Der Schmerz der Gewöhnung

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7

Er fühlte sich angekommen. Und er wusste nun auch, warum es gut war, hier zu sein. Hier, woher Maras Vater kam und daher auch Maras andere Welt, von hier aus wollte er die Entfernung messen, die Meter seines Lebens, nicht nur das mit Mara und Natalie. Auch wenn er den Koffer noch immer nicht ausgepackt, sondern nur aufgeklappt am Bettende deponiert hatte, sagte er sich: Ich bin da. Lag ausgestreckt auf dem Bett oder saß auf dem einzigen Stuhl zwischen Bett und Duschraum und starrte auf den gelblichweißen abblätternden Wandverputz, auf die haardünnen Risse, die sich zu einem Netz ausbreiteten, aus dem Gesichter auftauchten, je nachdem, wie er die Augenlider bewegte, sie leicht oder fester zusammenzog.

Er hatte in einem Schreibwarengeschäft, das eigentlich ein Souvenirladen war (mit den girgentischen Tempelruinen in Gips oder Kork), ein paar blaue Schulhefte gekauft und wollte darin – wann und solange er konnte oder mochte – einiges notieren, was sein Leben ausgemacht hatte, was immer ihm einfiel, auch das scheinbar Unwichtige.

In der Nacht wachte er regelmäßig nach zwei, drei Stunden Schlaf auf und später mindestens noch zweimal, und jedes Mal schien ihm, nun müsse er bis zum Morgen wach bleiben. Manchmal setzte er sich dann an das Tischchen, im Mauerwinkel zwischen Fenster und Badetür, und schrieb ein paar Zeilen, meistens war er zu mehr nicht imstande – doch es kam auch vor, dass er kaum aufhören wollte. Einerseits, weil er den Schmerz nicht ertrug, wenn das Erinnern … aber anderseits lebte er auf, lebte noch einmal ein Stück Zeit. Und manchmal legte er gerade deshalb den Kugelschreiber weg und schluckte Tabletten. Um zu vergessen, um zu verdrängen, versuchte er an alles Mögliche zu denken, an Fußball, ja sogar an die nächsten Parlamentswahlen in Schweden. Nur um wegzudenken von Mara und Natalie. Und auch, warum er zu keinem Facharzt gegangen war. Tatsächlich schlief er irgendwann wieder ein, bis um sechs oder halb sechs, dann schaffte er es nicht mehr. Der Druck in seinem Kopf. Als ob sich in seinem Schädel etwas verknäuelte (ein Reptil). Er sprang aus dem Bett, schob einen Fensterladen auf, stellte sich unter die Dusche.

Am Sonntagmorgen um halb sieben ging er durch eine tote Stadt; die Sonne schien schon auf die Hausdächer der Hauptstraße (die gerade breit genug war für die Durchfahrt der kleinen städtischen Busse), niemand überholte ihn, niemand kam ihm entgegen, kein Tabakladen, kein Zeitungskiosk, keine Bar oder Pasticceria geöffnet. Ja, drei Arbeiter räumten eine Wohnung im ersten Stock über einem Laden aus, einer warf das Zeug in großen Pappkartons herunter, einer seiner zwei Kollegen fing die Schachteln jeweils auf. Kurz bevor Jul auf den Platz gelangt mit dem Magnolienbaum, den Stechpalmen und Kakteen und all den anderen mediterranen dunkelgrünen Blätterbäumen, aus denen die Spatzenscharen schon längst zu diesem Tag ausgeschwärmt sind, vertreten ihm plötzlich zwei Männer den Weg und fragen ihn, ob er schon einmal von „Geova“ gehört habe, und bevor er im Weitergehen weiß, was sie meinen, haben sie ihm ein Faltblatt zugesteckt, auf dem er lesen kann: dass Jehova das verlorene Paradies wiederherstellen werde auf Erden für alle jene, die bereit sind, ihm zu gehorchen wie Kinder („Er wird jede Träne in ihren Augen trocknen und es wird den Tod nicht mehr geben“). Im Park hat ein Zeitungskiosk geöffnet und ebenso das Pavilloncafé „Milano“. Er setzt sich unter einen Spatzenbaum, lässt sich einen Cappuccino mit Cornetto bringen und liest, dass der Brasilianer Ronaldo endlich wieder ein Tor geschossen hat für Inter Mailand und: „Hunderttausende betroffen von Reaktorunfall in Tokaimura“. Am Nachbartisch sitzen zwei ältere Männer – einer mit Spazierstock scheint gehbehindert, jedenfalls gebrechlich – und ein etwas jüngerer mit dichtem schwarzen Haargewuschel und Sonnenbrille; die Sonnenbrille ist immer wieder auf Jul gerichtet. Doch jetzt will er nicht mehr den Platz wechseln, will in Ruhe sein Cornetto kauen und lesen. Das litaneienhafte, mundartliche Reden am Nebentisch kann er so und so nicht verstehen, aber er sieht, wie zu dem Gebrechlichen von Zeit zu Zeit ältere Herren hinzutreten, auch junge Burschen, und ihn respektvoll begrüßen, manche küssen sogar seine Hand. Ein beliebter alter Mann (oder ein Boss?) in unansehnlicher Kleidung, cremig helles, kurzärmeliges Hemd und kaffeebraune Hose.

