Rakna

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Z serii: Rakna #1
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Josephine Becker

Rakna

Das Geheimnis der Trauerweide

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Roman

Prolog

Die Trauerweide

Lynthriell

Von Menschen und Kindern

Fenrick

Das Erdreich

Zwei Neuankömmlinge

Stärke oder Schwäche

Letzte Rettung

Gewagtes Vorhaben

Eine zweite Seele

Hochmut

Recht und Unrecht

Strafarbeit

Tears und Tränen

Die Vorhersehung

Wiedersehen und Abschied

Aufbruch

Die Frau mit den zwei Gesichtern

Zwischen Gut und Böse

Der letzte Schritt

Neubeginn und Ende

Zenturion

Eine Verbindung tut sich auf

Alte Bekannte

Der König Tharadors

Roter Schnee

Ein weiterer Traum

Der Hinterhalt

Impressum neobooks

Roman

An alle die daran glaubten,

Prolog

Der Tag neigte sich dem Ende, als ein finster dreinblickender Mann eilig seine letzten Geschäfte abwickelte. Die Menschen dieses Dorfes, welches direkt an einem großen See errichtet worden war, bereiteten sich auf die laue Sommernacht vor. Viele trafen, bei den verbleibenden Strahlen der Abendsonne, alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen für den dunklen Tagesabschnitt. Denn Sicherheit stand hier an oberster Stelle. Die Menschen, die am Rande des Waldes wohnten, verriegelten ihre Häuser sogar mehrfach, da von dort einst das Übel gekommen war. Genau an diesem Ort lebte der Mann namens Burk, welcher sich nun schnellen Schrittes dorthin aufmachte. Er wohnte zusammen mit seiner kleinen Tochter in der alten Langhütte. Sie hatte kaum zehn Winter durchgemacht, doch war schon jetzt mutig wie fünf Männer. Er liebte diese Wesensart an ihr. Aber genau jene Eigenschaft, übermäßig mutig zu sein, erschwerte ihm sein Leben oftmals. Es war damals ohnehin kompliziert für ihn gewesen, eine Erklärung für den plötzlichen Tod seiner Frau zu finden. Die Menschen des Dorfes hatten ihm lange Zeit nicht geglaubt, aber es war ihm in den letzten Jahren gelungen, sich eine gleichrangige Position unter den Leuten zu erarbeiten. Es war hart und die Bewohner tauschten ihre Ernte nicht so reichlich mit ihm, wie mit Anderen, aber es bewahrte sie vor dem Hungertod. Das gesamte Dorf war gläubig und den Sternengöttern wurden regelmäßig Feste und Opfergaben dargebracht. Jedem einzelnen Sternbild, zu jener Zeit, wenn es am höchsten am Himmel stand. Oft hatte er zu den Göttern gebetet, ihm einen Aufschub zu gewähren und Nahrung und ein warmes zu Hause zu senden. Aber nachdem ihre Situation jedes Mal nur noch unerträglicher wurde, hatte Burk den Glauben an sie verloren. Seine Tochter wusste von all den Schwierigkeiten nichts und nach einem weiteren Geschäft mit dem Dorfältesten, war es den Menschen, die in den unzähligen Langhäusern lebten, verboten worden, das Kind darauf anzusprechen. Ihr Oberhaupt war ein gescheiter Mann, auch wenn er die Angewohnheit besaß, sich vom Hauptmann vorschnell fehlleiten zu lassen. Burk war der Meinung, und dies dachte er erneut grimmig, dass Farghas ohne den Anführer der Wache besser dran wäre. Natürlich war es dienlich, dass man in seiner Position unnachgiebig und bedrohlich wirkte, doch der Hauptmann übertrieb es ein wenig damit. Als vor einigen Jahren das Schwert des Oberhauptes verschwunden war und es bei dem Sohn der Kräuterfrau gefunden wurde, stimmte er dafür, das Kind zu verstoßen. Es war so alt gewesen, wie Burks Tochter jetzt. Der Junge war dem Verlangen nachgegangen, die Klinge einmal in den Händen zu halten und beging damit den schweren Fehler. Noch heute erinnerte sich Burk an die mit Tränen gefüllten Augen des Kindes und wie er erzählt hatte, wie hell das Metall in der Sonne glänzte. Nur deshalb habe er es an sich genommen. Damals hatte Farghas den Hauptmann abgewiesen und ein faires Urteil gefällt. Burk empfand die Strafe des Ältesten sogar als lehrreich, denn der Junge war von nun an verpflichtet, das Schwert zu bewachen, damit so etwas nicht noch einmal geschah. Bis heute trat der Bursche von damals, jeden Tag die Wache an, obwohl er jetzt ein Erwachsener war. Seither war er nie wieder in krumme Machenschaften verwickelt worden.

