Rakna

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Z serii: Rakna #1
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Lynthriell

Das Erste, was Rakna vernahm, war, wie der Schmerz in ihrer Schulter langsam nachließ. Sie vermochte es sich nicht zu erklären wieso. Lag es daran, dass sie im Sterben lag? Und war es so, dass im Tode, eine leise Stimme in einer fremden Sprache vor sich hin murmelte, bis der Schmerz nachgelassen hatte? Aber war es überhaupt möglich, im Tod noch was zu spüren? Rakna bemerkte, wie etwas Nasses auf ihre Stirn gelegt wurde. Wie merkwürdig! Nein, das konnte nicht Sterben sein. Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen und sich aufzurichten, aber sie war zu schwach und so gelang es ihr nur, durch ihre zusammengepressten Augenlider hervor zu spähen. Sie erkannte eine Frau vor sich. Doch diese wirkte nicht angsteinflößend. Sie besaß ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht mit langem, geschmeidigem, schwarzem Haar, das ihr bis zur Brust reichte. An beiden Seiten der Stirn hatte sie eine dünne geflochtene Strähne, welche sich am Hinterkopf verband. Ihre Augen waren von einem strahlenden Blau und von vollen langen Wimpern umgeben. Die Fremde, war deutlich größer als alle Frauen, die Rakna kannte. Sie trug ein weißes, transparentes Kleid über einem sonnengelben Unterkleid, welches eng um die Brust geschnürt worden war. Die Ärmel verliefen nach unten zu einer weiten Öffnung und zarte Hände ragten darunter hervor. Sie tupfte mit einem Tuch Raknas schweißnasse Stirn ab. Als sie bemerkte, dass das Kind wach war, sprach sie zu ihr mit besorgter Stimme:

„Du hast wirklich großes Glück gehabt. Wäre ich einen Moment später gekommen, hätte ich dir nicht mehr helfen können.“ Rakna versuchte sich aufsetzen, doch die Frau drückte sie mit sanfter Gewalt wieder zurück auf das Kissen.

„Du solltest dich ausruhen! Wir haben heute einen anstrengenden Tag vor uns. Es ist wichtig, dass wir dich in deine Welt zurückbringen.“ Endlich hatte das verwirrte Kind, die Stimme wieder gefunden. Zu Beginn fiel es ihr schwer, einen Ton hervorzupressen, doch dann sprach Rakna zögerlich und brüchig:

„Wer seid Ihr? Und wer war diese schreckliche Frau?“

„Mein Name ist Lynthriell und ich bin Bewohnerin des Luftvolkes des Elfenlandes. Die Kreatur, der du armes Kind begegnet bist, war keine Frau. Sie ist eine Dämonenfürstin und ihr einziges Ziel ist es, dir deine Lebenskraft zu entziehen. Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, nicht auszusprechen, was dann mit dir geschehen wäre.“ Die sanftmütige Frau sah zu Boden und schüttelte leicht ihren hübschen Kopf. Ihr Blick wurde ernst:

„Leider gibt es etwas, was ich dir sagen muss. Der Biss der Fürstin bringt grausame Begleiterscheinungen mit sich. Wird das Opfer dabei nicht getötet, so wird es doch mit dem gefährlichen Gift infiziert. Hindert man es nicht an seiner Ausbreitung, wird jedes Geschöpf, das damit befallen ist, in Ihres gleichen verwandelt. Ich habe es geschafft die Infektion in deiner Schulter einzuschließen, sodass sie sich nicht weiter ausbreitet und die Seele nicht verdirbt. Aber das Gift hat schon sein Mal hinterlassen und dagegen vermag ich leider nichts zu tun.“ Im selben Moment, als sie ihren Satz beendete, klopfte es laut an der Tür. Erschrocken wandte sie ihr elegantes Haupt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dann schaute sie wieder zu Rakna und legte einen Finger auf ihre Lippen, zum Zeichen, dass sie sich still verhalten sollte. Lynthriell schlich leise aus dem kleinen Raum und schloss die Tür hinter sich. Plötzlich wurde eine andere Tür aufgerissen und eine laute, tiefe Stimme ertönte. Sie sprach im strengen Ton:

„Es wurde ein Fremdling, aus dem Menschenreich aufgespürt. Die höchste Alarmstufe wurde ausgerufen. Ist Euch irgendetwas aufgefallen? Ihr wisst, wir müssen sie auslöschen, bevor Schlimmeres passiert.“ Mit kräftiger, bestimmter Stimme antwortete Lynthriell:

