Rakna

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Z serii: Rakna #1
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„Beeil dich, der Weg hinter mir ist frei.“ Was sie da hörte war unfassbar. Nie hätte sie gedacht, dass Dior dazu im Stande war, etwas gegen die Regeln ihres Dorfes zu tun und auf eigene Faust über richtig und falsch zu entscheiden. Nach ihren letzten Gesprächen hatte sie immer geglaubt, er wäre eine abgerichtete Wache, die von der Obrigkeit gesteuert wurde. Doch jetzt stand er da und rettete ihr das Leben. Sie nickte ihm zu und drückte dankbar seine Hand, dann rannte sie, so schnell sie konnte.

Sie floh vor ihrem eigenen Volk. Es war schon paradox, eben noch wollten sie ihr den zweithöchsten Ehrentitel verleihen und jetzt war sie eine gesuchte Verbrecherin. Doch die junge Frau hatte keine Zeit sich Gedanken darüber zu machen. Sie musste fliehen. Eilig stürzte sie vorwärts, durch Büsche und Zweige bis zum Gartenzaun, der an den Wald grenzte. Mit einem kräftigen Sprung hatte sie den kleinen Zaun überquert und erblickte das schützende Wäldchen, in welches sie sich jetzt flüchtete. Von dort aus hatte sie einen leichten Blick auf das Geschehen und konnte alles, was um das Langhaus der Ältesten stattfand, beobachten. Mit Fackeln leuchteten sie hinter jeden Busch und erhellten jeden Winkel. Sie sah auch Dior, der jetzt in die entgegengesetzte Richtung von Rakna deutete. Sie war ihm wahrlich zu Dank verpflichtet, doch im Moment war es ihr nicht möglich, sich zu revanchieren. Für einen winzigen Augenblick überlegte sie, was geschehen wäre, wenn sie sich Dior anvertraut und ihn nicht abgewiesen hätte. Rakna stand ratlos da. Was war nun zu tun? Nach Hause konnte sie nicht. Sicher suchten sie dort als Erstes nach ihr. Aber wohin sollte sie ohne Waffe, Proviant oder passende Kleidung fliehen? Der einzige geschützte Ort, der ihr einfiel, war die alte Trauerweide. Als Kind hatte sie unter ihr Schutz gesucht, vielleicht gab er ihr auch heute Sicherheit. Vielleicht öffnete sich das Tor erneut? Es blieb ihr keine Wahl, eine andere Idee hatte sie nicht. Also begab sie sich auf den Weg durch das dichte Geäst. Es war dunkel und beschwerlich den richtigen Pfad zu finden, doch Rakna kannte sich in diesem Wald so gut aus, dass sie ihn auch blind erspürte. Es dauerte nicht lang, bis sie die große Lichtung, die von der alten Trauerweide gekrönt wurde, erreicht hatte. So nah am Ziel, setzte sie schon dazu an, auf den Baum zuzustürmen, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Ruckartig drehte sie sich herum, um ihren Verfolger zu erblicken, und sie erkannte vor sich Thorgard, die Älteste. In ihrem Gesicht stand der blanke Hass. Mit vor Wut zitternder Stimme sprach sie zu Rakna.

„Ich wusste es! Die Verbrecherin kehrt an den Ort des Vergehens zurück. Du wagst es, dich in unsere Mitte einzuschleichen. Wie konntest du glauben, dass du damit durchkommst? Du bist wahrhaftig ein Monster. Jetzt wirst du für deine Arroganz sterben.“ Mit einem kraftvollen Satz, den Rakna der alten Frau gar nicht zugetraut hätte, sprang diese auf sie zu. Doch Rakna glitt zur Seite und flüchtete sich hinter einen nahe stehenden Baum.

„Woher wusstet Ihr, dass ich hier bin?“

„Glaubst du, ich erkenne diesen Dreck unter deiner Haut nicht? Für so töricht hätte ich dich nicht gehalten, Rakna Wolfshaut. Ich weiß was dich gebissen hat und wenn es noch keinen Besitz von dir ergriffen hat, dann wird es nicht mehr lange dauern.“

„Thorgard, du verstehst das nicht. Es ist versiegelt, ich bin die Gleiche wie zuvor.“

