Noras Weihnachtstagebuch

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Mittwoch, 3. Dezember

Liebes Tagebuch,

womit soll ich anfangen. Wie soll ich anfangen? Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht. Irgendwo auf dieser Reise hierher habe ich meinen Verstand verloren. Anders kann ich es mir nicht erklären. Vielleicht habe ich auch einen Unfall gehabt, bei dem ich auf dem Kopf gelandet bin. Ich schreibe wirr, aber ich bin es auch. Also verzeih die krakelige Schrift. Was rede ich eigentlich? Das ist doch völlig nebensächlich… Vielleicht sollte ich von vorne beginnen. Alles von Anfang an aufrollen. Der Morgen war ein guter Morgen. Ja, damit kann ich anfangen. Am Morgen war noch alles in Ordnung. Alles verlief in geraden Bahnen.

Ich stand auf, frühstückte und machte mich auf den Weg Richtung Markusplatz. Diesmal mit dem Ziel auch wirklich dort anzukommen. Ich lief also wieder vorbei am Fondaco dei Tedeschi, warf aber nur einen kurzen Blick nach rechts zur Rialtobrücke und bog nach links ab, durch einen kleinen Durchgang, über eine weitere Brücke und immer den gelben San Marco Schildern nach. Und dann war ich dort. Ich lief unter dem Glockenturm hindurch und da erstreckte sich der größte Platz Venedigs vor mir: la Piazza San Marco, an drei Seiten eingerahmt von den imposanten Prokuratien.

Die zweistöckige Fassade wird von Zinnen gekrönt und die einzelnen Loggien sind durch Friese voneinander abgetrennt. Das Ganze, inspiriert vom venezianisch-byzantinischen Stil, macht Alfred de Mussets Bezeichnung „Salon Europas“ alle Ehre. Unter der vornehmen Überdachung der Prokuratien kann man einmal um den gesamten Platz herumschreiten und dabei die vielen Schaufenster mit ihren natürlich völlig überteuerten Auslagen bewundern. Souvenirshops, Glas- und Schreibwarengeschäfte (von der normalen Sorte), Taschenboutiquen… Und natürlich Gelato.

Hier befinden sich auch einige Cafés, darunter das berühmte Café Florian, in dem eine heiße Schokolade mit Sahne 13€ und eine Cola 11€ kostet. Damals als Teenager bin ich nicht dazu gekommen, aber in diesem Urlaub, werde ich es mir einmal gönnen.

Auf der linken Seite des Glockenturms thront die Basilica di San Marco. Das majestätische Monument wurde nach dem Vorbild der Apostelkirche in Konstantinopel errichtet. Man kann nicht anders, als diese Kirche zu bestaunen. Fünf Kuppeln heben sich über Venedig empor und erinnern daran, wo sich das Herz dieser Stadt befindet. Ich bin nicht gläubig, doch sogar mir verschlägt es im Inneren die Sprache. Und so betrat ich nach vielen Jahren wieder meine Lieblingskirche. Bei meinem letzten Besuch waren es die ornamentalen Marmor- mosaike am Boden, die mir am deutlichsten in Erinnerung blieben. Jetzt war es das Gold, das mich schier überwältigte. Ich hatte Mühe nirgends gegenzulaufen, denn mein Kopf lag konstant in den Nacken gelegt. Die „goldene Basilika“ strahlt. Und auch wenn ich noch nie im Morgenland gewesen bin, so stelle ich es mir doch irgendwie genauso vor.

Als ich die Kirche verließ, ließ ich meine Augen den Campanile, den Markusturm, hinaufwandern. Ich erinnerte mich, dass ich damals das Glück gehabt hatte, genau zu der letzten Gruppe zu gehören, die hinauf durfte. Und so hatte ich den Sonnenuntergang über Venedig gesehen. Der rote Ball war am anderen Ende des Markusplatzes versunken und unter mir hatten die Kuppeln über ihre Stadt gewacht wie sie es seit hunderten von Jahren schon tun.

Nicht ganz so hoch, meines Erachtens aber schöner, ist der Glockenturm, der „Eingang“ zum Markusplatz, wie ich ihn bezeichne. Die Mitte der weißen Fassade ziert seine Namensgeberin: das aus Lapislazuli gefertigte Zifferblatt der astronomischen Uhr, die Sonnen-, Mondphasen und Tierkreiszeichen vereint. Ich wartete, bis ich zur vollen Stunde den bronzefarbigen Mohren zusehen durfte, wie sie die Zeit auf der großen Glocke in ihrer Mitte anschlugen.