Abrupt hielt Burk in seinem schnellen Marsch inne. Etwas hatte ihn aus der Erinnerung gerissen. Ein schriller Frauenschrei durchbrach die Stille. Erschrocken fuhr er herum. Der Aufschrei war direkt aus dem offenen Fenster des Langhauses gekommen, vor dem Burk jetzt stand. Einen Moment verharrte er und seine Gedanken rasten, während er überlegte, ob es klug war, einzuschreiten. Auch Andere warfen neugierige Blicke in die Richtung, aus welcher der Lärm kam. Als ein zweiter noch markerschütternder Jammerlaut erklang, fühlte sich Burk gezwungen, nach dem Ursprung des Geschreis zu sehen. Die Laute kamen aus dem Langhaus, in dem die Familie Eisenfuß lebte. Ihre älteste Tochter war im selben Jahr wie seine eigene geboren worden und sie spielten oft zusammen. Burk klopfte drei Mal an die Tür, als sich eine barsche Männerstimme unter die Rufe mischte.

„Sei endlich still oder du bringst uns ins Grab.“, schrie Peadair, doch wen er damit meinte, wusste Burk nicht. Die Tür wurde aufgerissen und ein kreidebleicher Mann sah ihn an. Als er Burk erblickte, schien sich seine Anspannung merklich zu verringern.

„Du bist es! Um ehrlich zu sein, ist das heute nicht der richtige Tag für einen Besuch.“ Ohne die Worte abzuwarten, trat Burk ein und schloss die Tür hinter sich.

„Was ist hier los Peadair? Die Leute denken, bei euch wird ein Schwein geschlachtet. Sie sind schon ganz unruhig.“

„Es ist meine Gattin, irgendetwas stimmt nicht.“ Alarmglocken schellten in Burks Kopf. Peadairs Frau Maidread war schwanger. War etwas mit dem Kind?

„Ist was mit dem Baby? Währe es besser, wenn ich Slaine hole? Sie hat schon vielen Säuglingen bei der Geburt geholfen!“

„Nein, das ist nicht das Problem. Komm und sieh selbst!“ Peadair führte ihn mit zitternden Knien in das Schlafgemach. Dort lag Maidread mit ihrem Neugeborenen auf dem Arm. Als sie die Kammer betraten, ertönte von Neuem das Geschrei.

„Lasst mein Baby! Verschwindet! Ich lasse nicht zu, dass ihr unserem Kind etwas antut!“ Sie hatte die Bettdecke über das Neugeborene gezogen und es war nur noch ihr angstverzerrtes Gesicht zu sehen. Peadair verfiel bei diesem Anblick in Rage und schrie nun aus Leibeskräften. So hatte Burk seinen alten Freund noch nie erlebt.

„Wir dürfen es nicht behalten! Es ist nicht lebensfähig. Es wird niemals akzeptiert.“ Diese Worte aus dem Mund von ihm zu hören, war erschreckend. Peadairs Nachwuchs war sein ganzer Stolz und er hatte sich so auf die Geburt ihres dritten Kindes gefreut. Doch jetzt war er nur noch ein Nervenbündel, das herum schrie und wild mit den Armen fuchtelte.