Die Stadt ist eine Kasbah, ein labyrinthisches Winkelwerk, mit Gässchen, die sich ständig verzweigen, man kommt, wenn man sich nicht auskennt, nie dorthin, wo man will, doch immer wieder tut sich unerwartet eine Verbreiterung auf, ein abgeschiedenes Plätzchen (cortile) mit dem Duft nach frischgebackenem Brot und neben dem Panificio ein Gemüseladen und manchmal auch die Officina eines Handwerkers. Die meisten Häuser sind mit diesen ockergelb bräunlichen Quadern aus Tuffstein gebaut (an einem sah er die noch grünen Blätter wilder Weinreben bis zu den Fenstern des vierten Stockes hinaufranken), darunter Palazzi aus der Renaissance und aus dem Barock mit monumentalen, von Wind und Salzluft zerfressenen Portalen (und in den Stockwerken darüber nicht selten diese Romeo-und-Julia-Balkönchen mit Eisengeländer). Über dem Schild eines Dentisten (Franco Siracusa) las er auf einem zweiten Schild: „Qui riceve la maga di Caldea“ (Hier empfängt die Magierin von C.). Wenn er jetzt zu Natalie hätte sagen können: Ich weiß, wo die Zauberin von Caldea wohnt. Er konnte von einer Terrasse des Aldo-Moro-Platzes auf den Bahnhof, auf das Dach der Bahnhofshalle und auf die Geleise schauen. Aber er stieg nicht hinunter.

8

Es war ja alles schon längst vergangen. So viele Jahre und doch wie gestern, dass er Natalie die moosige Lichtung im Wald gezeigt hatte an einem Märztag, dieses Wasserloch mit den Gelbbauchunken, nicht weit von ihrem Berghaus entfernt. Jetzt hörte Jul sich jeden Abend das Konzert der zeternden Spatzen in den Bäumen am Moro-Platz an. Unter der größten Magnolie hockte er in einem dunkelgrünen Plastiksessel und hörte den Spatzen zu. Wenn der letzte Sonnenstrahl am letzten Zweig verlöschte, verstummten sie jäh. Dann war wieder vereinzeltes Autohupen zu hören, der Motorenlärm von der Piazza Vittorio Emanuele und natürlich das Debattieren der Männer an den Bar-Tischchen und auf den Bänken des Parks. Durch das lockere Geflecht eines weißblühenden Zierstrauchs sah er ein etwa zwanzigjähriges Mädchen, das vorbeispazierenden Männern Aschenbecher aus glänzendem Metall um tausend Lire zum Kauf anbot. Mit überkreuzten Beinen saß diese Schwarzhaarige auf einer Bank und kreischte jeden Vorbeigehenden an, dabei lachte sie so seltsam über das ganze Gesicht, griff sich mit der freien Hand immer wieder ins dunkle, über die Schulter fallende Haar. Jul blickte auf ihre dicksohligen geschnürten Schuhe, sie schien ausgerüstet für kühlere Nächte im Freien, mit einer lackschwarzen Lederjacke und schwarz-weiß gestreiften Mephistohosen. Die Männer in seiner Nähe waren auch auf sie aufmerksam geworden, mehrmals hörte er den einen und anderen sagen: Una bella ragazza. Und ein schönes Mädchen war sie, solange sie nicht ihren Mund verzerrte, was sie von Zeit zu Zeit aber tat, indem sie die Lippen jäh nach oben oder in die Breite verzog.