„Nein Herr, selbst wenn mir etwas ins Auge gefallen wäre, hätte ich gleich mit der Gebieterin gesprochen und nicht mit Euch. Ich kenne Euch! Ihr hättet, egal ob Freund oder Feind, Eure Lanze in den Menschen gebohrt! Das ist nicht meine Art, Valgas.“

„Nicht so vorlaut! Ihr steht schon unter Beobachtung. An Eurer Stelle würde ich mich zurückhalten!“ Mit einem gewaltigen Krachen wurde die Eingangstür zugeschlagen und schnelle Schritte verrieten der ratlosen Rakna, dass jemand auf dem Weg zu ihr war. Lynthriell kehrte zurück und ihr Gesicht war in tiefe Sorgenfalten gelegt.

„Beeilen wir uns! Sie verstärken schon die Wachen. Leider kannst du dich nicht länger ausruhen. Wir müssen dich hier wegbringen. Sonst ...“, sie unterbrach sich. Rakna verstand gar nichts mehr. Wieso erlaubte sie ihr nicht, hierzubleiben? Hier bei ihr, in Sicherheit! Warum versuchten alle, ihren Tod herbeizuführen? Sie hatte doch niemandem ein Leid zugefügt. Die Angst ergriff wieder von ihr Besitz. Die schöne Frau schien ihre Gedanken zu lesen, denn sie sagte:

„Hab keine Sorge, ich werde dir helfen. Die Elfen meines Volkes sind von Furcht geplagt. Angst vor Veränderung, die mit Fremden einhergeht und sie haben kein Vertrauen in die, die von einem Dämon gebissen wurden. Diese werden von hier verbannt, nicht auszusprechen, was sie dir antun würden. Ich aber habe dein Innerstes gesehen und du trägst nichts Böses in dir, auch wenn du ein Mensch bist.“ Als sie endete, fragte sich Rakna, was dies zu bedeuten hatte? War es so wichtig, woher sie kam? Ja, es gab einige feindselige Leute wie Ulrich, denen es Spaß bereitete, andere zu quälen und dabei Genuss zu empfinden. Aber das war einer von einem ganzen Dorf. Doch, um weitere Fragen zu stellen, blieb keine Zeit mehr. Rakna hörte hektische Stimmen und irgendeine davon sagte Lynthriell etwas, denn mit einer schnellen Handbewegung ihrerseits, schlossen sich wie von Zauberhand alle Fensterläden im Raum und eine Bodenluke öffnete sich. Darunter offenbarte sich eine hölzerne Leiter, welche nach unten führte.

„Steh auf. Uns bleibt keine Zeit mehr.“ Sie half Rakna auf die Beine und stütze sie, bis sie die Leiter erreicht hatte. Beide stiegen die vielen Stufen bis zum Boden hinab. Niemand konnte sie von hier aus sehen, denn dickes Blattwerk umgab sie, wie eine schützende Wand. Lynthriell schlich voraus und schaute, ob die Luft rein war. Dann wies sie Rakna mit einem Wink an, ihr zu folgen. War es klug einer Fremden nachzulaufen? Doch welche Wahl hatte sie sonst? Sie hatte die Möglichkeit ihr zu vertrauen und tiefe Enttäuschung zu erfahren, oder sie wurde gleich vom Rest des Elfenvolkes abgeschlachtet. Ihre letzte, verbleibende Hoffnung lag darin, dass die freundliche Art der fremden Frau keine Täuschung war. Also folgte sie ihr und sie liefen am Waldrand entlang, durch das schützende Dickicht der Blätter. Rakna spürte, angesichts des schnellen Rennens, wie ihr die Sinne wieder schwanden. Sie blieb an einem großen Stein gestützt stehen. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Die Gefährtin bemerkte ihre Schwäche, sie umfasste das kleine Mädchen an der Hüfte und trug sie vorwärts. Zurück auf der riesigen Blumenwiese, mit den herrlich duftenden Blumen, entdeckte Rakna etwas, das sie zuvor nicht gesehen hatte. An die Wiese schloss sich ein weites Feld aus dichtem hohen Schilf an. Es war dunkler als in der Menschenwelt und deutlich enger. Direkt davor war das geöffnete Tor zu sehen. Hinter den Beiden waren laute Stimmen und schnelle Schritte zu vernehmen. Lynthriell drehte sich nicht um, beschleunigte ihren Gang und zog Rakna jetzt geradewegs über die offene ungeschützte Wiese in Richtung des Tores. Erstaunlich rasch erreichten sie das Portal. In der Ferne waren die ersten Elfen zu erkennen, doch diese schienen sie nicht zu sehen. Lynthriell umklammerte fest den Arm des Mädchens. Bevor sie Rakna durch das Tor schob, sprach sie noch einmal im ernsten Ton:

„Sprich mit keinem über das, was heute passiert ist. Zeige niemandem das Mal der Dämonin! Halte es immer bedeckt, sonst werden die Menschen dich jagen. Vertraue keiner Menschenseele! Hier ...“ Mit diesen Worten streckte Lynthriell Rakna ihrer Handfläche entgegen.