„Halte deine spitze Zunge zurück! Ich werde meinen Verstand nicht von diesen Lügen vergiften lassen.“ Die Älteste rannte um den Stamm herum und holte weit aus, um Rakna niederzustrecken. Ein neuerliches Mal schaffte sie es, erfolgreich auszuweichen, aber der Schlag prallte an der Rinde des Baumes ab und federte zurück. Die zweischneidige Klinge des Schwertes traf Rakna brutal am Arm. Sie spürte, wie warmes Blut an ihrem Unterarm herunterlief. Nun hatte sie Gewissheit, dass mit ihrer Anführerin nicht zu reden war. Ohne Waffe oder Rüstung ergriff Rakna die Flucht. Sie nutzte den Moment, in dem die Älteste erneut zum Schlag ausholte um durch die entstandene Lücke zu fliehen. Den einzigen Gedanken, den sie hatte, war so schnell wie möglich unter die Zweige der bejahrten Trauerweide zu verschwinden. Hinter sich hörte sie den Schlachtruf vieler Männer des Dorfes. Thorgard war offensichtlich nicht mehr allein. Einen Spurt würde sie nicht durchhalten und verletzt, ohne Waffe, gewann sie keinen Kampf. Hastig zwängte Rakna sich zwischen den Zweigen hindurch. Dabei peitschten ihr die Äste ins Fleisch, doch Rakna nahm es kaum wahr. Überleben war ihr einziges Ziel. Abrupt erreichte sie das Zentrum und den Stamm des Baumes. Es war stockdunkel hier. Durch das Laub waren die Geräusche dahinter nur schwach zu hören, aber Rakna wusste, dass sie näher kamen. Was sollte sie nur tun? War es schlau, wieder durch das Tor zu schreiten? Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Ring! Sie hatte ihn heute zur Feier des Tages angesteckt. Lynthriell sagte damals, sie solle nur an dem kleinen eingelassenen Stein reiben, wenn sie in Schwierigkeiten steckte und es würde Hilfe herbei eilen. Es war ihre letzte Hoffnung und was hatte sie denn zu verlieren? Mit zitternden Händen streckte sie ihren dünnen Finger aus und betrachtete den Ring. Der Stein war winzig, es war unvorstellbar, wie ihr das helfen sollte. Dennoch rieb sie an dem weißen Steinchen und sofort leuchtete er in einem hellen Blau. Das Licht pulsierte leicht, aber sonst geschah nichts. Die Stimmen wurden lauter und sie vernahm, wie hin und wieder ihr Name gerufen wurde. Die Anderen hatten sie fast erreicht und waren sie erst einmal da, schütze Rakna nur die Angst der Menschen vor diesem verfluchten Baum. Langsam kam Panik in ihr auf. Seit Jahren hatte sie kein Angstgefühl mehr verspürt. Selbst ihre erste Jagd auf einen Mörder hatte sie nicht so erschüttert. Doch heute war es anders. Es war, als wäre sie wieder das kleine Mädchen, ungeschützt und hilflos. Sekunden vergingen und nichts passierte. Sie hatte keine Ahnung, wie die Hilfe aussah, nie zuvor hatte sie von dem Ring Gebrauch gemacht. Wer oder was würde kommen, um ihr zu helfen? Stürzte vielleicht ein großes Tier in die Menge und zerriss ihre Verfolger? Sollte dem so sein, dann hätte sie das nicht gewollt. Auch wenn ihr Volk sie verstoßen hatte, so war es dennoch ihre Heimat. Oder würde der Ring sie mit einem Schleier umhüllen, der sie für die Augen der Anderen unsichtbar machte? Ihre blasse Haut leuchtete förmlich in dem wenigen Licht des Steins. Was richtete dieser magische Ring aus? Rakna wusste es nicht und da er keine weiteren nennenswerten Kräfte zeigte, außer dass er verräterisch leuchtete, sah sie sich schon aufgespießt auf einem Schwert. All ihre Hoffnung hatte sie in Lynthriell gesetzt. Jetzt kam sie sich dumm vor, auf Wesen zu vertrauen, die sie zuvor nur einmal gesehen hatte und von denen sie nicht wusste, was sie im Schilde führten. Rakna bestrafte sich selbst in Gedanken, als plötzlich Schritte direkt vor ihr zu hören waren. Die Füße zweier Männer erschienen zwischen den Ästen. Sie sprachen hastig miteinander.

„Die Älteste hat gesagt, dass sie zum Stamm der Weide vorgedrungen ist. Wir sollen sie schnappen, bevor sie etwas anstellt.“, sagte einer der Männer mit zitternder Stimme.

