Der Schmerz der Gewöhnung

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Dieses Landhaus war Maras Erinnerungshaus, hier hatte sie ihren ersten Hund gehabt, auch ihren ersten Hasen in einer Kiste, hier grub sie sich im Garten mit ihren Geschwistern ein Haus unter der Erde („ich rieche noch die lehmfeuchte Erde, und es war finster, weil wir Bretter über das Loch gelegt hatten, mein älterer Bruder Raffaele rauchte mit Freunden gestohlene Zigaretten, und wir spielten Karten“).

Das Landhaus hatten sie nach dem letzten Weltkrieg gebaut, ein Häuschen, eine Zwergenvilla. Der Vater hatte diesen Maurer aus Sizilien gefunden, Calogero. Sehr früh am Montagmorgen kam Calogero in blauem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte, zog sich hinter einem Bretterverschlag um und schuftete, bis es Nacht wurde. In wenigen Wochen hatte er die Mauern samt Decken stehen. Für unseren Vater wohl der schönste Lebensabschnitt, war Raffaele immer überzeugt, es war sein erstes selbstgebautes Haus, das nur er (und nicht seine sizilianische Familie oder die deutsche seiner Frau) finanziert hatte, ein kleines Haus, das er Ziegel um Ziegel und Brett um Brett bis zum First hinauf mit seinem selbstverdienten Geld hatte bauen lassen. Damals, in den frühen fünfziger Jahren, hatte er, der Meeresmensch, sogar die fixe Idee, sich – wenn schon nicht als Tiroler Bauer, so doch als eine Art Agrarunternehmer – eine zusätzliche Einkommensquelle zu schaffen, vielleicht auch, um der deutschen Verwandtschaft seiner Frau etwas wie ländliche Verbundenheit zu beweisen. Kaum war die Villa gebaut, ließ er ein Waldstück roden, die Wurzelstöcke sprengen und den Boden zu einem großflächigen Erdäpfelacker umpflügen. Zeitweilig beschäftigte er bis zu achtzehn Landarbeiter für das Setzen und Ausgraben der Erdäpfel, wobei auch die Frau und die Kinder mithelfen mussten. Die schönste Stunde am Tag war, erzählte Mara, wenn Mutter zu Mittag mit den Maccaroni in Paradeissoße auftauchte.

Tatsächlich konnten schon im ersten Erntejahr drei Waggons Erdäpfel verkauft werden, aber nach dem zweiten Jahr rebellierte Maras Mutter – sie hatte ihre Kinder und den Haushalt zu betreuen und sollte dazu noch die Arbeitskräfte im Dorf suchen, sie beaufsichtigen und bewirten, während der Advokat in der Stadt hinter dem Studiotisch saß oder in der Toga im Gerichtsgebäude große oder kleine Reden hielt. Also gab Maras Vater das Erdäpfel-Projekt auf und ließ Pfefferminze auf den Äckern säen und später Lavendel. Dazu brauchte es nur von Zeit zu Zeit einen Landarbeiter. Er habe die geernteten Kräuterberge in großen Tüchern fassen und bündeln lassen, erinnerte sich Mara, ja, einmal sei sie selbst mit Vater nach Bozen gefahren, das Auto sei innen bis zum Dach hinauf vollgepresst gewesen mit Kräuterbündeln. Im Süden der Stadt, in der Nähe der Etsch, habe der Vater die Duftbündel in einer riesigen Lagerhalle abgeliefert, also wohl auch verkauft, sagte sie. Aber das hat sich ja alles nicht ausgezahlt, Maras Mutter schüttelte noch in späteren Jahren als Witwe den Kopf, Mitleidslachen um den Mund.