„Nimm meinen Ring. Es liegt ein Zauber darauf. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, egal ob wegen eines Menschen oder etwas anderem, reibe an dem eingelassenen weißen Stein und es wird Hilfe zu dir eilen. Das Leuchten, welches erscheint, gibt dem Träger des zweiten Ringes das nötige Zeichen, um dir Beistand zu leisten.“ Lynthriell hob ihre Hand und Rakna sah genau denselben goldenen Ring an ihrem Finger.

„Jetzt geh.“ Die Elfenfrau versuchte Rakna durch das Portal zu schieben, als sich das kleine Mädchen nochmals zu ihr umdrehte.

„Ich heiße Rakna. Ich bin aus dem Hause Wolfshaut, das ist der Name meiner Familie.“ Zum ersten Mal sah sie Lynthriell lächeln. Es ließ sie umso strahlender erscheinen.

„Ich hoffe, wir treffen uns eines Tages abermals, Rakna aus dem Hause Wolfshaut.“ Somit schritt das Mädchen durch das goldene Portal und fand sich unter den geschwungenen Ästen des Weidenbaumes wieder. Erneut dämmerte es zur Nacht, aber dieses Mal erhellte der Mond den Himmel. So schnell sie ihre zitternden Beine trugen, rannte sie den vom Vollmond erleuchteten Weg nach Hause.

Als sie endlich die Brücke zu ihrem Dorf erreichte, schlich sie sich auf leisen Füßen bis zur Tür ihres Heimes und öffnete sie lautlos. Es brannte Licht im Inneren, aber niemand war zu sehen. Sie durchquerte den Hauptraum und spähte in die längliche Küche. Ein warmes Feuer loderte in der Feuerstelle und der angenehme Duft einer Gemüsesuppe hing in der Luft. Rakna konnte ihr Glück kaum fassen. Nachdem sie geglaubt hatte, nie wieder ihr Dorf zu sehen, geschweige denn ihren Vater, war sie jetzt in ihrem vertrauten Heim und alles würde so sein wie früher. Wie sehr sie sich irrte. Hinter ihr schlug die Tür zur Schlafkammer auf und Burk stand auf der Schwelle. Rakna stieß einen lauten Freudenschrei aus und rannte auf ihren vollkommen schockierten Vater zu. Sie umarmte ihn stürmisch. Zuerst kam keine Reaktion. Plötzlich packte er sie grob am Handgelenk und zog sie vom Fenster weg, in den Schatten des Hauses. Er begann mit zutiefst besorgter Stimme zu sprechen:

 

„Rakna? Wo kommst du her? Wo bist du gewesen?“ Seine Worte klangen hart und doch angsterfüllt, wie sie es niemals zuvor von ihm erlebt hatte.

„Aber Vater, freust du dich gar nicht, dass ich wieder da bin?“ Als sie in das bestürzte Gesicht schaute, bemerkte sie erstmals, dass er schrecklich alt geworden war. Tiefe Augenringe umgaben seine braunen Augen und Furchen von Sorge zeichneten die Stirn.