„Sie ist unter dem Baum? Wer holt sie da raus? Ich werde mein Leben nicht für eine Verräterin aufs Spiel setzen!“ Kaum, dass die empörten Stimmen verklungen waren, hörte Rakna weitere Schritte, und ein dritter Mann sagte verächtlich:

„Ihr Feiglinge seid zu nichts zu gebrauchen! Euer Aberglaube hat euch völlig verweichlicht.“ Daraufhin wurden rechts von Rakna, mit harten Hieben, die Äste zerfetzt und sie sah eine silberne Rüstung aufblitzen. Darauf war ein Eberkopf abgebildet, hinterlegt mit einer Sonne. Barbas machte ebenfalls Jagd auf Rakna und er war nur jämmerliche fünf Meter von ihr entfernt. Im Inneren wusste sie bereits, dass keine Hilfe kam. Es blieb zu wenig Zeit, um sie zu retten. Gleich würde Barbas ihr gegenüber stehen und Rakna entweder entzweihacken oder sie gefangen nehmen. Dann war sie dem Hass ihres Volkes ausgesetzt. Sicher verbrannten sie Rakna als Hexe auf dem Scheiterhaufen, andernfalls warfen sie sie den Hunden zum Fraß vor. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, stand er schon in voller Größe vor ihr. Ein gehässiges Grinsen breitete sich über sein grausames Gesicht aus und er begann mit geschwollener Brust zu sprechen:

„Na? Wer ist jetzt der Überlegene? Hättest dich nicht so aufblähen sollen. Kein Wunder, dass du die Missgeburt verteidigt hast, bist ja selbst eine. Nun wirst du sterben, Rakna Wolfshaut.“ Mit diesen Worten hob er seinen schweren Morgenstern, ihr blieb nichts, als ihre Hände schützend über ihren Kopf zu halten. Sie schloss die Augen und erwartete schon den dumpfen Aufprall der Waffe zu verspüren, doch stattdessen merkte sie einen starken Arm, der sich von hinten um ihre Taille legte. Die vollkommen verwirrte Rakna hatte das Gefühl, als würde sie durch das Erdreich fallen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch einen goldenen Schimmer und das Gesicht des entsetzten Barbas. Dann verschwand das Bild und sie schlug klatschend auf schlammigen Boden auf. Der zornige Krieger war verschwunden, das Tor zur anderen Welt hatte sich geschlossen und um sie tobte plötzlich der Wind.

Es regnete stürmisch. Rakna spürte, wie sie nass wurde. Um sie herum bogen sich die Bäume durch die kräftigen Böen des brausenden Sturmes. Der Boden unter ihr war vollkommen durchweicht, was es ihr erschwerte aufzustehen. Ein Blitz zuckte über ihr und für einen winzigen Augenblick erkannte sie den Mann, welcher ihr soeben das Leben gerettet hatte.

„Seid Ihr Rakna Wolfshaut?“, fragte er.

Fenrick

Vor Rakna stand ein hochgewachsener Elf. Er war von schlanker Statur und aschfahler Haut. Sein Haar war, wie das von Helgi, weiß wie Schnee und seine Augen glänzten eisblau, wie die Oberfläche des Sees in Wintertagen. Diese wurden von einer herabhängenden hellen Strähne leicht verdeckt. Rechts und links ragten spitze Ohren unter dem Schopf hervor. Er hatte ein markantes Gesicht, mit hohen Wangenknochen und einem geradlinigen Kinn. Die Rüstung, welche er trug, glich schwarzem Onyx, der hier und da von hellem Stein durchzogen war. Der Elf war mit Schulterpanzer und Panzerhandschuhe ausgerüstet, die Oberarme waren frei. Rakna bemerkte, wie sich deutlich seine Muskeln unter der Haut abzeichneten. Die Beine waren komplett gepanzert. Dazu trug er stählerne Schuhe, die eine Waffe sein konnten, denn sie endeten vorn in einer gefährlichen Spitze. Doch während Rakna bis auf die Knochen durchnässt war, schien das Wasser den Fremdling zu umgehen. Die Wassertropfen trafen zwar auf dem Haar und der Haut des Elfen auf, aber sie perlten ab und hinterließen keine Spur ihres Daseins. Auf seinem Rücken erkannte Rakna den Knauf eines Kriegshammers, der dem Anschein nach, reichlich mit Spitzen versehen war. Das Außergewöhnlichste an diesem Elfen war jedoch die Stimme. So kriegerisch und muskulös er auch wirkte, sein Tonfall war das komplette Gegenteil. Kräftig und tief, doch in jedem seiner Worte schwang ein sanfter Unterton mit. Dennoch traute sie dem Fremden nicht. Rakna hatte mit Lynthriell gerechnet. Wieso war sie nicht gekommen? Oder war er etwa nicht ihretwegen hier und alles war eine Falle? Einerseits war sie dankbar dafür, dass sie nicht von ihrem Volk ausgelöscht worden war, aber dennoch fühlte sie sich nicht in Sicherheit. Rakna musste eine Entscheidung treffen. Doch im Augenblick schuldete sie dem Fremden eine Antwort.