Auf den ehemaligen Erdäpfel- und späteren Minze- und Lavendelfeldern ließ der Vater schließlich Pappeln setzen, ähnlich wie es unter Mussolini in den versumpften Etschauen südlich von Meran geschehen war, Pappeln wie in der Poebene und wie in Teilen von Sizilien, Maras Meeresmenschvater ließ dort, wo er Jahre zuvor, um seine Erdäpfeläcker anlegen zu können, Fichten, Föhren und Lärchenbäume fällen und deren Strünke hatte sprengen lassen, dort ließ er nun Pappeln pflanzen, die schnell wachsen und daher schnell wieder für Bauholz abgeschnitten werden sollten. Zum Schutz vor Rotwild oder Baumdieben ließ er den Jungpappelwald mit einem hohen Stacheldrahtzaun absichern. Aber gerade der Stacheldrahtzaun war das Einzige, erzählte Mara, auf das die Diebe es abgesehen hatten in der abgelegenen Gegend, der Draht wurde ratenweise, Länge für Länge, abgezwickt und fortgebracht. Ihren Vater habe dies tief gekränkt, am Anfang habe er geradezu getobt, zuletzt sei es ihm schon egal gewesen, was mit dem Pappelwald geschah, ob die Pappeln nun wuchsen oder verkamen. Es wurde jedenfalls auch nichts aus der Pappelplantage; in kurzer Zeit sprossen die angeflogenen Samen von Fichten und Föhren, und bald wuchs wieder ein Tiroler Bergwald heran, vor allem Föhren zwischen den südländischen Pappeln, und gediehen so prächtig, dass sie die Laubbäume mehr oder weniger schnell abwürgten. Die Platanen erstickten in wenigen Jahren in einem immer finsterer werdenden Nadelgehölz, und zuletzt war der ursprüngliche Wald zurückgekehrt, den Maras Vater Jahre zuvor mit forstamtlicher Genehmigung, einer mühevoll erkämpften, erstrittenen Genehmigung, abholzen und bis auf die Wurzelstöcke hatte wegputzen lassen. Was davon übriggeblieben war, bekam Jul von Mara auf einem ihrer frühen Spaziergänge durch die Kukuruzfelder und über Wiesenpfade gezeigt: die „Grub’n“ – eine fast bis zur Grenze der Bezirksstadt Bruneck sich hinunterziehende breite Mulde, die streckenweise von einem talwärts plätschernden Bergbach durchschnitten wird. Jul sah ein langgezogenes Stück Wiese, die überging in einen zuerst schütteren, dann immer dichter verwachsenen Wald, und nach längerem Hinsehen, angespornt von Mara („Schau da links unten, und hier auch! gleich neben dem, nein, zwischen den zwei dicken Föhren dort, siehst du?“). Ja tatsächlich, er konnte, zwar mit Mühe, aber nach längerem Hinsehen konnte er vereinzelt ein paar verkümmerte Laubbäume zwischen dem Föhren- und Fichtenwald erkennen, die grünweiße Rinde von schmalen, verhungerten Pappelstämmchen.

13

Maras Vater war Faschist gewesen, ein ranghoher faschistischer Funktionär, nicht irgendeiner, der Mussolini nur verehrte. Und Jul hatte Mara in einer antifaschistischen, außerparlamentarischen Bewegung kennengelernt. Er sah sie während nächtelanger Diskussionen in einer Garage ohne Autos, in einem italienischen Viertel Bozens, nicht allzu weit von der historischen, deutsch-österreichischen Altstadt entfernt, unter einem der schnell gebauten Nachkriegshäuser. Ich sah zuerst, Mara, deine scheinbar ins Ferne schauenden Augen, die mir riesengroß und blau vorkamen.