„Wir dachten alle, du seist tot, Rakna. Seit einigen Monden hat dich niemand mehr gesehen. Wir haben gedacht, du wärst wilden Tieren zum Opfer gefallen oder Schlimmeres. Keiner wusste, wohin du verschwunden bist. Jetzt, nach so langer Zeit, kommst du plötzlich wieder? Ohne einen Kratzer? Sag mir Rakna, wo bist du gewesen?“ Die ernsten und eindringlichen Worte ihres Vaters bereiteten ihr mehr Angst als all das, was sie bisher erlebt hatte. Seit vielen Monden schon, sagte er? Wie war das möglich? Sie hatte sich ihres Wissens nach, nur einen Tag in der Elfenwelt aufgehalten. Burk, ihr Vater, war so besorgt und entgeistert über ihr plötzliches Erscheinen, dass sie das Gefühl hatte, es wäre besser gewesen, sie wäre auf ihrer Reise gestorben. Diese Erkenntnis traf sie so hart, dass ihr urplötzlich die Tränen kamen. Sie erzählte in Begleitung von markerschütterndem Schluchzen, was passiert war. Wie sie sich in den Wald geschlichen hatten, wie sie überrascht worden waren und davon gelaufen sind. Wie sie Zuflucht unter dem Baum gesucht hatte und angezogen durch das Licht, in die andere Welt gekommen war. Sie erzählte von dem Biss der Dämonenfürstin und dass ein weiteres, gutartiges Wesen sie heilte und wieder hier her zurückbrachte. Nur den Ring erwähnte sie nicht. Rakna schaffte es keinen Augenblick länger, ihre Gefühle zu verbergen, und sie weinte sich an der Schulter ihres Vaters aus. All ihr Leid, was sich bis dahin aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihr heraus. Er streichelte tröstend ihr Haar und hielt sie ganz fest, sodass sich Rakna beruhigte. Dann sagte er mit unumstößlichen Willen:

„Ich werde mir etwas ausdenken, was wir den Anderen erzählen. Mach dir keine Sorgen. Niemand wird dir ein Leid antun.“

Von Menschen und Kindern

Fast acht Jahre waren nach diesen Geschehnissen vergangen. Das kleine Dorf hatte sich kaum verändert. Noch immer leuchtete es jeden Abend in den orangenen Strahlen der untergehenden Sonne. Die Trauerweide bäumte sich, nicht weit von der Brücke entfernt, auf der großen Lichtung, ausladend in die Höhe. Die Menschen, die in diesem Dorf lebten, hatten sich jedoch deutlich gewandelt. Einige Zeit war vergangen und die kleine Martha war fast volljährig. Ihre Hochzeit mit Erik Ebertöter stand kurz bevor. Auch Rakna war erwachsen geworden. Sie hatte allerdings andere Pläne als ihre Freundin. Seit der Nacht, in der Rakna dem Tode so nahe gestanden hatte, schwor sie, zu lernen, wie sie sich selbst verteidigte. Und genau das hatte sie in den letzten Jahren umgesetzt. Da war keine Zeit für Liebesgeschichten. Sie wusste ohnehin nicht, wie sie jemals das Mal an ihrer Schulter erklären sollte. Ihr Vater schaffte es durch gute Verbindungen, wie er es immer nannte, ihr eine Ausbildung zur Wache zu verschaffen. Aber Rakna hatte sich fast bis zur Hauptmännin hochgearbeitet. Bald würde ihr von der Ältesten, mit dem entscheidenden Ritual, der neue Ehrentitel verliehen werden. Rakna war jetzt kein Kind mehr und ihre Ängste hatte sie längst abgelegt. Auch wenn diese Nacht vor acht Jahren ihr die Kindheit nahm, brachte sie ihr einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Doch das Meiste verdankte sie ihrem Vater. Er zog sie nicht nur nach dem Tod ihrer Mutter allein groß, sondern erdachte eine lückenlose Geschichte, wie Rakna es zwei Mondzyklen lang auf sich alleingestellt im Wald überlebt hatte. Er überzeugte alle, dass sie von einem kleinen Wandervolk festgehalten und versorgt worden war. Später gelang ihr die Flucht und sie war mit Reisenden ins Dorf zurückgekehrt. Keiner zweifelte bis heute an dieser Geschichte und niemand, außer ihr und ihrem Vater wusste, was in Wirklichkeit geschehen war. Das Mal auf ihrer Schulter verdeckte sie immer gewissenhaft. Doch das war nicht so leicht, denn es hatte sich von der Bissstelle aus, in dicke dunkle Streifen gespalten und in alle Richtungen ausgebreitet. Fast wie eine Ranke. Die Stelle war handgroß und hob sich deutlich von ihrer weißen Haut ab. Der viele Stoff, den sie deswegen meist trug, war bis zum Hals hoch geschnitten und ließ sie zugeknöpft und streng wirken. All das war ihrem Plan, Hauptmännin zu werden, durchaus zuträglich. Wegen all dieser Geschehnisse genoss sie heute hohes Ansehen im Dorf. Ihre vernünftige, strebsame Art gefiel den Leuten und doch wusste keiner, was der wirkliche Grund dafür war. Ihre Vorsicht und Distanz hatte aber auch zur Folge, dass Rakna einsam wurde. Der Gedanke sich jemandem zu öffnen, ängstigte sie. Selbst ihr Vater berührte niemals das Mal an ihrer Schulter. Wenn er ihre geschundene Haut sah, zeichnete sich in seinem Gesicht deutlich Abscheu ab. Doch Rakna konnte es ihm nicht verdenken, die Bissstelle widerte sie ebenfalls an. Einige Male dachte sie sogar, das Mal würde sich unter der Haut bewegen. Meist wenn sie aufgewühlt war. Aber sobald sie nachsah, fand sie keine Veränderung vor.