 

„Ja ich bin Rakna.“, sagte sie knapp.

„Aber wer seid Ihr? Ich hatte mit Lynthriell gerechnet.“, fragte sie weiter. Wenn er im Schilde führte, sie umzubringen, so wäre es besser, sie erfuhr es gleich, bevor sie in eine Falle tappte. Doch der Fremdling hatte keine Zeit ihre Frage zu beantworten, denn augenblicklich ertönte ein nervenzerfetzendes Geräusch. Es drang in ihren Kopf ein, wie eine Pfeilspitze und ließ sie vor Schmerz zusammenfahren. Obwohl sie ihre Hände auf die Ohren presste, wurde der Ton nicht leiser. Es war, als wäre er in ihren Gedanken.

„Sie haben uns entdeckt! Schnell weg hier!“, schrie der Elf und packte Rakna am Arm, um sie wegzuziehen. Keinen Moment zu früh, denn in diesem Augenblick landete ein feindliches Geschoss genau an der Stelle, wo Rakna eben noch gestanden hatte. Was war hier los? Wie hatten sie ihre Ankunft so schnell bemerkt? Sie hatte keine Wahl. Wollte sie lebend hier wegkommen, musste sie dem fremden Elfen folgen. Er zog sie hinter einen steinernen Vorsprung, um dann aus dem Versteck heraus Ausschau zu halten. Rakna vernahm, wie neben ihnen weiter Geschosse auf die nasse Erde niederprasselten. Ein Pfeil schoss wenige Zentimeter am Kopf des Fremden vorbei und er war gezwungen, sich schützend hinter den Felsen zu kauern. Mit einer schnellen Bewegung hatte er einen kleinen Dolch aus seinem Waffengürtel gezogen, den er am rechten Bein trug. Er warf ihn in Richtung des Angreifers. Das dumpfe Geräusch eines am Boden aufschlagenden Körpers, ließ vermuten, dass er getroffen hatte. Jetzt spurteten beide los, Rakna dem Fremden immer auf den Fersen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie erreichten eine steinerne Brücke. An manchen Stellen hatte die Witterung ihr unbarmherzig zugesetzt. Einige Steine waren schon vollkommen zerbröselt. Hier und da wirkte es, als hätten menschengroße Geschosse die Mauern des Bauwerks erschüttert. Darauf standen weitere Elfen in Rüstungen. Doch anders als bei Fenrick, schienen diese nur aus Holz zu sein. Dafür umhüllten sie den Träger komplett. Das Einzige was herausschaute, war die wenige Haut, die ihre Augen umgab. Sie patrouillierten auf der Brücke, welche Raknas Weg in die Freiheit war. Immer wieder hielten beide inne, um sich nach vermeintlichen Angreifern umzuschauen. Nachdem sie die Patrouille eine Weile beobachtet hatten, drehte er sich zu ihr um, packte sie an den Schultern und blickte ihr direkt in die erschrockenen Augen.

„Ihr müsst hierbleiben, habt Ihr verstanden? Ich bin gleich wieder da.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er auf die Brücke und duckte sich hinter eine Säule. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der perfekte Moment gekommen war und er nutze ihn. Mit einem einzigen gezielten Hieb unter den Helm schlug er die Patrouille nieder, welche in die entgegengesetzte Richtung gespäht hatte. Mit einem kurzen Wink deutete er Rakna an, dass sie ihm gefahrlos folgen konnte. Als sie auf Höhe des Leichnams war, nutzte sie ihre Chance und stibitzte heimlich den kleinen Dolch, welchen der Elf neben der toten Wache liegen gelassen hatte. Das Schwert oder den Bogen hätte sie bevorzugt, doch es wäre zu auffällig gewesen und Rakna wusste nicht, ob sie dem Elfen trauen konnte. Aber die winzige Stichwaffe war leicht, zu verstecken, ohne dass er es bemerkte. Inzwischen schlug er zwei weitere Wachen nieder und machte somit den Weg, in den dichten Wald, frei. Rakna hatte Mühe dem Elf zu folgen, denn er war unwahrscheinlich schnell. Selbst als sie den Waldrand erreichten, hielt er nicht inne. Sie rannten tiefer in den Laubwald, die Bäume standen eng gedrängt aneinander. Es folgte eine Lichtung und eine zweite und dann noch eine. Jedes Mal dachte Rakna, sie wären am Ziel angekommen, doch der Elf schaute nur kurz nach ihr, danach bog er wieder ab und spurtete weiter. Erst als Raknas Beine sie fast nicht mehr trugen, hielt er inne. Ihre Lunge brannte. Sie musste sich mit den Händen auf die Knie stützen, um überhaupt auf den Füßen zu bleiben. In kräftigen Zügen atmete sie die feuchte Luft ein, als der fremde Elf auf sie zu kam und erneut zu ihr sprach.