Aber Mara saß ja immer ziemlich weit weg und das elektrische Licht mag ihn getäuscht haben, auf jeden Fall hatte sie in all der Zeit, in der er sie nur stumm beobachtete, blaue Augen, erst als er mit ihr zu reden anfing, bemerkte er, dass ihre Augen braun waren, braun wie polierte Milchschokolade. Er wusste damals nichts von ihr, außer wie sie aussah und was ihn anzog an ihr – das Italienische, das Fremde, ja, für ihn war sie ein italienisches Mädchen, also etwas Fremdes, das Andere. Er wusste nicht, kümmerte sich nicht, wer ihre Eltern waren, woher sie kam, tatsächlich erschrak er beinahe, als er erfuhr, dass sie eine deutsche Mutter hatte, und zwar eine Mutter, die sich erkundigte, wer das war, der da nach Mara gefragt hatte. Doch Jul hatte lange keine bestimmten Fragen im Sinn. Er hörte der politischen Debatte in dem Garagenkeller abends bis weit über Mitternacht zu, war im Großen und Ganzen einverstanden, wenn es um den Sinn oder die Notwendigkeit von Veränderung ging (ich hätte gerne an einer Veränderung mit Hand angelegt – wie auch immer – ich hätte an jeder Art, Versuchsart von Revolution mitgemacht, ich weiß nicht … hab mir nie im Einzelnen Gedanken gemacht, ob das meine Haut gekostet hätte oder anderer Leute Blut, ich war jedenfalls bereit, auf der anderen Seite zu stehen, auf der Seite jener, denen nicht zugeklatscht wurde, ich wollte was tun für eine andere, natürlich gerechtere Zukunft). Aber konkrete Vorstellungen zu irgendeiner Veränderung gewann er nicht, sah keine Möglichkeit zur Verwirklichung all dieser Dinge, die sie in den nächtlichen Diskussionsrunden besprachen, es ging tatsächlich nicht so sehr um bestimmte Vorschläge oder Pläne, sondern vielmehr um die Erfassung und die Beurteilung der erlebten gesellschaftlichen Situation. Gegen Mitternacht überkam ihn zunehmend Müdigkeit, sein Schlafwiderstand ließ nach, es fiel ihm von Minute zu Minute schwerer, die Augen offen zu halten. Die Garagenwände waren kahl, rau in ihrer betonierten Nacktheit, nicht einmal ein Plakat, kein Poster, kein Manifest hingen daran, alles Klebbare löste sich nach einem Tag oder schon in einer Nacht von den Wänden und fiel zu Boden, rollte sich ein. Jul schaute auf diese grauen Wände, hörte die düsteren Analysen und verglich Maras Augen mit den Augen der anderen.

Er weiß nicht den Tag und auch nicht, wo er erfahren hat, dass Maras Vater Faschist gewesen war, wahrscheinlich hatte Mara es ihm gesagt, aber dass sie die Tochter eines toten Faschisten war, störte seine Gefühle nicht. Dass er und sie zusammen auf die Straße gingen, um auf der Seite der anderen zu sein, der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen, vielleicht löschte das für sie die Vergangenheit ihrer Väter aus: Auch Juls Vater war ein Nazi gewesen, kein großer und kein kleiner Funktionär, aber doch einer von den vielen Mitläufern.

14

Als sie sich zum ersten Mal alleine in einer Großstadt trafen, in Rom, kam Mara in blauverwaschenen Jeans und einer Strohtasche, worin sie ihre paar Sachen hatte, aus ihrer Universitätsstadt Mailand, nach Tagen von Straßenkämpfen mit der Polizei (in ihrer Hochschule hatten sie Arbeitslose und Obdachlose zu Hunderten einquartiert und sich mit ihnen verbarrikadiert). Sie kam mit dem Morgenzug kurz nach sieben. Er wartete am Ende des Bahnsteigs im Gewühl der Ankommenden und Abreisenden und sah sie trotzdem sehr schnell, ihr weißes, schmales Gesicht, fast ohne Lächeln, die Augen scheinbar gesenkt, da kam sie mit müde geschwenkter Strohtasche, ihrem einzigen Gepäck, auf ihn zu. Sie liebten sich in einem rottapezierten Attica-Zimmer, das man nur über einer offenen Dachterrasse des Hotels erreichen konnte. Und nachdem sie auf ausgebreiteten Zeitungen, noch immer auf dem Bett, Wurst und Käse, auch kalte Hühnerstücke, zusammen mit Oliven und Essiggurken gegessen und Wein dazu getrunken hatten, lasen sie gemeinsam in dem Roman „Vogliamo tutto“. Ein wenig irritierte, ja befremdete ihn dieses Buch oder das Lesen darin, andererseits aber verstärkte diese Mischung von intimer Existenz und politischer Solidarität sein Daseinsgefühl, vor allem diese Liebe, und ließ ihn alles intensiver erleben, bewusster und weltverbundener.