Es war Nachmittag gewesen – ein wolkengrauer Nachmittag, sagten sie später im Dorf. Und Mara hatte Natalie zu deren Freundin Manuela gebracht, in dieses kleine Hotel an der Straße (mit Restaurant und Hallenbad). Während er, Jul, unterwegs war in Passau für eine Radio-Reportage (Suizid unter Jugendlichen). Tags darauf wusste er, dass Mara nicht allein mit Natalie zu dem Hotel gefahren war, sondern in Begleitung eines ortsfremden Italieners.

Die Kacheln im Schwimmbecken waren blau, blaues Wasser bis zu den Knien beim Einstieg, doch der Beckengrund neigte sich bis zu zwei Meter Tiefe am Beckenende. Und dort gab es eine kleine Leiter zum Ausstieg mit weißen Sprossen, die Natalie nicht mehr erreichte.

Ihm fehlt Maras Schweigen. Als ob er ohne eine Haut aus Wald und Gras und ohne Schnee und Regen und das Feuer in seinem Ofen nicht leben könnte. Es würgt ihn, die untergehende Sonne erwürgt ihn, es interessiert ihn nicht, dass Maras Vater irgendwann einmal an diesen Magnolienbäumen hier als Kind vorbeigelaufen oder als junger aufstrebender Mussolini-Faschist in der schwarzen Uniform eines Federale mit wadenengen Lackstiefeln die Via Atenea herunterparadiert ist. Er will nicht daran denken, will von dieser dröhnenden, muffigen Vergangenheit nichts wissen. Er möchte –, ja, was möchte er?

Jetzt, wo er das Meer sehen kann, läuft er nicht zum Meer hinunter, er könnte in einen Bus steigen, nach Porto Empedocle oder San Leone fahren, doch er möchte durch das vermodernde Herbstlaub zum Wald hinauf, stumm mit seinem Hund durch das Heidelbeerkraut, mit geducktem Kopf durchs Unterholz und zwischen den hohen wartenden Fichten und Föhren hindurch. Und weiß, dass ihm das nicht helfen kann, dass er seinen Kopf in den breiten Stamm eines alten Baumes müsste drücken können, aber er wäre auch dort nicht geborgen.

Dieses Hallenbad war der Stolz eines kleinen Hotels an der Straße, da oben auf dem Berg, so weit weg vom Meer. Und es gehörte Manuelas Großeltern, und Manuela war Natalies beste Freundin –, die Fliesen der Hallenwände schimmerten weiß.

9

Tagsüber, manchmal auch noch nach Mitternacht, drängten Stimmen an seine Tür, dann wurde diese Tür zunehmend dünner, eine durchlässige Haut, die ihn gerade noch vor Blicken schützte, nicht aber vor den schrillen oder herausgekehlten Worten auf dem Korridor. Am Vormittag waren es fast nur Arbeitsrufe zwischen dem Portier Mario und dessen Bruder Salvatore oder zwischen Mario und Lucia, der unauffälligen Putzgehilfin, die jedoch von den pensionierten, siebzig- und achtzigjährigen Gerichtsbeamten, Buchhaltern und Geometern, den Dauergästen des Hotels, bei jedem Sichtkontakt im Stiegenhaus oder im Gang oder unten in der Halle wie eine Schönheitskönigin begrüßt („Buon giorno, bellissima“) und mit geschnurrten oder geglucksten Komplimenten überhäuft wurde. Niemand in diesem Hotel dachte offenbar daran, dass sich irgendjemand von lautem Gerede gestört fühlen könnte. Tatsächlich fühlte auch Jul sich nie davon gestört, schon gar nicht erschreckt, im Gegenteil, diese Stimmen waren für ihn wie Lebensgesang. Er versuchte nicht, die einzelnen Worte zu verstehen – sie waren wie das Heranklatschen der kleineren und größeren Wasserränder am Meer (oder als hörte er Radio während des Rasierens, auch wenn er weder Radio noch Fernsehen in seinem Zimmer hatte). Das Auf und Ab der Stimmen war so etwas wie ein Taucherschlauch, an dem er in der Tiefe hing. Sogar dann, wenn sie mitten in die Nachmittagsstille hinein plötzlich durch die Wände hereinbrachen, keifende Frauenstimmen, japsende Altmännerwut, ein Hin- und Hergezerre zwischen Fisteltönen und Raucherbass, nicht selten noch spät nach Mitternacht – besoffenes Gezänk, Hurengekeife.