Es verblieben nur noch wenige Tage, bis sie endlich zur Hauptmännin ernannt werden würde. Täglich trainierte sie mit den anderen Wachen und oft war sie es, die zur Wachsamkeit aufrief. Aber heute war ihr freier Tag. Heute war sie nur Rakna. Diese Zeit nutze sie, um sich unweit der alten Trauerweide auszuruhen und dabei zu beobachten, ob sich dort irgendetwas regte. Oft hatte sie sich gewünscht, Lynthriell wieder zu begegnen, um sich für ihre Rettung zu bedanken. Insgeheim träumte sie davon, irgendwann in das fremde Land zurückzukehren, um es mit dem schrecklichen Geschöpf aufzunehmen, dem sie das abscheuliche Mal zu verdanken hatte. Oh, wie sie die Dämonen hasste! Doch sie wusste, dass sie als Mensch im Elfenreich nicht willkommen war. Außerdem regte sich unter dem Baum nie Etwas und nichts Seltsames war seit jener Nacht geschehen. Also blieb ihr Wunsch eben nur ein Traum.

Später an diesem Tag hatte sie eine Verabredung mit Martha. Es war der Abend vor Marthas Heirat und ihre Freundin wirkte seit Wochen schrecklich aufgeregt. Das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein, um für gleich zwei solcher großen Ereignisse hintereinander zu schmücken. Erst die Hochzeit des Sohnes der Ältesten und dann die Ernennung der neuen Hauptmännin. Alle Augen richteten sich auf diese beiden Anlässe. Anders als Martha verspürte Rakna keine Aufregung. Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht ewig an einen Mann binden würde, sondern nur an einen Titel. Leichten Schrittes begab sie sich zum Langhaus ihrer Freundin. In der Nacht vor der Hochzeit war es untersagt, dass sich das zukünftige Ehepaar sah, denn das brachte Unglück, so der Aberglaube. Stattdessen war es Brauch, dass ein Freund der Brautfamilie die Beichte abnahm und sie von ihren Sünden reinwusch. Rakna glaubte nicht an diesen Irrglauben, aber im Dorf war es ein beständiges Ritual und für Martha war es der aufregendste Tag in ihrem Leben. Zuerst würde sie, zusammen mit der Mutter und der Großmutter, das Haar der Braut mit Blumen schmücken, als Zeichen der Fruchtbarkeit und der ewigen Schönheit. Anschließend wandern die beiden Freundinnen zu einer nicht weit entfernten Quelle. An diesem Ort sollte sie dann Marthas tiefste Geheimnisse erfahren und sie mit einer rituellen Waschung von ihren Sünden befreien. Wieder zu Hause angekommen, würde Martha mit ihrer Jungfernrobe, das Mädchensein ablegen und mit dem angelegten Hochzeitsgewand, zur Frau werden. Bis zum Morgengrauen, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen über das Gras wandern lässt, warten die beiden Frauen gemeinsam, bis der Bräutigam seine Braut schließlich abholte, um mit ihr das neue Leben zu beginnen. Auch Rakna hatte sich heute, ganz nach dem Brauch, besonders festlich gekleidet. Sie trug seit vielen Jahren erstmals wieder ein Kleid. Extra hoch geschnitten, in einem traditionellen Grün, denn das ist die Farbe der Hoffnung. Es hatte anliegende Ärmel, die bis zu den Handgelenken reichten und einen Kragen, der in einem kurzen V-Ausschnitt endete. Brust und Taille waren mit einer silbernen Knopfreihe verziert und der Saum des Kleides fiel in lockeren Falten über ihr Knie. Darunter trug Rakna dennoch eine Hose. Es war für sie normal geworden sich zu verhüllen. Zum Einen, um den Schein zu wahren, sie sei ein ganz gewöhnliches Mädchen ohne irgendwelche Makel. Zum Anderen, weil sie eine Abneigung gegen ihre Beine hegte. Sie hasste den Anblick ihrer Waden. So viel sie auch trainierte, schaffte Rakna es dennoch nicht, ihre Unterschenkel muskulös aussehen zu lassen. Deshalb war es ihr nur recht, sie zu verhüllen. Ihre Haare waren wie immer zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, doch heute hatte sie, statt eines einfachen schwarzen Bandes, ein passendes grünes Haarband mit weißen Blumen gewählt. Über ihre feinen, braunen Lederschuhe freute sie sich besonders. Sie trug die Schuhe gern, denn sie waren unglaublich bequem und man schwitzte nicht in ihnen. Angesichts der bevorstehenden Feierlichkeiten, war sie heute ausgesprochen guter Laune. Mit federndem Gang durchquerte sie das kleine Dorf. Hier und dort grüßte man sie fröhlich oder nickte ihr zu. Als sie vor der hölzernen Tür ihrer Freundin angekommen war, erhob sich schon ein aus feinen, weißen Rosen geflochtener hoher Bogen. Er war der erste Vorbote, für das, was hier heute Nacht geschehen würde. Aus dem Inneren vernahm man laute Geräusche, die ganz nach Marthas barschen Anweisungen klangen. Rakna trat unter den Rosenbogen und klopfte zwei Mal kräftig. Für einen Moment wurde es still. Die Tür wurde aufgerissen und Martha warf sich in ihre Arme.