 

Sonntags sonnten sie sich auf der Treppe der Piazza di Spagna, mit der Zeitung in der Hand, lasen von den Rückschlägen der Amerikaner in Vietnam, bummelten durch die Via Babbuino zur Piazza del Popolo, tranken unterwegs in einer Bar ein Glas Martini dry mit grüner Olive, schauten durch das Auslagenglas der Feltrinelli-Buchhandlung und lasen später auf den Marmorquadern des Forum Romanum wieder in „Vogliamo tutto“.

Wie das alles zugedeckt, so tief vergraben werden kann, sagte Mara damals in Rom, ich merke, wie unfähig ich bin, die Bilder wiederzufinden für meinen Vater. Oder hat man, fragte sie sich, mit einem Vater doch nicht viel Gemeinsames? Ihr Vater sei für sie vor allem abwesend gewesen, die meiste Zeit einfach nicht da gewesen, und wenn er zu Hause war, habe er gearbeitet —, und da mussten wir alle auf Zehenspitzen gehen. Ihr Vater habe sie oft in sein Arbeitszimmer gerufen, auf dessen Boden ein ockerfarbener Teppich lag, die Vorhänge aus goldglänzendem Damast (für Mara waren sie aus goldener Seide, damals). Hinter dem Tisch die Bücherstellage aus Nussholz, an der Wand gegenüber ein altes Madonnenbild aus seiner Geburtsstadt Agrigento. Auf dem im Barockstil nachgemachten Tisch – er hatte Holzwurmlöcher, worauf der Vater stolz gewesen sei wie auf einen Altertumsbeweis – musste Mara für den Vater multiplizieren und dividieren. Oft eine halbe, manchmal auch eine ganze Stunde lang. Sie tat dies nicht besonders gerne, ihr Vater habe sehr schnell die Geduld verloren, habe sie angeschrien: Rechne genau, kontrollier noch einmal, bist du ganz sicher, dass alles so stimmt, hast du dich nicht verrechnet? Sie sei ihm gegenüber gesessen an dem schweren Tisch, auf dem sich immer Berge von Papieren getürmt hätten. Er habe ihr nur kleinformatige Blätter gegeben, eine Art Blockzettel, es sei auch wenig Platz gewesen auf diesem Tisch zwischen den Aktentürmen. Während ich rechnete, erzählte Mara, stand er meistens auf und sah mir über die Schulter oder er ging auf und ab, und wenn ich mit allem fertig war, sagte er: Geh jetzt. Wahrscheinlich überdachte er, was herausgekommen war, und wollte nicht gestört sein.

Wann immer Mara von ihrer Kindheit erzählte, stand stets der Vater im Vordergrund, und vor allem sein Tod, der ihr den ersten und größten Verlust zugefügt hatte: An jenem Jahreswechsel im winterlichen Ferienhaus, mitten in den Vertrautheitstagen zwischen Weihnachten und Neujahr, plötzlich dieser Herzinfarkt und kein Arzt zu erreichen in dieser Feiertagszeit, genau an Silvester.

Damals, als Mara das letzte Jahr in die Oberschule ging, sprachen die italienischen Sportlehrer in Bozen den Namen ihres Vaters noch fast ehrfürchtig aus. Sein Name stand hier für das Erziehungssystem der Jugend unter Mussolini, er war für die Ausbildung der jungen Faschisten, für ihre sportliche und geistige Entwicklung verantwortlich gewesen. Aber Mara behauptete, sie habe sich nie besonders um die Vergangenheit ihres Vaters gekümmert. Als Jul sie einmal (noch vor Natalies Geburt) fragte, ob sie in ihrer Schulzeit etwas von der faschistischen Karriere des Vaters zu spüren bekommen habe, sagte sie mit einem halben Lächeln: Meine italienische Turnlehrerin behandelte mich besonders streng, anscheinend weil ich die Tochter von dem und diesem war, ich sollte wohl so etwas wie ein sportliches Vorbild abgeben. Ganz anders sei es ihr in der Volksschule ergangen, die sie in deutschen Klassen am Fuße des Skiberges „Kronplatz“ besucht hatte. Sie habe sich von Anfang an als etwas anderes als ihre Mitschülerinnen gefühlt, nicht als etwas Besseres oder Minderes, bloß als etwas anderes: Ich spürte, dass ich irgendwas nicht gemeinsam mit den anderen hatte, wusste aber nicht, was, später dachte ich – weil ich keinen deutschen Vater hatte.