„Zeigt es mir! Zeig mir dein Baby.“ Sagte Burk, doch sein Freund wurde bei diesen Worten zornig. Aber Maidread beruhigte sich etwas. Als Burk näher an das Bett herantrat, erwartete er schon das Schlimmste. Er stellte sich ein verkrüppeltes Kind vor, mit einem Arm, mit vollkommen verzerrtem Kopf oder Gliedmaßen. Aber als sie die Bettdecke hob, um es ihm zu zeigen, war er überrascht. Das kleine Mädchen, welches sie in den Händen hielt, war hübsch. Es hatte gesunde Arme und Beine und einen normal geformten Körper. Nur ihr Haar war anders. Der dicke, kurze Flaum, war vollkommen weiß.

 

„Wir haben eine alte Frau geboren! Sie ist eine Missgeburt. Sie kann nicht bleiben!“, schrie Peadair erneut. Er hatte endgültig die Fassung verloren. Sein Blick war wahnsinnig und er raufte sich dicke Büschel blonden Haares heraus. Seine Verzweiflung ließ er an dem Schrank aus und schlug auf ihn ein, bis seine Hände blutigrot wurden. Burk zog ihn nach draußen in den Flur, doch sein Freund wehrte sich heftig. Als Peadair sich nicht beruhigte, verpasste Burk ihm eine saftige Ohrfeige. Für einen Moment war Peadair zu perplex, als dass er in der Lage war, zu reagieren. Er war gebändigt. Burk nutzte den kurzen Augenblick um sorgsame Worte an seinen Freund zu richten.

„Hör zu! Auch wenn es anders aussieht, so ist es dennoch dein Kind. Du bist der Vater! Falls du nicht kühlen Kopf bewahrst, wird diese Familie zu Grunde gehen. Sicher hast du recht damit, dass es nicht akzeptiert werden wird. Deshalb ist es deine Aufgabe, es irgendwie zu ermöglichen. Reiß dich zusammen.“ Peadair sah Burk fassungslos an. Dann senkte er den Blick demütig. Er schien sein Schicksal zu akzeptieren.

„Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das Kind von mir ist!“, sagte er und ließ den Kopf hängen. Es war nicht undenkbar, aber letztendlich kam es nicht darauf an.

„Selbst wenn es das nicht ist, wird es zu dem werden, mit jedem Tag, an dem es sich in deiner Gegenwart aufhält! Los jetzt, geh zu Maidread!“ Burk wandte sich ab, um die Familie zu verlassen. Als er die Eingangstür hinter sich schloss, wurde er von jemandem unangenehm überrascht.

„Kein Wunder, dass ich Euch hier antreffe! Was ist hier los?“, fragte eine scharfe Stimme. Es war der Hauptmann. Er war der Letzte, den er jetzt zu sehen beliebte.

„Maidread ist krank. Sie fühlt sich nicht wohl. Ich war gerade auf dem Weg zur Kräuterfrau, um Hilfe zu holen!“, antwortete Burk. Er wollte weitergehen, aber der Hauptmann hielt ihn zurück.

„Sie ist krank? Was ist mit ihr?“, fragte er mit zusammengekniffenen Augenbrauen. Eine seltsame Aura der Nervosität umgab ihn. Wusste er vielleicht etwas?

„Sie hat eine Wochenbettdepression!“, schwindelte Burk, ohne richtig darüber nachzudenken, was er da von sich gab. Er musste ihn unbedingt davon abhalten, in dem Langhaus der Eisenfuß herumzuschnüffeln.

„Eine Wochenbettdepression? Ich sollte nach dem Rechten sehen!“, antwortete der Hauptmann überraschend besorgt für seine sonst so harte Art.