„Lynthriell hat mich geschickt, Euch zu holen. Ihr konntet Schritt halten. Das hätte ich einem Menschen wie Euch gar nicht zugetraut.“ Einem Menschen wie ihr? Was bei den Göttern bedeutete das? Wirkte sie auf ihn etwa nicht stark genug? Sie war fest entschlossen zu zeigen, was in ihr steckte. Als er bis auf zwei Schritte an sie herangetreten war, zückte sie ruckartig den Dolch und hielt das kalte Metall an seine Kehle.

„Wieso sollte ich Euch vertrauen, Elf? Ich weiß nicht einmal wer Ihr ...“

Ein kräftiger Schlag mit dem Ellenbogen traf sie unerwartet hart an der Hand und der kleine Dolch flog im hohen Bogen davon. Rakna hechtete ihm hinterher, aber der Elf war ihr überlegen. Kaum, dass ihre Muskeln zum Sprung ansetzten, hatte er schon seinen Kriegshammer gezogen und wies damit drohend auf sie. Obwohl Rakna ihn soeben angegriffen hatte, lächelte er.

„Es ist weise, mir zu misstrauen ...“, sagte er und nahm die Waffe wieder herunter.

„Aber ich bin hier, um zu helfen, und nicht, um Euch hinters Licht zu führen.“ Daraufhin wandte er ihr den Rücken zu, holte den kleinen Dolch zurück und reichte ihn ihr.

„Würde ein Feind Euch eine Waffe geben?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie fragend an. Rakna wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Also nahm sie die Klinge wortlos entgegen und steckte sie zurück in ihren völlig durchnässten Lederschuh. Immer noch goss es wie aus Eimern und der Wind zerzauste ihr Haar. Unsicher, wie sie sich jetzt verhalten sollte, fragte sie ihn trotziger, als sie es beabsichtigt hatte:

„Warum ist Lynthriell nicht selbst gekommen?“

„Es ist ihr nicht möglich. Ich empfehle, nicht weiter darüber nachzudenken. Es würde sowieso nichts nutzen. Mein Name ist Fenrick.“ Er reichte ihr die Hand.

Er sagte es mit solch einer Schärfe in der Stimme, dass Rakna es nicht wagte nachzuhaken. Der Elf selbst war es, der das Wort wieder ergriff.

„Wir sind vorerst außer Gefahr, aber nicht an unserem Ziel. Beeilen wir uns, es wird bald dunkel. Dann kommen neue Bedrohungen, denen Ihr mit einem Dolch besser nicht gegenübertretet.“

Eine ganze Weile liefen sie über den weichen Waldboden und weit verzweigte Wurzeln, bis sie eine bergige Landschaft erreichten. Hier waren alle Steine, Bäume und Sträucher mit Flechten überzogen und es roch stark nach Pilzen. Fenrick führte sie ein Stück näher zum Berg, wo Rakna einen unscheinbaren Höhleneingang entdeckte. Er war so ausgezeichnet versteckt, dass man ihn erst erkannte, wenn man direkt davor stand. Darin war bereits eine Feuerstelle angelegt. Sobald sie eintraten, wurden die Geräusche des tosenden Windes leiser und waren nur noch gedämpft zu vernehmen. Rakna beobachtete den Elfen, während er versuchte, ein Feuer zu entfachen. Dann erhellte ein warmes, prasselndes Licht die Höhle mit seinem orangenen Schein.