Nach vorne hin öffnet sich der Markusplatz zum Wasser. Während ich darauf zulief, lief ich gleichzeitig bereits an der kurzen Seite des Dogenpalastes vorbei, der neben dem Markusdom steht. Der Palazzo Ducale ist ein weiteres Gebäude, an dem ich mich nicht satt sehen kann. Es ist insbesondere der Marmor, der den Palast so beeindruckend macht. Dezent, aber durch Schönheit auffallend, von einer Farbe, die ich als Kunstbanause als zartrosa-pastell benennen würde. Es macht ihn zu einem Kunstwerk, das selbst im Dunkeln hervorsticht. Ich folgte seinem Verlauf am Wasser entlang. Dabei kam ich automatisch an der im Schnitt wohl vollsten (abgesehen von Rialto) Brücke Venedigs vorbei. Es ist natürlich jene, die den Blick auf die zweite berühmteste Brücke (ebenfalls neben Rialto) freigibt: der Ponte dei Sospiri, der Seufzerbrücke. Hier drängen sich die Touristen zu jeder Jahreszeit mit ihren Selfiesticks und Stativen. Alle wollen sie das eine Foto auf dem sie vor einem Ort lächeln, an dem Menschen früher das letzte Mal auf die Stadt geblickt haben, bevor sie in dunklen Kerkerzellen landeten. (Natürlich habe ich bereits ein Foto. Und natürlich mache auch ich ein weiteres von mir.)

Mein nächstes Ziel war die nahe gelegene Vaporetto Station San Zaccaria, eine der wichtigsten Stationen mit vielen Anlegestellen. Hier würde sie beginnen, die Reise in den mentalen Abgrund.

Oder vielleicht hatte diese Reise auch bereits begonnen, als ich nach einem Italienischkurs gesucht habe. Oder vielleicht auch schon, als ich hierher gekommen bin. Wer weiß das schon. Jedenfalls habe ich gestern Abend noch eine E-mail von einem Massimo bekommen, der mich für den nächsten Tag – also für heute – herzlich in diesen italienischen Crashkurs einlud. Er meinte, es sei kein Problem, dass ich bereits etwas Stoff verpasst hatte, das könne ich sicher nachholen. Der Kurs findet von Montag bis Freitag von 10 bis 12 Uhr in der Venice International University auf San Servolo statt. Die Insel San Servolo ist eine Vaporetto Station und ungefähr 10 Minuten vom Markusplatz entfernt. So weit ich das gesehen habe, befindet sich hauptsächlich die Uni mitsamt ihrem Campus dort und noch ein Museum.

Ich brauche Vaporetto Nummer 20, welches von Stopp B abfährt.

Ich kann von der Insel erzählen. Erstaunlich grün, im Sommer sicherlich ein kleines Paradies. Kieswege, die zu den Campus-Unterkünften, dem Barbecue- und den Sportplätzen führen. Ein Platz mit den Außenstühlen und -tischen des Unicafés. Auf der einen Seite eine Art Holzbalkon, man steigt die dunkelbraune Holztreppe hinauf und vor einem erstreckt sich die offene Lagune.

Die Uni selber ähnelt mehr einer teuren Privatschule als einer Uni oder einer seiner früheren Einrichtungen (zuerst war es ein Kloster, dann ein Krankenhaus und schließlich eine psychiatrische Anstalt). Pastellfarbene (ungefähr wie der Palazzo Ducale) Wände mit Kronleuchtern ausgestattet, alles sehr sauber und vornehm und hell. Das Vaporetto hält praktisch genau vor dem Eingang. Man steigt aus und vor einem liegt die weiße Fassade, die einen mit ihren großen Rundbögen, dem Balkon und den zwei kleinen Grünflächen vor dem Eingang mit einer Palme auf der einen und zwei kleinen Bärenstatuen auf der anderen an einen fernen exotischen Ort versetzt. Ich trat in eine Eingangshalle. Links und rechts stehen so etwas wie goldene Kamine, in denen automatisches goldenes Feuer in einer Endlosschleife fließt.