„Nein!“, warf Burk etwas zu laut ein, doch der Hauptmann schien es nicht merkwürdig zu finden, als er hinzufügte:

„Sie reagiert nervös auf Männer. Deshalb hole ich die Kräuterfrau. Sie kann sicher zu ihr durchdringen.“ Wieder sah der Hauptmann ihn skeptisch an, doch dann glätteten sich seine Gesichtszüge.

„Nun gut, ich werde Slaine holen. Ihr solltet jetzt Euren eigenen Geschäften nachgehen Burk, das ist ein Befehl!“ Widerwillig nickte Burk und begab sich auf den Heimweg. Er hoffte zutiefst, dass die Kräuterfrau kühlen Kopf bewahrte und den Hauptmann nicht mit ins Haus nahm. Sie war eine kluge Frau. Außerdem hasste sie den Anführer der Wache, nach dem, was er ihrem Sohn antun wollte. Doch irgendwann würden die Leute erfahren, was mit der jüngsten Tochter der Familie Eisenfuß nicht stimmte. Hoffentlich hatte sich Peadair bis dahin einen guten Plan einfallen lassen. Jetzt drängte sich seine eigene Tochter in sein Bewusstsein und er bereute es, sich eingemischt zu haben. Wieder war er in seltsame Geschehnisse verwickelt, die keiner zu erklären vermochte. Das würde ein ungutes Licht auf seine ohnehin nur geduldete Familie werfen. Zu allem Übel war das älteste Kind der Eisenfuß-Familie, die beste Freundin von Burks Mädchen. Warum war ausgerechnet sie mit seiner Tochter befreundet? Dabei hatte er die letzten Jahre nur daraufhin gearbeitet die Schmach, die auf ihrer Familie lag, endgültig auszumerzen. Er würde es nicht zulassen, dass dies irgendjemand wieder zerstörte. Vor allem durfte seine Tochter nichts von dem Geheimnis ihrer Mutter erfahren! Niemals!

Die Trauerweide

Genau dieses kleine Mädchen spielte in jenem Augenblick mit zwei Freunden an ihrem Lieblingstreffpunkt. Er lag mitten im Wald und war deswegen streng genommen verboten. Aber aus besagtem Grund waren sie dort am liebsten. Nie kam jemand hier her, um sie zu stören. Es ergoss sich orangenes Licht über den mit Moos bedeckten Waldboden, als die kleine Gruppe von Kindern die Köpfe zusammensteckte. Ihre Stimmen überschlugen sich, während sie aufgeregt miteinander plauderten. Ein Mädchen, dessen blondes Haar in dem Licht der untergehenden Sonne wie fließendes Gold erschien, erhob das Wort. Sie sprach zu einem Jungen, der deutlich kleiner als sie wirkte, seine braunen Augen, welche feine goldene Einschlüsse durchzogen, hatte er weit aufgerissen. Die Spannung und Nervosität war ihm unverkennbar anzusehen. An der Ähnlichkeit erkannte man eindeutig, dass die beiden Kinder Geschwister waren. Ein weiteres Kind saß in der kleinen Runde und lauschte aufmerksam den Worten des blonden Mädchens. Sie hatte helle Haut und hellbraunes Haar, das in leichten Locken bis zu ihren Schultern reichte. Eine einzelne Strähne hing ihr ins Gesicht und überdeckte eines ihrer leuchtend grünen Augen. Sie hörte wachsam zu, während das Mädchen sprach. Allerdings wirkte sie weniger ängstlich als interessiert.

„Ich hab es genau gehört, glaubt es mir! Das haben sie gesagt, wirklich!“, sagte das blonde Mädchen. Ihr glänzendes Haar wippte wild hin und her, während sie aufgeregt mit dem Kopf nickte. Sie dämpfte ihre Stimme, als ob sie sonst Jemand belauschen würde.

„Als unsere Eltern Kinder waren, sind manchmal Wesen im Wald erschienen. Unter dem verfluchten Baum sind sie aus dem Nichts gekommen.“ Während das Mädchen sprach, richteten sie ihre Blicke erschrocken in Richtung des besagten Baumes.