„Endlich! Ich warte schon seit Stunden und bin fürchterlich aufgeregt. Schick siehst du aus, konntest dich wohl doch nicht von deinem Hosenboden trennen. Na ja, so bist du eben. Immer anständig.“ Martha lächelte kokett und winkte ihre Freundin zu sich herein. Im Haus liefen die Vorbereitungen schon auf Hochtouren. Einige Leute flitzten eilig umher, um etwas zu holen, zu bringen oder anderes zu erledigen. In der Küche befanden sich so viele Menschen, dass kein Zentimeter Platz mehr war, um irgendetwas abzustellen. Und so schubsten und drängelten sich die Leute aneinander vorbei und nicht selten hörte man etwas auf dem Steinboden zerschellen. Martha rief aus einem der hinteren Zimmer nach Rakna und sie beeilte sich ihrer flinken Freundin hinterherzukommen. Sie betrat das Schlafgemach der Eltern. Ein großer Spiegel war hier aufgestellt worden. Weitere weiße Blumen standen auf dem Boden, um sie gleich in das Haar der Braut einzuflechten. Jetzt erschienen Marthas Mutter und Großmutter, mit Bändern so rot wie Blut. Diese waren Bestandteil ihrer Brautfrisur. Rakna hielt sich, beim Flechten, zum größten Teil zurück. Sie war ausgezeichnet darin die Axt zu schwingen oder drei Männer gleichzeitig abzuwehren, aber Flechtarbeiten hatte sie seit Kindertagen nicht mehr ausprobiert und es lag ihr fern, die Frisur ihrer Freundin zu ruinieren. Martha war doch so leicht zu erschüttern.

Als sie endlich fertig waren, begaben sich die beiden Frauen, laut plaudernd, auf den Weg. Sie sprachen über Erik, wie liebevoll er um Marthas Hand angehalten hatte. Martha berichtete über die große Freude ihrer Eltern in Bezug auf die bevorstehende Hochzeit und auch von dem hohen Titel von Rakna. Ein weiteres Thema kam zur Sprache. Ganz zu Raknas Leidwesen. Immer wieder ärgert Martha sie damit, dass sie sich absolut nicht auf einen Mann einlassen wollte. Mit fast neunzehn Lebensjahren war Rakna im heiratsfähigen Alter. Es hatte schon einige Verehrer gegeben, doch sie lehnte alles Werben ab. Es gab niemanden, dem sie genug vertraute, um ihn in ihr Geheimnis einzuweihen, und somit hatte sie beschlossen sich Keinem aus dem Dorf anzuvertrauen. Dies war der Grund, warum sie hoffte, dass sich das Tor an der Weide erneut öffnete. Hier gab es niemanden, der das Mal nicht verabscheute. Würde hier irgendjemand davon wissen, was sie unter ihrer Kleidung versteckte, wäre sie dem Tode geweiht. Wahrscheinlich wurde sie von dem eigenen Ehemann schneller hingerichtet, als dass sie ihre Geschichte erzählen könnte. Doch im Elfenreich gab es Jemanden, der Rakna geholfen hatte, obwohl sie das Mal trug. Sie dachte an Lynthriell.