Am Front Office erfragte ich mir den Weg zu meinem Klassenraum. Bequeme rot gepolsterte Stühle warten dort auf mich und ein Fenster auf Venedigs Kulisse und die Lagune, das in mir die Frage aufrief, wie irgendwer hier aufpassen sollte. Das forderte das träumerische aus-dem-Fenster-starren geradezu heraus.

Es war ein seltsames Gefühl, sich als erwachsenen Frau in der Schulbank niederzulassen. Aber viel Zeit, um darüber nachzudenken, blieb nicht. Ich bin sicher, meine Klassenkameraden waren nett. Ich meine, mich an ein paar freundliche Gesichter zu erinnern, ein Lächeln hier, ein Lächeln da. Aber all das, sowie meine ganze erste Italienischstunde verschwindet im Strudel des Schocks beim Anblick meines Professors.

Ich hatte einen Massimo erwartet. Einen Herrn um die vierzig. Einen Italiener wie er im Buche steht. Aber der Mann, der den Klassenraum betrat, war kein Massimo. Es war ein Henry. Und ab diesem Moment verliefen die Bahnen meines Lebens nicht mehr gerade.

Ich schreibe es auf. Ich sehe es schriftlich vor mir. Es ist nicht minder verrückt. Und unmöglich. Das letzte Mal, das ich Henry gesehen habe, war an einem Montagabend, am 23. September. Draußen hatte der Regen gegen die Fensterscheiben geprasselt. Aber da stand er, in Venedig, auf San Servolo und stellte sich mir als mein neuer Professor vor.

Henry mit seinen hellblauen Augen und seinen hellbraunen, immer leicht verstrubbelten, leicht gelockten Haaren. Henry mit seinem Grübchen auf der linken Wange. Mit seinem schelmischen

Lächeln, das ihn zu einem Lausbub in einem

Erwachsenenkörper machte. Henry, der auch noch tatsächlich so hieß; Henry Dunne, ein Name, der auf irische Vorfahren zurückgeht.

Wie Zwillinge, zwei Hälften eines Ganzen, haben sie immer gesagt. Ich war nie recht sicher, ob das nun ein Kompliment war. Kurzzeitig hatte ich sogar überlegt, mir meine karamellfarbenen Wellen zu färben. Immerhin wollte ich nicht aussehen wie die Schwester meines Freundes, sondern wie die umwerfende Frau an seiner Seite.

Henry hatte gelacht. Gut für die Fotos hatte er gemeint und mich daraufhin eng an sich gezogen. Mein Kopf endete genau an seinem Kinn. Ich hatte meistens eine Schnute gezogen. Und so waren sie alle, unsere Bilder. Ein fröhlicher Mann, der die etwas miesepetrig dreinschauende Frau umarmte. Beinahe dieselben Haare, einmal kurz, einmal etwas über schulterlang. Bloß unterschiedliche Augen: blau und bei mir ein Karamellton. Wir hatten gut zusammen ausgesehen, das stimmte. Aber aus irgendeinem Grund hatte mir das Bauchschmerzen bereitet. Als wäre da etwas auf Bildern verewigt, dem ich noch nicht einmal zugestimmt hatte.

 

Als wir uns kennengelernt hatten, waren wir beide in einer ähnlichen Position. Ich war das erste Mal alleine für eine Story unterwegs. Es ging darum, die ältesten Cafés Münchens aufzuspüren und in einer Liste vorzustellen. Vollgepumpt mit Adrenalin war ich wild entschlossen, die beste Aufzählung zu schreiben, die die Menschheit je über Cafés gelesen hatte. Und Henry, ein ambitionierter Fotograf, war wild entschlossen, die besten Vintage Fotos für meinen Artikel zu schießen. So lernten wir uns kennen. Zufällig zu einem Team zusammengewürfelt, beide jung und mit großen Plänen. Schon die schienen perfekt zueinander zu passen. Unsere Leidenschaft und Entschlossenheit hatte uns vom ersten Augenblick an verbunden. Und zusammen entwarfen wir einen Artikel, der vielleicht nicht der beste der Welt war, der es aber immerhin auf die erste Seite geschafft hatte. Damals war das für uns beide der größte Erfolg. Wir trafen uns, um diesen zu feiern. Und damit waren die Grundsteine unserer Beziehung gelegt.