„Sie sind einen Kopf größer als der mächtigste Mann im Dorf. Ihre Ohren sind lang und spitz, und die Schritte lautlos. So schlichen sie sich an ihre Beute heran. Aber das Schlimmste und Gefährlichste, war ihr Geflüster, welches die schrecklichsten Dinge passieren ließ. Kamen sie einmal ins Dorf, war alle Hoffnung vergebens. Sie haben die Kinder zu sich geholt und keines von ihnen wurde je wieder gesehen. Deswegen ist es uns verboten, dort zu spielen. Meine Mutter würde verrückt vor Sorge, wenn sie wüsste, dass wir alleine im Wald herumspazieren. Die Erwachsenen haben alle Angst, dass sich das Tor erneut öffnet und die Geschöpfe uns mit sich nehmen.“ Mit jedem Wort seiner Schwester hatte sich der Atem des Jungen beschleunigt und seine Augen waren nun groß wie Murmelsteine.

„Dann lasst uns schnell nach Hause rennen! Was ist, wenn es heute Nacht passiert, wenn sie jetzt kommen?“ Er stand hastig auf und während er es aussprach, stolperte er einige Schritte rückwärts.

„Aber wieso sind unsere Eltern noch da, wenn sie alle Kinder aus dem Dorf geholt haben? Das ist doch merkwürdig, oder?“, meldete sich das Mädchen mit dem hellbraunen Locken. Marthas Blick wurde hinter ihren blonden Haaren kurze Zeit starr und sie wirkte für den Moment entwaffnet. Dann schien sie neuen Mut gefasst zu haben, denn sie erwiderte:

„Das ist doch klar, Rakna. Sie haben sich nur bestimmte Kinder ausgesucht, um sie in eines von ihnen zu verwandeln.“ Während sie es aussprach, war in der Nähe ein leises Rascheln zu vernehmen und die Köpfe der Drei zuckten in Richtung des Geräusches. Sofort schnellte der Junge herum und schrie seine große Schwester an:

„Ich will Heim, Martha! Jetzt gleich! Lass uns verschwinden.“ Getrieben von ihrer eigenen Schauergeschichte schaute Martha ebenfalls mit bangem Blick zu der Stelle. Ein weiteres lautes Scharren ertönte, und alle drei waren auf den Beinen. Vollkommen überstürzt rannten sie in verschiedene Richtungen.

Eigentlich hatte Rakna nie an die Geschichten von Martha geglaubt. Denn sie hatte eine blühende Fantasie und nutzte sie gern, um anderen Angst einzujagen. Aber es hatte sich auch noch nie Etwas so lautlos an sie herangeschlichen, ohne dass sie es bemerkt hätte. Raknas Gehör war ausgesprochen fein ausgebildet, was ihr schon oft den Hals gerettet hatte. Einmal schlich sich Ulrich, ein Junge, der mit seiner Familie in dem prachtvollen Langhaus im Dorf lebte, von hinten an sie heran, um ihr Froschlaich über den Kopf zu schütten. Doch sie hatte die plumpen Schritte längst aus der Ferne vernommen und sich blitzschnell umgedreht. Mit einem gezielten Schlag stieß sie das Glas weg, sodass sich der gesamte schleimige Inhalt auf die Hose des Jungen ergoss. Obwohl Rakna normalerweise mutig war, erschreckte sie die Vorstellung eines bösartigen Geschöpfes mit langen spitzen Ohren dennoch. So rannte sie, ohne sich umzudrehen oder einen Moment innezuhalten. Erst als das Dickicht des Waldes kaum noch Licht hindurch ließ, und ihr immer wieder Äste ins Gesicht schnippten, verlangsamte sie ihren Schritt. Schließlich blieb sie stehen und wandte sich zögerlich um. Nichts war zu sehen. In tiefen Zügen strömte kalte Waldluft in ihre Lungen und ihre Brust schmerzte bei jedem Atemzug. Sie wusste nicht wie weit und wohin sie gerannt war. Von der Sonne sah sie nur noch einen schmalen roten Streifen am Himmel. Sonst waren da nur Bäume und Sträucher. Panik kroch in ihr hoch. Hektisch sah sie umher, in der Hoffnung Martha oder ihren kleinen Bruder Tharas zu erblicken. Sie lauschte, doch da war nichts, außer Stille. Durch die Zweige der Fichten erkannte Rakna in der Ferne, eine Lichtung. Sie lag auf einem Hügel und der Weg dorthin war lang, sogar länger als sie vermutet hätte. Immer wieder war sie gezwungen innezuhalten, um sich zu vergewissern, ob sie in die richtige Richtung lief. Langsam, aber allmählich wurde es dunkler um sie herum. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie ihr Ziel. Doch ihre Hoffnung wurde jäh zerschlagen, denn auch von der Lichtung aus, war nichts als Blattwerk und Nadelbäume zu sehen. Ein dicker Kloß schnürte Rakna die Kehle zu. Ihre Lippen zitterten wie Espenlaub. Sie wagte es nicht, nach ihren Freunden zu rufen, aus Angst, Feinde auf ihre Fährte zu locken. In Gedanken versuchte sie sich, zu beruhigen. Immer wieder sagte sie zu sich selbst:

„Du musst Ruhe bewahren. Wenn du jetzt den Kopf verlierst, findest du nie mehr nach Hause.“ Und so atmete sie tief durch und richtete ihren Blick in die Ferne. Es war schwer, bei der Dunkelheit etwas zu erkennen. Die Umrisse der Bäume verschmolzen miteinander, sodass sie kaum zu unterscheiden vermochte, was Stamm und was Weg war. Nicht einmal der Mond spendete ihr Licht, denn heute Nacht war das Himmelszelt von einer dichten Wolkendecke verschlossen. Aus dem Nichts heraus, flackerte ein Schimmer am Horizont auf und blieb wie ein Leuchtsignal im Dunkel hängen. Erschrocken und freudig zugleich erspähte sie es. War das jemand aus ihrem Dorf? Suchten sie vielleicht schon nach ihr? Zweifellos war das ihre einzige Hoffnung. Mit strauchelnden Schritten stürmte sie auf den winzigen Punkt in der Ferne zu. Wieder und wieder stürzte sie, wegen des unebenen Bodens, auf die Knie. Jedes Mal rappelte sie sich hoch und stolperte, so schnell sie ihre Beine trugen, vorwärts. Sie flehte zu den Göttern, dass das rettende Licht nicht erlosch, bevor sie es erreichte. Und sie schienen Rakna erhört zu haben, denn es verschwand nicht. Sie schaffte es aus dem Dickicht auf eine weitere, größere Lichtung. Abermals erhob sich ein kleiner Hügel vor ihr. In dem Zentrum, auf der höchsten Stelle, wuchs ein ausladender alter Baum. Seine Äste und Zweige hingen in geschwungen Bögen zu Boden und unter dem Laub flackerte das rettende Licht. Doch der Anblick des riesigen schützenden Baumes, ließ das Mädchen erneut, vor Angst, erschaudern. Es war die Trauerweide mit ihren knorrigen langen Ästen. Rakna dämmerte es, sie war genau auf das verfluchte Gewächs zugelaufen, den Schreckensbaum aus der Geschichte, die Martha vor wenigen Stunden erzählt hatte. Das Licht, das unter den Zweigen hervor strahlte, wirkte nicht bedrohlich. Es leuchtete in einem angenehmen Orange, wie die Flammen einer Fackel. Für einige Augenblicke blieb sie wie angewurzelt stehen. In ihrem Kopf ratterte es. Die Kälte der Nacht kroch ihr langsam an den Beinen hoch und das dünne Leinenkleid schütze sie nur wenig. Vielleicht hatte sich ein Wandersmann in diese Gegend verirrt und genau wie sie Zuflucht vor der Dunkelheit gesucht? So leise es ihr möglich war, schlich sie sich auf ihren nackten Füßen den Berg hinauf und versuchte etwas zu erspähen. Das Wispern des Windes schreckte sie immer wieder auf. Bibbernd vor Kälte entschloss sie sich, einen Blick unter die dicken Äste des Baumes zu werfen. Da sie weit und breit nichts entdeckte und eine wohlige