stille.

Was er demonstrieren möchte: Schaut, der Mann weiß sich zu beherrschen, die Frau nicht. Schaut, ich stehe drüber. Ich lass mich nicht so einfach provozieren. Seine Frau betrachtet ihn, als wäre er ein Gespenst. Sie ist in Alarmbereitschaft.

Lisa steht auf und geht unter strenger Beobachtung zur Toilette. Verrückt, krankhaft, deppert, dumm, pervers, schwachsinnig, anormal, lächerlich, geistesgestört, meschugge, damisch, idiotisch, wahnsinnig, irre, unzurechnungsfähig, unfähig, dumm, hässlich, unbrauchbar, unzulänglich. Wann ist sie all das geworden? Wer hat sie zu all dem gemacht? Sie fühlt sich schuldig. Immerzu möchte sie sich entschuldigen. Der Klügere gibt nach. Pardon, die Klügere gibt nach. Dabei trägt sie keine Schuld.

Sie betrachtet sich im Spiegel. Hält ihre Handgelenke unter das kalte Wasser, Kreislauf stabilisieren. Ich bin schuld. Ich bin nicht schuld. Nein, ich bin nicht schuld daran. Dass mir das passiert ist, ist nicht meine Schuld. Niemand ist schuld daran.

Das Wasser kühlt ihre Hände, kühlt ihren erhitzten Kopf. Schritt für Schritt. Hände trocknen. Zähne im Spiegel kontrollieren. Kräuter aus den Zahnzwischenräumen entfernen. Handtasche aufmachen. Gut, alles dabei. Neu anfangen.

Sie tupft sich das Gesicht mit diesem angenehm weichen Handtuch ab, zieht ihr Make-up nach, kaschiert – zum ersten Mal an diesem Tag – ihre Augenringe, tuscht ihre Wimpern, trägt Rouge auf und sogar Lidschatten, nimmt den zart rosafarbenen Lippenstift. Sie betrachtet sich. Der Selbsthass weicht aus ihrem Körper. Sie kann tief einatmen. Ihr Brustkorb löst sich, und mechanisch korrigiert sich ihre schlaffe Körperhaltung. Ich bin nicht verrückt. Ein letzter Blick in den Spiegel, ich bin nicht hässlich, der Weg zurück zu ihrem Platz, ich bin nicht kaputt, erhobenen Kopfes. Stolzer Gang.

Ich bin eine Frau. Sie fühlt sich wie ausgewechselt. Ich bin nicht defekt.

Sie wird beäugt, aber wohlwollend ignoriert. Ihre Erscheinung hat sich gebessert, das lässt die anderen Gäste aufatmen. So, jetzt reißt sie sich zusammen, sehr schön. Lisa fühlt sich frei. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit. Vielleicht zum ersten Mal, seit sie die Frau mimt, die sie werden wollte, und jetzt erneut kläglich an der eigenen Vision scheiterte. Eine Frau, das ist ein Mensch, dachte Lisa bisher, die einmal im Monat ihre Periode bekommt, durchschnittlich 456 Mal in ihrem Leben, die Zähne zusammenbeißt, denn das bedeutet bei jeweils fünf Tagen Blutung umgerechnet sechskommazweifünf Jahre Periode am Stück, und mindestens ein Kind zur Welt bringt. Schöner wären zwei, ein Bub und ein Mädchen. Oder Zwillinge. Mehr war es nicht. Es schien so einfach. So natürlich. Etwas, worum sie sich nicht kümmern musste. Etwas, das ihr einfach geschah. Eier, Sperma, Baby.

Oh, sie hat die Zähne zusammengebissen, und sie hat die Periode bekommen. Sie hat viel Geld ausgegeben. Sie hat auf sich geachtet. Aber das Kind, das Kind kam nicht. Sie hat noch besser auf sich Acht gegeben. Sie hat noch mehr Geld ausgegeben. Doch das Kind verliert sie ein ums andere Mal. Und die Enttäuschung wurde ein ums andere Mal größer. Und die Verletzung unerträglicher und der Mut geringer. Sie ist keine echte Frau, weiß Lisa jetzt sicher, wenn sie kein Leben gebären kann, und als unechte Frau hat sie sowieso keinen echten Platz in dieser Gesellschaft. Sie hat ihn sich weder verdient, noch wird er ihr unter diesen Umständen angeboten. Sie ist gescheitert.