Es war auch die Basis, auf der wir am besten funktionierten. - Wenn wir als Journalistin und Fotograf zusammen an einem Projekt arbeiteten. Wenn wir versuchten, unsere Karriere voranzutreiben. Dann sprachen wir eine Sprache, die wir beide verstanden. Es gefiel mir, mich nicht erklären zu müssen, einen Partner an meiner Seite zu haben, der dasselbe wollte. Es war so einfach.

Henry wollte mich in seinen Fotos haben. Und wenn ich alleine auf diesen Fotos war, dann lächelte ich auch.

Henry hatte ein faszinierendes Talent verschiedene Stimmungen einzufangen. Es war immer das Licht und der Winkel. Durch Henrys Kamera sah ich verspielt aus, glamourös, unheimlich, verführerisch, unwirklich. Durch seine Kamera sah ich schön aus.

Es ging nie wirklich um uns. Henry wollte dieses Territorium betreten, aber ich hatte ihm die Tür mehr oder weniger verschlossen. Fragt mich nicht, wieso. Ich weiß es nicht. Auf einmal war eine zweite Sprache aufgetaucht, die ich mich weigerte zu lernen. Henry wollte mehr. Er wollte mich. Ich wollte die Karriere. Ich wollte uns so, wie wir waren. Ich dachte, wir hätten eine glorreiche Zukunft vor uns, wenn wir als Team weiterarbeiteten. Ich erkannte nicht, dass das eine das andere nicht ausschloss. Und ich erkannte auch nicht, was das Wichtigere von beidem war.

Die Chance diese Tür wieder zu öffnen, bekam ich nicht mehr.

Und jetzt ist er auf einmal hier. Mein Henry und doch nicht mein Henry.

„Ich hatte einen Massimo erwartet“, hatte ich mühsam gekeucht. Er hatte mir die Hand geschüttelt, hatte sie festgehalten. Es fühlte sich genauso an, wie ich es in Erinnerung hatte. Fest, warm, stark und sanft. Alles zugleich.

„Nun, ein Massimo bin ich zwar nicht, aber einen Henry Dunne gibt es wenigstens nur einmal hier“, hatte er mit einem Augenzwinkern geantwortet.

Er kannte mich nicht. Natürlich nicht. Es war nicht Henry. Und doch… Wie ist das möglich? Wie kann dieser Mann genauso aussehen und genauso heißen wie mein Henry? Mich schwindelt es jetzt noch bei dem Gedanken an ihn und daran wie er auf einmal durch die Tür gekommen war. Mein Körper hatte vor meinen Augen reagiert. Ein unbewusster Radar auf ihn gepolt ließ mich just in dem Moment zur Tür schielen. Jeans, eine weite Lederjacke, darunter ein dicker grauer Pullover. Ich kannte diese Jacke mit all ihren kleinen Abwetzungen. Diese Jacke trug er schon sein halbes Leben lang. Nicht er natürlich, sondern mein Henry. Ich weiß nicht mehr, was ich schreibe. Ein elektrischer Schlag war durch mich hindurch gefahren. Mein Herz schlägt immer noch nicht wieder richtig. Ich wollte gleichzeitig fliehen und für immer dableiben. Seiner

vibrierenden Stimme lauschen, diesem Lachen, das für jeden in ganz Venedig bestimmt war und das ich für immer verloren geglaubt hatte. Am Ende hatte ich nicht einmal Tschüss gesagt. Oder Arrivederci.

Bin ich doch verrückt, war es ein Traum, eine üble Sinnestäuschung? Es muss ein unglaublicher Zufall sein. Alles andere ist nicht möglich.

Nora


Donnerstag, 4. Dezember

Liebes Tagebuch,

„Alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte er sich leicht besorgt. Ich schluckte. Keine Spucke vorhanden. „Woher kommst du? Ich meine... Hierher. Äh..., wie kommt es, dass du hier unterrichtest?“, presste ich heiser hervor und schalt mich, dass ich mir nicht vorher ein Skript geschrieben hatte. Belustigt und ein wenig verwirrt schaute er mich an. „Nun, bei so vielen verschiedenen Fragen, weiß ich gar nicht, wie ich das am besten beantworten soll.“

Unwillkürlich wurde ich rot. Ich war extra früh nach San Servolo gefahren. Die letzte Nacht hatte ich sowieso kein Auge zugemacht. Das Einzige, worum sich meine Gedanken gedreht hatten, war die Frage, ob er heute wieder da sein würde. Oder ob auf einmal ein glatzköpfiger Massimo vor mir stünde und mein Verstand sich damit wieder eingerenkt hätte. Paradoxerweise war ich mir nicht

sicher, ob ich erleichtert oder enttäuscht wäre.