Maras jüngerer Bruder Carmine, den Jul ebenfalls in der Garage kennengelernt hatte als einen linken Aktivisten, auch Carmine hatte sich angeblich nie belastet gefühlt von der Vergangenheit seines Vaters. Das Erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an meinen Vater denke, hatte er zu Jul gesagt, ist sein Brüllen, sein Schreien, Papà war einer, der immer laut sein musste, jedenfalls bei uns zu Hause. Und einer, der – ganz gleich, ob in der Stadtwohnung oder im Ferienhaus am Land – sich stets mit vielen Menschen umgab, Freunden, Bekannten, Geschäftspartnern, immer schleppte er Gäste an, und Mama kochte und kochte, und wenn irgendetwas nicht so war, wie er es haben wollte, dann brüllte er los.

Carmine erzählte das in einem Tonfall, der ohne Vorwurf war, eher etwas wie Verständnis, auch Zuneigung anklingen ließ. Seine Augen zwinkerten belustigt. Carmine sprach von seinem Vater wie von einem, der in der Familie ein geliebter Kauz (oder ein geliebter Fremder?) gewesen war, einer, den man gern hatte und doch belächelte, jedenfalls jetzt, lange nach seinem Tod. So unbefangen wie Mara erzählte, dass sie sich auf Wunsch der Mutter in das Studio geschlichen habe und, während Papà dort sein Mittagsschläfchen hielt, aus seiner über einen Stuhl gehängten Jacke die Geldtasche herausstibitzte, so erzählte Carmine schmunzelnd von dem Barometer, auf dem sie dem Vater mehr als einmal Schönwetter-Aussichten herbeigeschwindelt hätten, Papà habe nämlich eine Art meteorologischen Tick gehabt und sich einen Dosenbarometer ins Speisezimmer gehängt, morgens, mittags und abends, vor und nach jeder Mahlzeit habe er einen prüfenden Blick darauf geworfen, und da er sich bei Schlechtwetteraussichten immer ärgerte, hätten sie manchmal heimlich die drehbare der zwei Lanzetten so eingestellt, dass Papà sich auf einen Sonnentag habe freuen können, wenigstens ein paar Stunden lang.

Eine andere Marotte sei die Absicherung der Besitzgrenzen gewesen, im Besonderen rund um das Ferienhaus. Papà habe zu diesem Zweck eines Tages eine große Anzahl von riesigen, leeren Blechdosen herangeschafft, Dosen, die einmal zehn Kilogramm Marmelade gefasst hatten, er, Carmine, habe sie (und wie stolz er auf diese Aufgabe gewesen sei!) mit Zement und Wasser füllen müssen – als eine Art Marksteine hätten diese Betondosen den Besitz abgrenzen sollen, da sie aber nie in die Erde versenkt worden seien, hätten die Nachbarn sie beliebig verrücken können.

Über Politik hatte Carmine angeblich nie mit seinem Vater geredet. Carmine war sechzehn, als sein Vater starb. Meine Freunde, gab er beim Mittagessen an einem Sonntag in ihrem Berghaus, kaum zwei Jahre nach Natalies Tod, zu bedenken, waren Italiener wie ich, keine deutschen Südtiroler, und sie hatten eigentlich alle ehemalige Faschisten als Väter. Mussolini hat nun einmal keine Kommunisten heraufgeschickt, um das deutsche Etschland zu italianisieren. Wie hätte ich Söhne von italienischen Kommunisten oder Sozialisten meines Alters kennenlernen können? Er war sich in diesem Augenblick seiner Distanz zur Vatervergangenheit so gewiss, dass er lachen konnte.

Carmine hatte eine begeisternde Pfadfinderzeit hinter sich, war mit sechzehn ein Oberfuchs gewesen. Schon ein paar Jahre zuvor waren in einer Herzjesu-Nacht (was Herzjesu für Andreas-Hofer-Tiroler bedeutete, begannen die Italiener im Lande erst damals allmählich zu erfahren) Dutzende von Strommasten in die Luft geflogen, die Landeshauptstadt Bozen war ohne Strom, Licht und Telefon. Und dann explodierten nicht nur Hochspannungsleitungen, sondern auch fast fertiggestellte Wohnbauten, die für italienische Zuwanderer aus dem Süden geplant waren.