Wärme zwischen den Zweigen hervortrat, schien es ihr letztlich sicherer, inmitten der Blätter Schutz zu suchen. Wohl, war ihr bei dem Gedanken nicht, dennoch schob sie mit ihrer bleichen Hand das Blattwerk zur Seite. Sie musste sich durch das enge Laub zwängen, um den Stamm zu erreichen. Dort war niemand. Das pulsierende Leuchten schien direkt aus den Wurzeln des Baumes zu kommen, als wäre es sein Herzschlag. Erneut kam Furcht in Rakna auf. Sie war schon einige Schritte rückwärts geschlichen, als sich plötzlich ein Rinnsal aus Harz aus dem Stamm ergoss, genau so leuchtend wie die Sonne. Ihr blasses Gesicht wurde von dem gleißendem Licht erhellt und ihre Angst wich. Es wirkte vertraut und spendete Wärme, goldgelb wie ein kleiner Lavastrom. In ihrem ganzen Leben hatte Rakna nie so etwas überwältigend Schönes gesehen. Sie blieb stehen und starrte auf die helle Stelle. Zögerlich wagte sie sich ein paar Schritte an den Stamm heran und streckte eine Hand aus, um das flüssige Gold zu berühren. Ihre schlanken Finger hatten die zähe Masse fast erreicht, als ein Ast der Weide sich schlagartig zu einem hohen Bogen verflocht, und wie ein Torbogen vor ihr aufgerichtet zum Stehen kam. Vor Schreck fiel sie über ihre eigenen Füße und landete auf dem Rücken. Für ein paar Sekunden war sie unfähig, zu reagieren. Vom Boden aus beobachtete sie, wie das flüssige Gold sich wie ein Schleier zwischen dem Bogen ausbreitete und dieser so einem Spiegel glich. Zögerlich stemmte sie sich von der Erde hoch, um in das neue Gebilde zu schauen. Statt sich selbst zu erblicken, wie es bei einem Spiegel üblich war, schaute sie auf eine weite Wiese, die durch und durch vom Sonnenlicht erhellt war. Fremdartige Blumen wuchsen dort in Farben, so vielseitig, dass Rakna sie nicht zu benennen wusste. In der Ferne waren Laubbäume mit tiefen, kräftigen Wurzeln zu erkennen. Zwischen den hohen weiten Baumkronen erblickte sie kleine urige Häuser. Davor erhoben sich Torbögen, lange Treppen und Fenster und das in schwindelerregenden Höhen. Die Häuschen waren reich verziert und die geschwungenen Äste zu feinen Mustern geflochten worden. Es war, als blickte Rakna durch ein Portal in eine unbekannte Welt. Behielt Martha recht und unter dem mysteriösen Baum kamen wahrhaftig Wesen aus fremden Welten hervor? Und waren diese wirklich hinter den Kindern ihres Dorfes her? Dann musste dort oben Jemand leben. Misstrauen hielt sie davon ab, sich an das seltsame Gebilde heranzuwagen. Sie tat nichts weiter, als die Landschaft zu betrachten.