Er war jedenfalls wieder da. Henry Dunne. Und außerhalb jeglicher Kontrolle begann mein Herz schneller zu schlagen, mein Atem stoßweise zu gehen und diese merkwürdige Mischung aus Adrenalin, Feuer und Panik schoss durch meine Adern. Diese blauen, blauen Augen… Ich blinzelte schnell und nervös.

„Also“, Henry ließ sich halb auf seinem Pult nieder, „du hast gefragt.“ Ergeben hob er die Hände. „Meine Großeltern kommen ursprünglich aus Irland, daher der verräterische Name. Der macht jeden italienischen Flair in mir kaputt.“ Gespielt betrübt verzog er das Gesicht. „Irgendwann sind sie einfach aufgebrochen, zwei irische Hippies auf Road-trip quer durch Europa. Irgendwo auf dem Weg in Deutschland ist mein Vater auf die Welt gekommen. Das war aber kein Anlass, die Reise abzu-

brechen. Im Gegenteil, sie sind weitergefahren. Als mein Vater fünf war, kamen sie nach Venedig und diese Stadt hat es ihnen vom ersten Moment an angetan. Und so sind sie geblieben. Mein Großvater erzählt mir immer, sie hätten an einem Donnerstag um Punkt 12.30 zum ersten Mal venezianisches Pflaster betreten. Sie seien herausgetreten aus dem Bahnhof Santa Lucia und just in dem Moment hätte ihm eine Taube auf die Schulter gekackt und ein Vaporetto legte mit lautem Rumps an. Sie hatten sich angesehen und beide gewusst, dass ihre Reise hier beendet war.“ Henry grinste verlegen. „Das ist wohl mehr als du gefragt hast.“ Er lachte leise. Ich schüttelte bloß den Kopf.

„Naja, ihre Reise endete tatsächlich und bis heute leben sie hier in der Lagunenstadt.“ Sein Blick glitt kurz aus dem Fenster. Das Wasser glitzerte in der Sonne. „Mein Vater wuchs in Venedigs schmutzig schönen Gassen auf. Mit 18 ging er nach Deutschland. Er wollte durch das Land reisen, in dem er geboren worden ist, bevor er sich zu einem Studium entscheiden würde. Stattdessen lernte er – wie sollte es anders sein – ein deutsches Mädchen kennen. Sie war 17 Jahre alt und es genügte ein Blick auf sie und er wusste, das würde seine Frau werden. Liegt wohl in der Familie, dass alles auf den ersten Blick geschieht.“ Wieder lachte er, diesmal laut. „Dieses Mädchen hieß Carla und ist meine Mutter. Er hat es tatsächlich geschafft, sie von ihm zu überzeugen, dem 18-jährigen ohne Job und Zukunftsplan. Meine Mutter hatte diesen Plan allerdings und so weigerte sie sich, Deutschland zu verlassen, bis sie ihren Schulabschluss und fertig studiert hatte. Mein Vater blieb bei ihr. Am Ende blieben sie 15 Jahre dort, heirateten, bekamen mich und kamen irgendwie über die Runden. Allerdings mehr schlecht als recht. Meine Mutter arbeitete in einem Museum, aber eigentlich wollte sie selber malen. Und mein Vater nahm Unmengen an Gelegenheitsjobs an, da er ja nie studiert hatte. Nach 15 Jahren, ich war gerade 10, überredete er meine Mutter endlich mit ihm nach Venedig zu gehen. Er wollte zurück und meine Mutter brauchte dringend eine Luftveränderung. Zusätzlich zu ihrem unerfüllten Berufsleben waren ihre Eltern im Abstand von nur wenigen Monaten verstorben. Mein Vater versprach ihr, dass Venedig für sie ein neues Leben bedeutete. Und dass es für sie als Künstlerin der Durchbruch wäre.“ Henry sah mich lächelnd an. „Das tat es?“, riet ich. Er nickte feierlich. „Tatsächlich. Meine Mutter war begeistert von der Kulisse um sie herum und schon bald war in unserer Wohnung überhaupt kein Platz mehr für all ihre Bilder. Mein Vater kaufte ein heruntergekommenes Loch in Castello, renovierte das ganze von Grund auf und verwandelte es in das erste eigene Atelier meiner Mutter. Dort stellte sie ihre Bilder aus und verkaufte sie. Mein Vater übernahm alles was mit Finanzen, Werbung und Bürokram zu tun hatte. Am Anfang lebten wir sehr kläglich, aber mir machte es nichts aus. Ich war ein junger Bursche, der überall herumstreunte. Aber nach ein paar Jahren begann das Geschäft zu laufen. Immer mehr Menschen wurden auf unser Atelier aufmerksam. Touristen verbreiteten Mundpropaganda auf der ganzen Welt. Als ich 16 war, bauten wir an…