Italien hatte den Südtirolern nach dem Zweiten Weltkrieg ihre kulturellen Rechte als Minderheit garantieren müssen, hatte aber dieses Versprechen dann die längste Zeit nicht eingehalten. Carmine wusste davon nichts, er wusste nur von den Anschlägen auf die Brenner-Bahnlinie, auf die „heiligen Gebeinhäuser“ der angeblich in Südtirol gefallenen Italiener und von den Anschlägen auf Carabinieri- und Finanzpolizeiposten. Also demonstrierte er mit seinen italienischen Freunden vor dem faschistischen Siegesdenkmal in Bozen („Von hier aus haben wir / die anderen / durch Sprache, Gesetze und Künste / veredelt“) gegen die Südtiroler Terroristen, gegen die Deutschen (Daitschn/crucchi) und marschierte mit Hunderten von grölenden MSI-Faschisten durch die Museumstraße zum Obstmarkt und schrie mit den anderen: „Siamo in Italia – Il Brennero è nostro – Qui si parla italiano!“ Und denk, was du dir heute denken magst oder musst: Aber ich habe drei Monate nach der letzten Anti-Südtirol-Demonstration mit meinen italienischen Mitschülern das italienische Lyzeum besetzt. Da war Papà noch nicht lange tot. Wir Söhne von Ex-Faschisten haben unsere Schule besetzt, und unser Vorbild war Rudi Dutschke. Von da an hatte ich auch Südtiroler Freunde, viele sogar, und sie sprachen wie meine Mutter deutsch. Eigentlich habe er sich, meinte schließlich Carmine, im Grunde nicht anders benommen als sein Vater. Denn wie er habe er sich gesellschaftlich einmischen wollen, etwas tun wollen, nicht abseits stehen, und sei so aktiv geworden in der außerparlamentarischen Bewegung. Natürlich seien Vaters Jugendzeiten anders gewesen, dennoch sei Papà Idealen gefolgt und einer der jüngsten politischen Führer seiner Stadt geworden, auch wenn freilich als Federale, als Parteiführer des Duce in seiner Stadt Agrigento, während er, Carmine, als Oberfuchs nur für zwanzig, später aber immerhin für vierzig Pfadfinder Verantwortung getragen habe – trotzdem.

15

Es war ein heller Morgen, ein blauer Südhimmeltag, als er Zia Delia mit dem Taxi abholte zum Friedhof über dem Tal der Tempel. Die Leute standen auf den Trottoirs herum, zwischen den Palmen im Park, im Schatten der Magnolien, vor den Fischgeschäften, in den Bars; die Autos rollten Stoßstange an Stoßstange ohne irgendein Gehupe. Er führte Zia Delia am Arm, bemerkte erst jetzt, dass sie gar nicht so eine hochgereckte Riesin war, sondern ihm eben noch bis über die Schulter reichte, und einen leicht geneigten Nacken hatte sie auch. Das Taxi ließen sie vor dem großen Tor der Totenstadt warten. Zwanzig Minuten etwa, sagte Delia zu dem Fahrer, der ihr mit auffälligem Respekt aus dem Auto geholfen hatte. Einen bunten Strauß in der linken Hand, spazierte Jul mit Delia am rechten Arm langsam in die Nekropole hinein, tatsächlich eine Stadt mit Straßenfluchten und beidseitig aufragenden kleinen Totenhäusern. Flachgräber sah er nur wenige, auf jeden Fall nicht in dem Teil, durch den Zia Delia ihn dirigierte. Kuppelhäupter von Pinien, in denen ein feiner Meereswind wedelte. Und da sah er, noch bevor Delia ihn darauf hinweisen konnte, aus einem Augenwinkel Maras Familiennamen in großen schwarzen Buchstaben auf einem der größten Grabhäuser prangen. Ein etwa sieben Meter hohes und fünf Meter breites Mausoleum, die Stirnwand mit grauweißen Marmorplatten bedeckt, und zwei marmorne Stufen zur drei Meter hohen vergitterten Glastür. Zia Delia sperrte das Schloss auf, Glas hinter schwarzen Metallstangen, und Jul trat in einen Kapellenraum mit Altartisch, zwei dreiarmigen Kerzenständern und einem Kruzifix. Darüber ließ ein Glasfenster, auf dessen blauem Grund weiße grünblättrige Blumen gemalt waren, blässlich gefiltertes Licht herein. Acht braune Kaffeehausstühle luden vor dem Marmoraltärchen zum geruhsamen Meditieren ein. Er setzte sich neben Delia und las die Namen auf den Marmorplatten an der linken Wand, hinter der Maras sizilianische Toten lagen. Zehn Kammern zählte er, sechs davon schon belegt: die Eltern ihres Vaters und vier von deren Kindern. Maras Vater lag nicht hier, er lag in Bozen auf dem St. Jakobsfriedhof unter der Smoghaube der Industriezone, aber beschützt von den so hohen Tiroler Bergen. Als Zia Delia das Familienmausoleum wieder schloss – das Taxi wartet, sagte sie –, ging Jul noch die wenigen Meter zum Ende dieser Totenstraße und hatte den weiten blauen Horizont im Blick, das Meer, über das die Kartharger gekommen waren und die Griechen und die Araber, er sprang auf die niedere Mauerbrüstung und sah unter sich das Tal der Tempel, schüttere Mandelbaumwäldchen, Olivenhaine, und dahinter den langgezogenen Sandstrand zwischen San Leone und Porto Empedocle. Das Licht, die rasende Helligkeit, machte ihm Herzklopfen, Lebenslust.