 

Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, bis er nach Tagen Maras einzige Verwandte in dieser Stadt anrief, Zia Delia, die Witwe ihres Onkels Vincenzo, der der ältere Bruder ihres Vaters gewesen war. Zunächst schien es die Hausnummer gar nicht zu geben, schließlich fand er heraus, dass er auf der falschen Straßenseite suchte, dort wo die ungeraden Nummern waren, sie aber hatte eine gerade. Es war ein fünfstöckiges Haus oberhalb des pompösen Post- und Telegrafenpalasts aus der Duce-Zeit, an einer guten Straße gelegen, ein graugrün gestrichenes Haus mit einer marmorierten Treppe. Den Lift benützte er nicht, lief schwitzend das Stiegenhaus hinauf, bis endlich im letzten Stock schon eine Wohnungstür offen stand. Keine gebückte runzelige Frau in schwarzem Kleid und schwarzem Kopftuch gab ihm die Hand, nein, Zia Delia wirkte eher wie eine Dame, großgewachsen, silberhaarig kam sie ihm in einem metallblauen, um die Hüften gefältelten Kleid entgegen, schritt wortlos lächelnd vor ihm her über den Fliesenboden ins Wohnzimmer: fünf Meter hohe Wände, drei gleich große, gleichfarbige (blaurötlichgraue) schmale Perserteppiche, ein langes Kanapee, Glastischchen und zwei Polstersessel. Jul trocknete mit einem Taschentuch sein Gesicht, blickte vom Kanapee auf diese fremde Frau, die abwartend ihm gegenüber in einem der goldbezogenen Polstersessel saß. Was sollte er reden? Warum er hier war? Um Grüße von ihrer Nichte Mara zu bringen. Fast fühlte er einen Anflug von Scham, ein Fremder für sie zu sein, dazu noch ein deutscher Fremder, und war doch ein auf Sizilianisch sehr ernst genommener Verwandter: Du bist Maras Mann, also gehörst du zur Familie, auch wenn du noch so deutsch bist, schnaubte Delia freundlich empört. Vor Jahren war er schon einmal in dieser Stadt gewesen, damals mit Mara, er wunderte sich, dass Delia sich daran erinnerte. Sie war eine pensionierte Lehrerin, hatte vierzig Jahre, wie sie selbstironisch zugab, Mathematik unterrichtet. Jetzt wollte sie von ihm auf ihr Alter geschätzt werden, sie sah wie Mitte siebzig aus, aber er wusste, dass sie zehn Jahre älter war, und heuchelte. Dem Kanapee gegenüber ein hoher gerahmter Spiegel über einer ebenholzschwarzen Konsole, eigentlich ein Flügelkästchen, rechts davon (in seinem Blick) das gemalte Porträt einer sehr schönen jungen Frau, die schwarzen Locken zu einer Haarkrone aufgesteckt, von der zu beiden Seiten geringelte Strähnen auf die Schultern fielen. Er musste immer wieder auf dieses Ölbild schauen, auf diese sinnlich vollen Lippen und die dunklen Augen, die nicht lächelten. Zia Delia folgte seinem Blick: Maras Urgroßmutter, sagte sie (la bisnonna di tua Mara), deren Mann habe sie gemalt. Ja, ja, er war Maler. Das wusste er schon, dass Maras Großmutter einen malenden Vater gehabt hatte. Und dass sie geheiratet wurde von einem Kapitän der Handelsschifffahrt, der mit achtundvierzig Jahren starb, der Vater von Maras Vater. Zia Delia bot Jul einige Aperitifs zur Auswahl an, und er nahm sich ein Glas Chinotto. Eigentlich wollte er Delia fragen, wie sie sich an Maras Vater, ihren Schwager, erinnere, wie sie ihn gesehen, erlebt habe. Aber er fragte nichts von alldem, ja, ob der Bahnhof und das Postgebäude in den zwanziger Jahren, zu Mussolinis Zeiten gebaut … Natürlich, so sahen sie doch aus, besonders das Postgebäude mit den in den Himmel reichenden Säulen und dem kolossalen Krieger-Fresko. Auch das Gebäude der Banca d’Italia war zu dieser Zeit errichtet worden. Auf dem jetzigen Bahnhofsareal sei ein Familiengrundstück enteignet worden, murmelte Delia. Eine kalte Gleichgültigkeit lähmte ihn. Um nicht unhöflich zu sein, versprach er, sie noch einmal in dieser Woche anzurufen: Vielleicht könnten wir gemeinsam das De-Pasqua-Familiengrab besuchen? Sie nickte ihm mehrmals zu: Sì, sì, warum nicht!