Wo war ich? Eigentlich wolltest du wissen, woher ich komme.“ Er kratzte sich am Kopf. „Ich habe eindeutig dieselben Gene, habe es meinen Eltern und Großeltern nachgemacht und Venedig mit knapp 19 verlassen. Außerdem wollte ich das Land meiner Mutter, und auch irgendwo mein Land, kennenlernen. Also bin ich nach Deutschland, habe dort in München Fotographie studiert und bin danach querdurch gefahren. Ich habe alle Jobs angenommen, die irgendetwas mit einer Kamera zu tun hatten.“

Henrys Blick war bei mir und doch weit weg. Er schwelgte in anderen Zeiten, erweckte ein Leben auf eine Art, die mir das Gefühl gab, ein Teil davon gewesen zu sein.

„Irgendwann kam der Punkt, an dem ich nicht länger so mittellos umherziehen wollte. Ich strebte nach einer guten Anstellung als Fotograf. Es mag eingebildet klingen, aber ich war der Meinung, dass ich zumindest ein gewisses Maß an Talent besaß und das wollte ich entfalten. Leider hat mir dazu niemand die Chance gegeben. Dann wurde mein Vater krank und das war der Moment, in dem ich beschloss, nach Venedig zurückzukehren. Ich war 28. Mein Vater wurde wieder gesund. Heute ist er fit wie ein Turnschuh und er und meine Mutter betreiben immer noch ihr Atelier. Meine Großeltern unterhalten immer noch eine kleine Bäckerei. Ihre Wohnung liegt darüber. Und ich habe mir etwas gesucht, bei dem ich ein passables Einkommen erhalte. Mein Vater brauchte damals einige Behandlungen und Medikamente. Die kosteten natürlich Geld. Ich wurde Professor für die italienische Sprache. Und dabei ist es bisher geblieben. Und das ist meine Geschichte und es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dich damit erschlagen habe. Deine Frage war nur nicht ganz so einfach zu beantworten.“ Er grinste verlegen.

Während Henry geredet hatte, hatte sich meine Anspannung etwas gelöst. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart. „Du hast mich nicht gelangweilt, im Gegenteil“, murmelte ich mit einem Kloß im Hals. „Was ist aus deiner Fotographie geworden?“ Henry Lächeln verrutschte kaum merklich. Aber ich nahm es wahr. Ich kannte seine Regungen auswendig. „Sie ruht in mir und vielleicht wird sie eines Tages wieder erwachen, aber bisher scheint die nötige Inspiration zu fehlen.“

„Aber du bist gut!“, rief ich aus. „Das darfst du nicht einfach aufgeben!“

Verdutzt sah er mich an. „Woher willst du das denn wissen?“

„Ich…“, wieder wurde ich rot. Der Boden war wirklich interessant, so sauber… “Ich..“, kramte nach einer Erklärung. „Ich kann es spüren“, kam es schließlich lahm aus meinem Mund. „So wie du redest. Es ist etwas in deiner Ausstrahlung.“

Henry betrachtete mich nachdenklich. Er wollte wohl etwas sagen, da trudelten auf einmal die anderen Kursteilnehmer ein. Ich zuckte zusammen. Ich hatte völlig vergessen, dass ich hier war, um Unterricht zu erhalten. Henrys Lächeln kehrte zurück. Er klatschte in die Hände, sprang vom Tisch. „Buongiorno! Come state, state pronto per un po’ d’italiano?“

Dann lernten wir etwas über Personalpronomen, diktierten unserem Sitznachbarn einen Zeitungsartikel, lachten über die absurden Wörter, die dabei herauskamen. Dieses Mal nahm ich mehr von der Stunde mit. Aber das, was sich mir am meisten eingebrannt hat, ist natürlich unser Gespräch. Er meinte, er sei mit 28 zurück nach Venedig. Mit 28 hatte er mich kennengelernt. Dieser Henry hatte unsere gemeinsame Zeit nicht erlebt. Er war vorher aus dem Land verschwunden. Somit war es, als hätten die letzten vier Jahre nie stattgefunden. Weder das Schlechte, noch das Schöne. Aber halt. Das wird konfus. Zu viele Henrys.