Nein! Sie schaut sich um. Nein, so einfach gebe ich nicht auf. Zu diesen Menschen will sie nicht gehören. Die schmatzenden Münder, schlürfend, schürzend, lachend, Kräuter zwischen den Zähnen, gelbe Zähne, falsche Zähne, Zahnlücken. Nein! Ich bin nicht schuld. Die Hände, wie sie verkrampft das Glas halten, zum Mund führen, abstellen, wie sie auf dem Schoß liegen, mit dem Telefon spielen, eine andere Hand festhalten, sich am Kopf kratzen. Zu all diesen Händen wollte sie nicht gehören. Der Schmuck. Ohrringe baumeln, Ketten hängen, Uhren blitzen im Licht, Ringe, so viele Eheringe an einem Ort. Lachen, immer wieder dieses Lachen, warum sind die alle so glücklich? Das Lachen gehört nicht zu ihr. Lisa nimmt sich ein kleines, schwarzes Schneckenhaus und betrachtet es ausführlich. Wie unfair, mitsamt dem eigenen Häuschen verkocht zu werden. Traurig.

»Hmmm, lecker!«

»Vorzüglich!«

»Ganz wunderbar!«

»Es hat mir sehr gut geschmeckt, danke sehr.«

»Sie haben nicht zu viel versprochen.«

Diese Wörter. Das sind nicht ihre Wörter, sie will nicht mit diesen Worten angesprochen werden, nicht von den Stimmen. Lisa ist betrunken und angriffslustig. Ihr bisheriges Leben zerfällt mühelos vor ihr, und sie kann nichts dagegen tun. Am Geburtstag verlassen werden, wegen der dritten Fehlgeburt, und das Ganze auch noch am Valentinstag. Wie viel Unglück für eine Person.

Das kleine schwarze Schneckenhäuschen landet im Haar einer schönen Frau, die einem nicht sonderlich schönen Mann gegenübersitzt und ihn mit ihren perfekten Zähnen anlächelt, während er redet, gestikuliert und dominiert. Die Frau, die kaum zu Wort kommt, hat die Schnecke nicht bemerkt, ebenso wenig ihr Gegenüber. Das ist für das erste Kind. Lisa fühlt sich angestachelt, provoziert. Sie greift nach der nächsten Schnecke und funkelt in die Stube. Ihr Blick verändert sich zu einem abgrundtief bösen. Sie hat alles verloren, was kann sie jetzt noch ruinieren? Dieses Haus landet im Dekolleté einer sehr jungen Frau, mit sehr tiefem Ausschnitt. Die Frau brüllt herüber. Das ist für das zweite Kind. Die nächste Schnecke landet im Cocktail einer Frau, die gerade am Strohhalm saugt und über die Attacke fürchterlich erschrocken ist und sich den Cocktail über den Körper schüttet. Das ist für das dritte Kind.

»Schau mal, wie die schaut. Die schaut ganz wahnsinnig, so eine macht mir Angst!«

»Sie hat wahrscheinlich ihre besonderen Tage im Monat. Hahahaha! Da sind die ja immer alle so hysterisch!«

»Jetzt reiß dich aber zusammen!«

»Ja, du eh nicht, Schatzi. Hast ja schon Menopause!«

Lisa ist jetzt bester Laune. Die nächste Schnecke landet in einem Glas. Sie greift nach dem nächsten Häuschen und wirft es in eine Saucenschale. Sie trifft einen Mann am Hinterkopf, der sich anschließend kurz kratzt. Ist das wirklich alles? Alle sind so sehr damit beschäftigt, keine Szene zu machen, kein Aufsehen zu erregen. Lisa braucht jetzt genau das Gegenteil. Sie will Aufmerksamkeit. Sie will im Zentrum der Geschichte stehen. Sie greift mit der Hand nach den letzten Resten ihrer Platte, pult das Fleisch aus den Häuschen, aus den Panzern und steckt sich die Finger tief in den Mund, um sie dann langsam abzuschlecken. Sie wirkt überraschend ordinär und schafft es, bemerkenswert laut zu essen. Die Reste landen auf Tellern, Tischen, in Handtaschen, Blumenarrangements, Dekoartikeln, in Gesichtern, auf Körperteilen.