„Ihr solltet aus den nassen Sachen raus. Ich weiß, dass ihr Menschen leicht angeschlagen seid. Außerdem müssen wir Eure Wunden versorgen“ Fenrick stand bei diesen Worten auf und durchsuchte die hinterste Ecke des Gewölbes. Er bückte sich nach etwas, das Rakna nicht erkannte. Als er sich wieder erhob, hielt er weißen Stoff in den Händen. Sie sah ihn argwöhnisch an, als sie das Gewand erblickte. Es war ein Nachthemd aus Leinen, am Rücken wurde es mit Bändern geschnürt, wie das Kleid, welches Martha in ihrer Hochzeitsnacht trug. Der Schreck, der sie jetzt durchfuhr, jagte ihr einen Schauer über den gesamten Körper und für einen kurzen Augenblick stockte ihr der Atem. Ob ihre Freundin die Heirat fortsetzen konnte? Würde sie überhaupt stattfinden? Ihre Gedanken rasten und schließlich kam Rakna ihr eigener Vater in den Sinn. Ob er für ihre Flucht bestraft wurde? Was wäre, wenn sie ihn für Raknas Taten zur Verantwortung zogen. Zuletzt galt ihre dunkle Überlegung Helgi und es lähmte sie vor unausgesprochener Wut und Angst. Sie hatte das kleine Mädchen verteidigt, um sie zu schützen. Nun würde sie noch mehr Leid erfahren. Rakna konnte nicht länger hierbleiben, sie musste augenblicklich zurück in ihre Welt und ihren Lieben helfen. Ohne ein Wort stand sie auf. Die Aufregung war anscheinend von ihrem Gesicht abzulesen, denn Fenrick erhob sich ebenfalls.

„Ich habe doch gesagt, ich werde Euch kein Leid zufügen!“

„Ich muss sofort zurück in mein Dorf. Mein Vater ...“, rief Rakna aufgebracht.

„Das ist nicht gestattet.“ Er sagte es so bestimmend, dass die junge Frau die Wut packte.

„Ihr versteht nicht! Mir ist egal, was Ihr bewilligt oder nicht, Elf, aber ich werde jetzt zu meiner Familie gehen, sie ist in Gefahr und es ist unrecht sie im Stich zu lassen.“

„Nein, Ihr begreift nicht! Ihr könnt nicht zurück. Das Tor ist auf unbestimmte Zeit versiegelt. Es lässt sich nur mit einem Siegelstein öffnen. Den einzigen Stein, den ich besaß, hab ich genutzt, um Euch zu retten. Ihr seht also, heute Nacht könnt Ihr nicht zurück.“ Rakna wollte nicht glauben, was sie da hörte. Sie war hier gefangen. Unwissentlich hatte sie eine Reise ohne Wiederkehr angetreten. Sie verspürte, wie hilflos sie sich fühlte und dieses Gefühl trieb sie in den Wahnsinn. Ihr war bewusst, dass sie ungerecht gegenüber Fenrick war. Doch ihre Panik ließ ihre Stimme laut werden.

„Wieso brachtet Ihr mich hier her? Wenn Ihr das wusstet, warum habt Ihr mich in dieses Land mitgenommen?“ Ihre Gefühle übermannten sie und ihre Augen wurden feucht. Rakna wollte ihre Schwäche vor dem Fremdling nicht zeigen und so drehte sie sich weg von ihm. Vereinzelte Tränen kullerten über ihre Wangen, doch sie schaffte es, das Schluchzen, was sich jetzt anbahnte, zu unterdrücken. Fenrick hatte sich lautlos genähert und legte seine Hand auf ihre Schulter. Die Berührung kam für Rakna so überraschend, dass sie leicht zusammenzuckte.

„Es tut mir wirklich leid Rakna. Ich hoffe, dass mit deiner Familie alles in Ordnung ist. Aber wir können nichts für sie tun.“ Sie war noch immer aufgebracht, doch der sanfte Klang seiner Stimme ließ ihre Tränen verebben. Er reichte ihr das weiße Gewand und sie nahm es wortlos entgegen. Fenrick drehte sich auf dem Absatz um und stellte sich in den Ausgang der Höhle. Mit dem Rücken zu ihr stand er da und sah in den verregneten Wald. Rakna wusste, dass er ihr damit etwas Privatsphäre ließ. Trotzdem war es für sie ein komisches Gefühl. Niemand, außer ihrem Vater, hatte sie je nackt gesehen und nun war sie gezwungen sich vor einem vollkommen Fremden zu entblößen. Aber Fenrick hatte Recht. Die Kälte war ihr schon in die Knochen gekrochen und erst jetzt spürte sie, dass sie zitterte. Außerdem saß sie hier fest. Wenn sie erkrankte, wäre ihrer Familie auch nicht geholfen. So beschloss sie, sich zu fügen und das trockene und überraschenderweise weiche Nachtgewand anzuziehen. Kaum, dass sie das Gewand übergeworfen hatte, stellte sie beschämt fest, dass sie es alleine nicht schließen konnte. So sehr sie es auch versuchte, immer wieder rutschten ihr die Schleifen aus den Fingern. Selbst als sie es anders herum anzog, um es von vorne zu schnüren, gab es letztendlich keine Möglichkeit, das Gewand in die ursprüngliche Position zu drehen. Dementsprechend schaute ihre gesamte Brust zwischen den Bändern hervor. Ihr wurde klar, dass sie ohne Fenricks Hilfe nicht weiter kam. Er stand noch immer breitbeinig im Eingang der Höhle und sah in die Ferne. Rakna streifte das Gewand wieder über, sodass die Schnürung am Rücken war. Kleinlaut und barfuß durchquerte sie ihren Unterschlupf und lief zu Fenrick. Dieser drehte sich verblüfft zu ihr um.