 

Unerwartet schoss eine langfingrige Hand, mit dunklen spitzen Nägeln aus dem goldenen Schleier hervor und packte das Mädchen vorne am Kleid. Es spannte sich aschfahle Haut über das schmale Handgelenk, darunter waren deutliche schwarze Adern zu erkennen. Mit unmenschlicher Kraft riss es das Kind von den Füßen direkt durch den Schleier hindurch. Rakna kniff die Augen zusammen und erwartete einen harten Zusammenprall mit der glatten Oberfläche. Doch wie die körperlose Hand glitt ihr Leib mühelos durch den Spiegel hindurch. Als Rakna die Lider öffnete, fand sie sich auf der bunten Blumenwiese wieder. Es roch hier wunderbar süßlich, wie ein in voller Blüte stehender Rosenstrauch. Allerdings war der Genuss nicht von langer Dauer, denn die eben noch körperlose Hand zerrte sie ein weiteres Mal von den Füßen und zeigte jetzt, dass sie zu einem ebenso grässlichen Körper gehörte. Vor ihr stand ein grausig aussehendes Wesen, in Gestalt einer Frau, mit schwarzem Haar und gräulich weißer Haut. Ihre Augen waren pechschwarz und von dunklen Ringen umgeben, als hätte sie viele Jahre das Tageslicht nicht gesehen. Zum großen Schrecken von Rakna schwebte die Frau mit ihren nackten Füßen einige Zentimeter über den Boden. Ihre Zehennägel waren dunkel verfärbt und liefen zu einer scharfen Spitze zusammen. Um sie herum wand sich ein zerrissenes schwarzes Kleid. Manche Fetzen schwebten um ihren Kopf und ihren Leib, als führte sie ein unsichtbarer Fadenzieher. Ihre Haare wirbelten wild um ihr bösartig lächelndes Gesicht, obwohl kein Windhauch das Gras und die Bäume erfasste. Raknas angsterfüllte Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten, führten dazu, dass das grausige Wesen breiter grinste und schwarze spitze Zähne sich zwischen ihren Lippen zeigten. Rakna wurde von dem Geschöpf näher herangezogen. Sie erkannte deutlich, dass ihr Gebiss, wie bei einem Hai, in doppelter Zahnreihe angelegt war. Der widerliche Anblick des Wesens nahm ihr fast den Atem. Als es dann zu säuseln begann, war das Mädchen gelähmt vor Angst und Abscheu.

„Solch ein hübsches Kind hab ich seit Jahrhunderten nicht mehr erblickt. Was für ein glücklicher Zufall, dass du gerade jetzt auf unsere Lichtung gekommen bist.“ Die pechschwarzen Augen wurden zu Schlitzen, sodass nur die Pupillen zu erkennen waren.

„Aber sag mir, wie heißt du mein Kind?“ Die übermächtige Furcht ließ nicht zu, dass Rakna irgendein Wort über die Lippen brachte. Sie stammelte nur unverständliche Laute vor sich hin und das Geschöpf drang unerbittlich weiter auf das Mädchen ein.

„Ich merke, meine Herrlichkeit und mein überragender Einfluss haben dir die Zunge verschlungen. Es stört mich nicht Kind. Schon tapfereren Kriegern erging es so wie dir. Und was macht es, wenn ich einmal nicht den Namen meines Morgenmahles kenne. Für dich werde ich eine Ausnahme machen.“ Auf diese Worte hin, folgten viele Dinge zugleich. Das bösartige Gesicht riss seinen Mund zu einem gewaltigen Schlund auf und vergrub die unzähligen Zähne in der Schulter des Kindes. Rakna spürte, wie sich die spitzen Hauer schmerzhaft in ihr Fleisch versenkten und warmes Blut an ihrem Schulterblatt herunter lief. Hinter ihr ertönte ein lauter Schreckensschrei und Rakna wurde mit einem kräftigen Ruck zu Boden gerissen. Der Schmerz des Aufpralls übermannte sie und nahm ihr die Sicht. Doch bevor sie die Sinne verlor, erblickte sie verschwommen eine schlanke Gestalt über sich. Ein leises Surren, begleitet von einem silbrigen Schweif, schwang durch die Luft. Dann wurde es um sie herum vollkommen dunkel und sie wurde ohnmächtig.