»Wieso frisst die Frau so unangenehm?«

»Die benimmt sich ganz fürchterlich.«

»Die soll gehen. Das möchte ich nicht anschauen müssen.«

»Bitte, jetzt tu doch was.«

»Was soll ich denn tun, die ist halt besoffen. Der kann ich jetzt auch nicht helfen.«

»Du sollst ja auch nicht ihr helfen, sondern mir. Wie soll ich denn mein Essen genießen?«

»Ja, die muss doch einfach rausgeschmissen werden.«

»Hallo, Kellner, bitte, bitten Sie doch die Frau zu gehen.«

»Die hat doch eh schon aufgegessen.«

»Sie hat mich mit einer Auster getroffen, ich glaube ich blute!«

»Schauen Sie sich dieses Kasperltheater einmal an, also wir haben das doch jetzt lange genug mitgemacht.«

»Was soll denn das? Wirklich so gar keine Manieren.«

»Ist das Unterhaltungsprogramm im Preis mit inbegriffen?« Lisa genießt die Beschwerden. Sie schaut in jedes vorwurfsvoll dreinschauende Gesicht. Schaut sich jeden Gast sehr genau, sehr bewusst an und greift demonstrativ nach der Flasche, schenkt sich den letzten Rest ein. Der Abend ist gelaufen. Mehr kann ich mir nicht leisten. Das ganze Leben ist gelaufen. Wo soll ich denn jetzt hin? Trauer übermannt sie.

 

»Ach herrje, jetzt weint sie auch noch. Muss das denn sein?«

»Wieso weint sie denn?«

»Ach, das hat keinen besonderen Grund. Ihr seid halt so, ständig wird geheult und getobt.«

»Wie peinlich, wenn Frauen ihre Emotionen nicht im Griff haben.«

»Ich fühle mich persönlich angegriffen.«

»Jetzt entschuldigen Sie mal, ich zahle viel Geld für dieses Abendessen.«

»Bedienung!«

»Jetzt beruhigen Sie sich doch. Sie machen ein Spektakel aus sich selbst und das gehört sich nicht, ein bisschen Benehmen kann ja wohl verlangt werden.«

»Schämen Sie sich!«

»Hören Sie sofort auf, mit Austern nach mir zu werfen. Ich hau Ihnen gleich eine rein, Fräulein, das sage ich Ihnen.«

»Hören Sie sofort auf. Was ist denn in Sie gefahren, ich kenne Sie überhaupt nicht? So, jetzt reicht’s. Ich habe schon ganz andere zur Vernunft gebracht! Noch eine Auster und Sie werden sich noch wundern. Gut, Sie haben es nicht anders gewollt!« Eine Watsche. Lautes Klatschgeräusch. Luft wird angehalten.

Da steht der gut gebaute Mann an Lisas Tisch, hält ihre Handgelenke fest, zieht sie nach oben, und währenddessen fallen ihr die Essensreste aus den Händen. Ihr Frauenkörper stößt gegen den Tisch, das viele Zeug darauf klimpert, irgendwas fällt zu Boden, geht zu Bruch. Scherben. Keiner sagt etwas. Ihre Hände tun weh, der Mann hält sie viel zu fest, Lisa weiß, sie ist ihm ausgeliefert.

Selbst der Kellner steht nur nutzlos da. So etwas hat es noch nie gegeben. Was ist jetzt zu tun?

Das Spiel ist aus, jetzt ist es ernst. Der Mann funkelt sie an. In wenigen Sekunden wird er sie richtig schlagen, sie zum Schweigen bringen, sie bestrafen für ihr ungehöriges Verhalten. Der Mann, der mindestens einen Kopf größer ist, beugt sich über sie und schnauft schwer, als wäre er ein wildes Tier, unkontrolliert und unkontrollierbar. Die Frau hat wirklich jeden genervt, aber verdient sie so eine Behandlung? Sie trug ja auch zur allgemeinen Belustigung bei. Sie war eine gute Show. Der Kellner interveniert endlich. Geht dazwischen. Viel zu spät, doch besser spät als nie.

Lisa, die jetzt erst so richtig Gefallen an ihrer neuen Rolle findet, tut das einzig Mögliche, schaut dem tobenden Mann in die Augen und lacht. Wie oft hat sie sich das schon vorgestellt, dass sie einmal von einem Mann viel zu fest gehalten wird. Dass einmal einer daherkommt, ganz unerwartet und sie sich einfach schnappt, sie bedrängt, ihr weh tut. Wie lange war sie schon auf diesen Moment vorbereitet. Auf unzähligen Heimwegen, bei unzähligen Taxi-, Auto-, Bus-, Zugfahrten. In Seminaren, Jobs, auf der Straße, beim Einkaufen, beim Ausgehen, zu Hause, im Urlaub, am Tag, in der Nacht. Die meiste Zeit ihres Lebens hat sie damit gerechnet, dass einmal so ein Typ vor ihr steht, sie festhält, dass sie sich nicht befreien kann und es dann passiert. Sie kann kaum noch an sich halten, bricht in ein wildes Gelächter aus, ihr Körper schüttelt sich, es ist ein Anfall, sie lacht, prustet, das Glück durchströmt ihren Körper, sie möchte nach unten zusammensacken, die Beine kippen ihr weg, aber da der Mann sie noch immer festhält, hängt sie förmlich an ihm dran. Vereinzelt stimmen Gäste leise in das Gelächter ein, unsicher ob die Gefahr vorüber ist, ob wieder aufgeatmet werden kann. Der Mann ist angewidert, bloßgestellt, in seiner Männlichkeit und seinem Stolz angegriffen. Er will sie einschüchtern, Lisa gibt ihm jedoch keinen Raum. Das hat es in seinem Leben noch nie gegeben.