 

Nach dem Italienischkurs war ich gleich nach Hause zurückgekehrt. Ich musste nachdenken. Und schreiben. Der einzige Weg mit allem, was das Leben bot, zurechtzukommen. Für mich war es das Schreiben, für Henry die Fotographie. Deswegen durfte er sie auch nicht aufgeben. Dieser Henry genauso wenig wie mein Henry das gedurft hätte.

Die Geschichte, die Henry heute erzählt hatte, war mir nicht unbekannt. Nur dass sich Henrys Eltern in meiner Version im Norden Deutschlands an der Ostsee niedergelassen hatten, dem Ort an dem sein Vater Bruno geboren worden war. Bruno hatte das Land nie verlassen. Er war sein Traum gewesen, es seinen Eltern gleichzutun und Europa und deren Heimat Irland kennenzulernen, doch dann traf er auf Carla. Und blieb bei ihr. Sie bekamen Henry, der ebenfalls im Norden zwischen Dünen und rauem Meer aufgewachsen war. Ein Wildfang, der sich in der Natur am wohlsten fühlte. Carla und Bruno eröffneten tatsächlich eine Galerie, doch diese wurde nie so erfolgreich wie anscheinend jene der venezianischen Carla. Inzwischen gibt es die Galerie nicht mehr. Als Brunos Gesundheit anfing, sich zu verschlechtern, konnten die beiden mit ihrem Einkommen die Miete und die Arbeit nicht mehr stemmen. Seine Großeltern hatten wirklich einmal eine Bäckerei gehabt, doch das Alter zwang sie lange vor meiner Zeit, diese aufzugeben.

Mit 28 erhielt Henry im Gegensatz zu diesem Henry die Chance, für ein bekanntes Reisejournal zu fotografieren. Es war der Auftrag, der ihn mit mir zusammengeführt hatte. Und er brachte auch Geld, das er in die Behandlung des Herzleidens seines Vaters fließen ließ. Ganz erholen tat sich Bruno jedoch nie. Ich kannte Henrys Eltern und Großeltern. Wir waren öfters in den Norden gefahren, um die Feiertage oder einen Urlaub mit ihnen zu verbringen. Sie waren herzlich und fröhlich und trugen wie Henry meistens ein Lächeln im Gesicht. Doch dahinter konnte ich manchmal eine leichte Wehmut vernehmen. Genauso wie ich darin aber auch den Stolz auf Henry sah, ihren Jungen, der es geschafft hatte, seine Träume zu verwirklichen, während sie ihre vor langer Zeit aufgeben hatten müssen.

Es ist spiegelverkehrt. Während in dieser

italienischen Version der Geschichte Henrys Eltern und Großeltern das Glückslos gezogen haben, ist es Henry, der etwas verloren hat. In meiner Version ist es umgekehrt.

Etwas zuckt durch meine Gedanken. Mein Füller verharrt in der Luft. Ich starre darauf und als ich wirklich hinsehe, nehme ich wahr, dass das Gold, das mir so lebendig erschienen war, merklich blasser geworden ist. Schwächer. Ich drehe ihn in meiner Hand. Das Glas ist noch immer samtweich und angenehm kühl. Er war immer noch eine Schönheit.

Eine zweite Chance. Das hatte die Verkäuferin in dem Laden gesagt. Irgendetwas mit dem Geschenk einer zweiten Chance. In dieser Geschichte hatten wohl die erste und die zweite Generation eine zweite Chance erhalten. Bruno und Carla, Alfie und Dorothy.

Draußen scheint der Mond so hell, dass ich beinahe kein Licht brauche. Was für eine verquere Welt hier in Venedig. Ich habe keinen Schimmer, was ich denken soll. Zwei Menschen, die sich so ähnlich sind, deren Geschichte beinahe dieselbe ist und doch kann es nicht sein.

Ich setze mich ans Fenster und sehe nach draußen. Der Kanal in silbernes Licht getaucht ruht friedlich und unergründlich.

Buona notte, Henry Dunne.

Nora



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