 

„Könntet Ihr ...?“ Sie brauchte den Satz nicht zu beenden, denn er nickte bereits. Daraufhin wandte sie ihm den Rücken zu und nahm ihre Haare nach vorn. Wortlos begann er das Gewand zuzuschnüren. Plötzlich unterbrach er sich in seiner Arbeit. Statt mit dem Verschnüren fortzufahren, schob er den Stoff an Raknas rechter Schulter herab und entblößte das schwarze Mal. Rakna spürte, wie in ihr die Hitze aufstieg und sie rot wurde. Er jagte ihr einen neuerlichen Schauer über den Rücken. Fenrick hatte keine Scheu die Zeichnung des Dämons zu berühren. Trotz ihres ungezogenen Benehmens schien er nicht wütend auf sie zu sein. Im Gegenteil, er war nur ernst. War es für ihn selbstverständlich, sie zu retten? Die anderen Elfen waren offensichtlich nicht erfreut, sie hier zu haben. Raknas Angriff hatte er hingenommen, hatte sogar Verständnis gezeigt. Der hochgewachsene Elf riss sie aus ihren Gedanken.

„Hat sich das Mal in den letzten Jahren verändert? Hattet Ihr vielleicht irgendwann mal Schmerzen?“

„Nein, es ist schon seit Beginn so. Wieso? Ist das etwa möglich?“ Rakna war froh, dass sie wieder miteinander sprachen. Irgendwie war es unheimlich, wie er sich stumm ihr Mal besah. Ihre Antwort genügte ihm offensichtlich, denn er schloss jetzt auch die restlichen Bänder. Anschließend setzte er sich ans Feuer und Rakna folgte ihm, gespannt auf seine Reaktion. Er ließ sich Zeit, bis er etwas erwiderte.

„Es ist durchaus in der Lage sich zu verändern. Solltet Ihr z.B. schwer verletzt werden oder erkranken, dann breitet es sich aus. Das kann ebenfalls geschehen, wenn die Seele beschädigt wird.“

„Die Seele? Wie ist das möglich?“

„Durch einen schweren Schock oder Schicksalsschlag. Beispielsweise, wenn jemand stirbt oder etwas anderes passiert, das Euch seelisch leiden lässt.“ Es trat eine kurze Stille ein, bevor Rakna wieder das Wort ergriff.

„Was geschieht, wenn sich das Mal ausbreitet?“

„Das Mal ...“, antwortete er prompt. „... infiziert den Körper und Geist vollkommen und Ihr werdet zu Einer von ihnen.“ Diese Entgegnung weckte mehr Fragen in Rakna.

„Ich weiß nicht mal genau, was mich da gebissen hat!“

„Es war ein scheußliches Wesen! Wenn Ihr mich fragt, gibt es kein schlimmeres Geschöpf auf diesen Wegen. Was Ihr, unglücklicherweise, kennengelernt habt, ist eine Dämonenfürstin. Das Einzige, was ihr Freude bereitet, ist das Leid Anderer. Sie liebt es, zu töten. Es gibt nur einen Grund, warum sie ihr Opfer am Leben erhält. Nämlich, um dieses in ein Geschöpf ihres Gleichen zu verwandeln, und das erreicht sie durch ihren Biss. Ihr hattet unwahrscheinliches Glück, dass Lynthriell Euch gefunden hat. Normalerweise gibt es keine Rettung, wenn eine Fürstin zugebissen hat. Nur seltene Elfenmagie dämmt die Seuche ein und nur wenige von uns können sie wirken.“ So wie er es erzählte, klang es angsteinflößend. Das Mal auf ihrer Schulter widerte sie mehr denn je an. Beide wirkten nachdenklich, bis Fenrick sich erhob.

„Ihr solltet Euch ausruhen.“ Erneut marschiert er in den hinteren Bereich der Höhle und holte aus einer versteckten Truhe ein weiches Fell und eine gewobene Decke hervor. Beides reichte er Rakna und sie nahm es dankbar entgegen.