Damals, als Maras Stimme aus der Telefonmuschel zu ihm drang (und dieser eine Satz, mit dem er alles erfuhr), hatte er sich wie weggerissen von ihr gewusst statt zu ihr hingerissen.

Jul brachte die alte Frau nach Hause und flanierte dann über die sonnengrelle Via Gioeni hinunter zur Porta di Ponte, von dort schlenderte er zwischen Autos und dahintrödelnden Passanten gemächlich die Via Atenea hinauf. Bevor er aber in sein Hotelzimmer zurückkehrte, sah er kurz in die Bar „Arlecchino“ des Benito Peri hinein, obwohl er wusste, dass ihn dessen fensterlose, muffige Bude kaum weiter aufmuntern würde: staubige Flaschen und alte Keksschachteln und vor der Theke kein anderer Kunde. Der schlohweiße Barinhaber mit dem niedlichen Vornamen des einst (und von nicht wenigen noch heute) hochverehrten Duce Benito saß auf einem Stuhl (auf der anderen Seite des Gässchens, das kaum zwei Meter breit war) gegenüber der offen stehenden Bartür und erhob sich erst, als Jul bereits an der unbeleuchteten Theke stand. Vor sich hin summend ließ der rotwangige Benito eine Neonröhre aufflammen und fragte ihn dann in fast verschwörerischem Ton nach seinem Wunsch. Campari? Kein Problem, sogar mit limone, aber ohne Eis.

 

Ein andermal würde Jul mit dem Alten auch ein paar Worte wechseln, nur heute nicht.

Von einem deutschen Bahnhof aus hatte er – nein, er wusste es genau, es war in Passau gewesen, er hatte am Tag zuvor Studenten interviewt, ein Junge, gerade sechzehn, war aus einem Fenster gesprungen, auf den Platz vor der Nibelungenhalle, Kopf voraus und offenbar freiwillig –, Jul war am Morgen (ohne Frühstück) zu Fuß vom Hotel zum Bahnhof, wollte mit dem ersten Zug über München nach Hause, er hatte zwanzig Minuten bis zur Abfahrt, trank einen Kaffee, kaufte Zeitungen (las mit Wut und Verachtung Reagans neuesten Einsparungsplan im Sozialbereich bei gleichzeitig beschlossener Erhöhung der Rüstungsausgaben) und rief dann aus einer gelben Telefonkabine Mara an. Gestern Mittag hatte er noch Natalie im Ohr gehabt, sie war eben von der Schule heimgekommen –, jetzt war sie tot.