Statt den Lift zu benützen, rannte Jul die Treppen vier Stockwerke hinunter, lief zum einzigen Kino der Sechzigtausendeinwohnerstadt und verschlang Kubricks „Eyes Wide Shut“, er war von jedem nackten Frauenarsch auf der Breitleinwand hingerissen.

10

Mara schrie unter ihm, wie er sie nie mehr, auch in Jahrzehnten nie mehr, vor Lust hatte schreien gehört. Er wusste, dass ihr Vater in diesem Bett zum letzten Mal geatmet hatte.

Es war kalt in diesem Haus, wie es hinter diesen Mauern immer, auch im Sommer, kalt war. Die Wände kahl oder behängt mit belanglosen, zugetragenen Souvenirartikeln, da und dort eine fabriksmäßig gefertigte Indianerpfeife oder Indianermaske, Geschenke einer Tante in Brasilien.

Dieses Familiengericht spielte sich in ihrem ersten gemeinsamen Sommer ab, nach dem ersten gemeinsam verbrachten Meeresurlaub (während Nixons Napalmbomben den vietnamesischen Wald entlaubten). Mara und Jul waren mit einem alten Kleinwagen an die kroatische Küste gefahren, sie hatten wie Kinder gelebt, genügsam, hatten anfangs sogar nur ein winziges Parterrezimmer gemietet mit einer Fensterluke ohne Blick auf das Meer, aber es gefiel ihnen alles, sie lagen tagsüber auf der Betonmauer eines Anlegeplatzes für Fischerboote, blickten in blitzblaues Wasser, tauchten hinunter und sonnten sich auf der wassernahen Mauer (erst nach Tagen merkten sie, dass nur zwanzig Meter entfernt ein offener Müllberg angelegt war). Sie aßen, was immer ihnen in dem staatlichen Gastbetrieb angeboten wurde, meistens Sardinen mit Bratkartoffeln oder Nudeln mit Gulaschsoße. Mara war schwanger, nur sie zwei wussten es und redeten davon auch nicht nach ihrer Rückkehr. Er erinnert sich an das Gartentürchen (auf Nabelhöhe und mit Karbolineum dunkelbraun gestrichen), dahinter – eben herbeigeeilt – Maras Mutter, noch nicht geblondet, mit ihren natürlich grauen Haaren, laute, freudig sich überschlagende Begrüßungsrufe für Mara, in die er eher zufällig mit einem Kopfnicken einbezogen schien, dann der Empfang im Hausinneren durch Maras Schwester Teresa und ihren schwammgesichtigen Mann Carlo. Ein Familiengericht bei Nachmittagstee. Ja, Mara und er waren am Nachmittag zurückgekommen, an einem heißen Julitag. Und Maras Schwester verkündete schon nach einer Stunde das Urteil: Lebte unser Vater noch, hättest du nie diese Türschwelle überschritten. Dass Mara und er allein, also ohne Anstandsbegleitung, ans Meer gefahren waren und also auch die Nächte miteinander verbracht hatten … Für Teresas Entrüstung lieferte Jul tatsächlich mehr als einen Grund – allem anderen voran musste er sich noch von Ines scheiden lassen. Aber da war ja noch das eine: Er war weder Kaufmann noch Rechtsanwalt noch Arzt, er war nichts als ein lose beschäftigter, sogenannter freier Journalist. Außerdem – er war ganz und gar nicht karrieresüchtig, war nicht ehrgeizig. Er verstand – mit den Augen Teresas war es absurd, ihn neben Mara zu sehen.