Allerdings hatte es einst einen Jungen aus ihrem Dorf gegeben, den sie einmal gern gehabt hatte. Dieser war ebenfalls an ihr interessiert. Dior wurde zusammen mit ihr als Wache ausgebildet. Eine Zeit lang verbrachten sie jeden Tag miteinander. Bis er irgendwann, ehrlich um sie warb. Er war der erste Junge, der es versuchte. Am Anfang hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, sich ihm anzuvertrauen und einzuweihen. Andererseits hatte sie die Warnung von Lynthriell nicht vergessen und sich eine Prüfung für ihn ausgedacht. Eines Abends lud sie ihn ein, sie zur Trauerweide zu begleiten. Zusammen hatten sie sich auf dem Waldboden, nicht weit entfernt, niedergelassen. Sie erzählte ihm eine Geschichte, in der sich ein geheimnisvolles Tor unter der Weide öffnete und ein fremdartiges Wesen daraus hervor trat. Dann hatte sie ihm folgende drei Fragen gestellt.

 

Würdest du diesem Geschöpf in Not helfen?

Lieferst du es an die Anderen aus?

Tötest du es sofort?

Die Antworten des Jungen waren ehrlich, aber eine große Enttäuschung für Rakna. Wäre sie ihm in der fremden Welt über den Weg gelaufen, hätte er sie verraten und auf der Stelle ermordet. Wie würde er erst auf ihr Dämonenmal reagieren? Ihre Zuneigung war an diesem Abend erloschen und seine Chance vertan. Es war kein Geheimnis geblieben, dass ihre anfänglichen Gefühle mit einem Schlag abgeklungen waren. Besonders Martha war an den Gründen interessiert, doch Rakna hatte sich dazu nie geäußert.

In der Zwischenzeit erreichten die jungen Frauen die Quelle und Martha versuchte, das alte Thema wieder aufzunehmen. Sie war sich sicher, heute, an diesem rührseligen Tag, Rakna endlich eine Antwort zu entlocken. Die ahnte jedoch schon die Absichten ihrer Freundin und wehrte das Drängen sofort ab. Alles was sie dazu sagte, war:

„Sollte ich jemals heiraten wollen, dann bist du die Erste, die es erfährt.“ Und damit war das Thema endgültig abgehakt. Martha wurde plötzlich still. Jetzt war der Augenblick gekommen, der Moment ihrer Offenbarung. Rakna hatte, trotz der Sticheleien ihrer Freundin, Mitleid mit ihr. Denn es war nicht leicht, seine schlimmsten Geheimnisse preiszugeben und mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Martha senkte ihren schönen Kopf, der mit den weißen Blüten und den roten Bändern geschmückt war. Als sie ihn nach wenigen Sekunden wieder hob, waren ihre Augen mit Tränen gefüllt. Die Beiden ließen sich auf den weichen Waldboden sinken und mit stockender Stimme begann sie zu sprechen.

„Es gibt da etwas, das ich dir erzählen möchte. Es sind nur Kleinigkeiten, bis auf eine Sache. Wegen dieser habe ich dich erwählt, meine Beichte, abzunehmen.“ Rakna versuchte sie zu trösten, doch Martha sträubte sich.

„Nein, bitte, hör einfach zu. Du weißt, bevor es Erik gab, war da noch ein Anderer, ein geheimer Verehrer. Ich habe nie jemandem gesagt, wer es war. Ich rechtfertigte mich damit, dass es nichts Ernstes war. Doch das ist nicht wahr. Er hat mir oft geschrieben und ich wusste zuerst nicht, von wem die Briefe waren. Aber eines Nachts haben wir uns getroffen. Ich war so gespannt zu erfahren, wer es ist. Wir haben uns an den Ställen kurz nach Sonnenuntergang verabredet und er ist dort tatsächlich erschienen! Rakna, es war Dior!“ Abrupte Stille trat ein. Es verschlug ihr den Atem und dennoch wollte sie wissen, was dann passiert war.

„Aber das war nicht alles. Er hat mir in dieser Nacht meinen ersten Kuss genommen. Ich sagte ihm, dass wir uns nicht mehr wiedersehen können. Ich habe mich so geschämt, er war doch dein Freund. Er hatte schon um dich geworben. Wenige Tage später hast du dich dann von ihm abgewandt. Bitte sag mir, wusstest du es? Sag die Wahrheit.“ Rakna unterdrückte augenblicklich ein Lächeln. Natürlich hatte sie nichts davon gewusst, aber das war auch egal. Sie hatte bereits festgestellt, dass er nicht würdig war, ihr Geheimnis zu erfahren. Marthas Erzählung bestätigte das nur. Rakna nahm ihre Freundin bei der Hand und antwortete mit sanfter Stimme:

„Ich wusste nichts davon. Ich habe mich von ihm abgewandt, weil er etwas Entscheidendes nicht zu tun vermochte. Ja es stimmt schon, Dior ist stark und schlau, aber er handelt zügellos, ohne über Recht und Unrecht nachzudenken. Martha, wie kann ich mich so jemandem hingeben? Was du mir erzählst, macht mich nicht wütend oder traurig. Es zeigt mir nur, dass ich richtig entschieden habe.“

Marthas Mundwinkel wandelten sich zu einem schwachen Lächeln. Sie zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase, bevor sie wieder das Wort ergriff:

„Aber da ist noch etwas. Erinnerst du dich an die Nacht, als du verschwunden bist?“

„Als wäre es gestern gewesen!“, erwiderte Rakna verdutzt. Sie war gespannt, was jetzt wohl kommen würde. Hatte Martha etwas gesehen und es all die Jahre für sich behalten?

„Erinnerst du dich an meine Geschichte über die Trauerweide?“

„Na ja, nicht wörtlich.“, antwortete Rakna und bereitete sich innerlich schon darauf vor, dass gleich die Bombe platze. Doch unerwartet sagte Martha:

„Es war meine Schuld. Wegen mir sind wir alle aufgeschreckt und weggerannt. Nur weil ich das gesagt habe, wurdest du verschleppt und warst gezwungen wochenlang bei Menschen zu leben, die du gar nicht kanntest. Ich war verantwortlich und nichts was du sagen könntest, macht es ungeschehen oder rechtfertigt es.“ Die Dämme brachen und über Marthas Gesicht flossen die Tränen wie in Strömen. Sie schluchzte und es schüttelte sie vor Reue am ganzen Leib. Rakna nahm sie fest in die Arme und sie war froh, dass ihre Freundin es zuließ. Erst als Martha sich ein wenig beruhigt hatte, antwortete Rakna:

„Ja, du warst schuld daran, dass wir weggelaufen sind. Aber es war nicht dein Verdienst, dass mich diese Menschen mitgenommen haben. Außerdem bin ich dir dankbar dafür.“ Bei ihren Worten schnellte ihr hübscher Kopf nach oben und Martha sah verwirrt in das ernste Gesicht Raknas.

„Ich bin dir dankbar, denn dieses Erlebnis hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Es hat mich früh gelehrt, auf mich aufzupassen, und jetzt bin ich in der Lage, auf dich acht zu geben. Ich habe dich nie als Verantwortliche gesehen und damit werde ich heute bestimmt nicht anfangen.“ Sie lächelte, die vollkommen verdutze Martha an, die vor lauter Verwirrung ganz vergaß, zu weinen. Während sie die junge Braut betrachtete, konnte sie, trotz der Dämmerung, hinter ihr Etwas erkennen. Es war ein leichtes Flackern in der Ferne. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. War es möglich, dass sich ausgerechnet heute Nacht das Tor öffnete? So lang hatte sie darauf gewartet und nichts war geschehen. Martha schien ihre gedankliche Abwesenheit zu bemerken, denn sie sagte jetzt eindringlich:

„Heißt das, du verzeihst mir?“ Nun war es Rakna, die kurz verwirrt war. Das flackernde Licht hatte sie vergessen lassen, wer da erwartungsvoll vor ihr saß.

„Natürlich bedeutet es das! Wenn das schon alles war, was du zu bieten hast!“ Sie zwang sich zu einem weiteren Lächeln. Martha schien ihre Antwort nicht merkwürdig zu finden, denn sie erwiderte mit leuchtenden Augen:

„Nein, mehr ist es nicht. Obwohl! Ich war als Kind immer neidisch auf deine reine, weiße Haut. Aber im Ernst, das war alles.“ Mit diesen Worten beugte sich Martha nach vorne und wusch mit dem kalten Wasser der Quelle ihr Gesicht und ihre Arme. Rakna war dankbar für den kurzen Moment der Ablenkung. So war es ihr möglich, noch einmal einen verstohlenen Blick in Richtung der Trauerweide zu wagen. Das Flackern war erloschen. Enttäuscht wandte sie sich wieder Martha zu und fuhr mit dem Ritual fort. Wie es die Tradition verlangte, träufelte sie eine Handvoll klaren Wassers über Marthas Haupt. Danach erhoben sich die Beiden und nach einem kurzen Blick von Rakna zurück, auf den geheimnisvollen Baum, traten sie den Rückweg an.