„Ich halte Wache. Das habe ich in meinem Dorf oft gemacht.“, bot sie ihm an, doch er winkte ab.

„Nein! Wir haben morgen einen weiten Weg vor uns und außerdem kann ich sehen, dass Ihr friert.“ Dann wandte er sich von ihr ab. Aber aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass er verstohlen lächelte. Gemächlich schritt er zum Höhleneingang und setzte sich, um die nächtliche Wache anzutreten. Der Sturm tobte immer noch und der Regen prasselte gegen das Gestein. Nachdem Rakna ihre Wunde am Arm versorgt hatte, breitete sie das braune Fell so vor dem Feuer aus, dass sie den Eingang und den schlanken Elfen im Blickfeld hatte. Sie war hin und her gerissen. Konnte sie ihm wirklich trauen? Obwohl er sie sowohl vor ihrem, als auch vor dem eigenen Volk gerettet hatte, verhielt er sich seltsam, wenn Lynthriell zur Sprache kam. Sein Blick wirkte abweisend und er antwortete nicht mehr. Tief in ihrem Inneren traute sie ihm bereits, doch ihr Bewusstsein warnte sie immer wieder vor etwaigen Unachtsamkeiten. Alles was sie über ihn wusste, war sein Name, sonst war er ein Fremder. Eben noch hatte sie das Gefühl, durch den heftigen Sturm, kein Auge zumachen zu können, als die Müdigkeit schon in ihre Muskeln kroch und die Lider schwer werden ließ. Nach kurzer Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlummer. Das Letzte, was sie an diesem Abend erblickte, war der unleugbar stattliche Elf. Das gestand sie sich mit ihren verbleibenden klaren Gedanken ein.

Ein merkwürdiges Klopfen weckte Rakna am nächsten Morgen. Helles Sonnenlicht fiel in die Höhle und tauchte alles in warme Strahlen. Durch den Spalt, der den Eingang bildete, erkannte sie erstmals grüne Laubbäume, welche rote Früchte trugen. Auf einem kleinen Stein am Boden saß ein Vogel, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Das Gefieder war grau, hier und da blitzten blaue Punkte und Streifen hervor. Die Federn am Bauch, wie der Schnabel, leuchteten von hellem Gelb. Mit den schwarzen Knopfaugen musterte er eine Nuss, die vor ihm zu Boden kullerte. Sie hatte durch seine Versuche, sie zu knacken, schon einen Sprung. Sein gleichmäßiges Klopfen schien Rakna geweckt zu haben. Als sie sich aufsetzte, flatterte der kleine Vogel davon. Außer ihm war niemand zu sehen. Im Handumdrehen hatte die junge Frau das Fell zur Seite geschlagen und war nach hinten gestürmt, um ihre Sachen zu holen. Erschrocken stellte sie fest, dass diese nicht mehr da waren. Stattdessen fand sie eine halb leere Truhe vor, in der nichts als ein paar Lumpen und nutzlose Flaschen aufbewahrt wurden. Sie eilte zum Höhleneingang, doch hier war keine Spur von ihrer Kleidung oder dem Elfen. Die warme Sonne blendete sie, sodass sie ihre Hände schützend vor die Augen hielt. Rakna brauchte einen Moment, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Sie ging ein Stück nach draußen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Langsam und allmählich erkannte sie ihre Umgebung. Durch den heftigen Sturm war gestern kaum etwas von der Landschaft zu erkennen gewesen. Doch jetzt entfaltete sich ihre ganze Schönheit. Die Bäume waren kräftig, als ob sie schon eine Ewigkeit ungezügelt wuchsen. Ihre knochigen Wurzeln ragten immer wieder aus dem Erdboden hervor und verwoben sich hier und da mit denen der anderen. Die Baumkronen trugen dichtes Blattwerk, sodass die einzelnen Blätter zunächst nicht voneinander zu unterscheiden waren. Erst als Rakna ein Stück näher herangetreten war, erkannte sie die seltsame Form des Laubes. Jedes sah aus wie eine grüne Feder, mit einem breiteren Schaft und vielen kleinen Federästen an denen weiche Strahlen nach außen verliefen. Als Rakna eines der Blätter interessiert zwischen die Finger nahm um es zu begutachten, entzog sich der Ast plötzlich aus ihrem Griff und bog sich gen Himmel, als ob er ihre Berührung nicht duldete. Entsetzt machte sie einen Satz zurück und zu allem Überfluss ertönte hinter ihr die Stimme des Elfen, was ihr Herz ein zweites Mal hüpfen ließ. Mit der Hand auf der Brust drehte sie sich zu ihm um.