Er blickt um sich, seine Frau hält die Hände erschrocken vor ihr Gesicht, Kameralinsen von Telefonen sind auf ihn gerichtet. Wie konnte er sich nur zu so einer Demonstration seiner Manneskraft hinreißen lassen? Er lässt Lisa los, die plumpst förmlich zu Boden, er geht einen Schritt zurück, streift seine Hände an sich ab, als würde er sich von etwas Ekligem befreien müssen, und betrachtet die Frau, die alle Fehler des weiblichen Geschlechts verkörpert und lachend auf dem dreckigen Boden sitzt, als würde all dies nichts bedeuten.

Sie schreit und weint vor Lachen, die Tränen schießen ihr nur so aus den Augen, ihr Gesichtsausdruck ist unlesbar, endlich steht sie auf, schnäuzt in die Stoffserviette, zieht sich ihren Mantel an, betrachtet den Kellner mit großen, glücklichen Augen: »Danke für alles. Der Mann bezahlt meine Rechnung. Bis zum nächsten Mal.«

Zwei Frauen klatschen Beifall, sie greift bei einem fremden Tisch nach der Schampusflasche und verlässt mit ihr das Lokal. Es sei ihr gegönnt, die Flasche ist schon fast leer. Der Mann selbst schleicht zu seinem Platz, seine Gattin ist wie versteinert, und der Kellner entschuldigt sich bei allen Gästen und räumt umgehend die Sauerei auf. Ein freier Tisch will neu besetzt werden, die neuen Gäste warten freilich schon. So schlimm war’s jetzt auch wieder nicht. Die Frau, die so elendig gestört hat, die sich so fürchterlich aufgeführt hat, die überhaupt keine richtige Frau war, ist fort. Zum Glück. Mit so einer will sich wirklich niemand befassen. Nicht in seiner Freizeit. Nicht an so einem Ehrentag. Darum soll sich ein Psychiater kümmern, der wird schließlich für so etwas bezahlt. Die Gäste atmen auf.

Der Kellner kriecht unter den Tisch, kehrt die letzten Scherben auf ein Schäufelchen. Er entschuldigt sich danach erneut an jedem einzelnen Tisch. Und es wird sich unterhalten, gegessen und getrunken – wie schnell alles wieder in seinen gewohnten Bahnen geht, bereits zehn Minuten später genießen alle wieder ihre feinen Speisen und wenden sich ganz sich selbst zu, als wäre Lisa nie in ihr Leben gekommen, als hätte sich nichts verändert. Was von ihr bleibt, ist eine unterhaltsame Anekdote. Sie kennen nicht einmal ihren Namen, nein, noch schlimmer: Keiner der Anwesenden kennt die Geschichte dieser wütenden Frau und am allerschlimmsten: Sie interessieren sich nicht dafür.

Solidarität

Solidarität unter Frauen gibt es nicht nur unter Freundinnen, sondern auch unter Fremden. Manchmal halten einander fremde Frauen die Haare oder die Hand oder gehen dazwischen, wenn es zu einer unangenehmen Situation kommt. Frauen, die Frauen stärken, machen Frauen stark. Dabei darf nicht gedacht werden, dass Frauen vorher schwach waren. Sie können sich gegenseitig dabei helfen, sich zu befreien. Wenn Frauen etwas erreichen, ist das Frauenpower. Empowerment bedeutet Ermächtigung, Stärkung, Förderung und Unterstützung. Das bedeutet auch, dass Frauen es einander erlauben, das Gleiche zu tun wie beispielsweise Männer, und sich nicht dafür bestrafen. Darunterfallen alle möglichen Beschämungen. Aber auch kleinhaltende Bezeichnungen wie »Mädels«. Am schönsten ist es, wenn die Solidarität intersektional ist und sich der Begriff Frau nicht auf Menschen mit angeborenen Merkmalen wie Busen und Vulva beschränkt.

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