11

Maras Vater, den er nie lebendig gesehen hatte, nur als Foto, war an einem Ersten Jänner an Herzinfarkt gestorben. Zu Tode gehetzt, wie Jul sich später dachte, wenn Mara ihm das Ende ihres Vaters erzählte, den sie liebte, obwohl er ein Faschist gewesen war. Jul hatte Mara zum ersten Mal in einer linken Diskussionsrunde gesehen. Dass sie ihren Vater liebte, fand er völlig natürlich, auch wenn er ein Faschist gewesen war. Mara, die achtzehn Jahre alt war, als ihr Vater starb, hatte von ihm nur den zärtlichen Teil an Erinnerungsbildern bewahrt, und darauf beharrte sie. Zum Beispiel: ihr Betreten des Arbeitszimmers des Vaters, der, vertieft ins Aktenstudium, erst nach einer Weile aufblickte und sie heranließ, ihr dann sogar bei der Lösung von Rechenaufgaben behilflich sein wollte, aber dabei schnell die Geduld verlor. Im Rechnen sei er nicht besonders sicher gewesen, erzählte Mara, sie habe ihm in späteren Jahren, in ihrer fortgeschrittenen Studienzeit, sogar rechnerische Arbeiten abnehmen müssen. Mara sprach beinahe ehrfürchtig von ihrem Vater, so dass Jul sie auf Zehenspitzen in das Studio, das Arbeitszimmer eines Advokaten, hineintrippeln sah. Für Papà sei sie die kleine Tänzerin gewesen, Papà habe sie manchmal auf das Knie gehoben, doch ihr jüngerer Bruder Carmine sei darauf versessen gewesen, dem Vater, wo immer es ihm möglich war, die Aktentasche zu tragen. Nach dem Mittagessen, bei dem es meistens sehr laut zugegangen sei – Papà habe sich leicht und schnell geärgert, habe jähzornig geschrien, aber sich ebenso rasch wieder beruhigt –, sei er in seinem Studio verschwunden und dort auf dem Kanapee in einen kurzen, tiefen Schlaf versunken; so tief und fest sei der gewesen, dass sie sich – wenn Mutter es wollte – risikolos dem über eine Stuhllehne geworfenen Sakko nähern und daraus die Geldtasche des Vaters habe herausholen können. Die Mutter habe sich einige Scheine genommen, und sie, Mara, habe das Portemonnaie wieder in Papàs Tasche zurückgesteckt, und dieser Vorgang sei kein Einzelfall geblieben, zu genau könne sie sich daran erinnern, Vater aber habe nie etwas davon bemerkt.

In den Sommer- und Winterferien kam er immer am Donnerstagabend, erzählte Mara, von der Stadt, mit seinem erbsengrünen Fiat 600. Zuvor habe er einen dunkelblauen Fiat 1100 E gefahren, aus zweiter Hand, das heißt, von einem seiner Schwäger erworben. Ein altes Modell, erinnerte sich Mara mit einem Auflachen: Wir mussten es meistens anschieben, Mutter, meine Geschwister und ich, wir stemmten unsere Hände gegen den gewölbten Kofferraum hinten, drückten und schoben, und Vater fluchte, ich höre ihn noch, wie er Onkel Stefan, von dem er den Fiat gekauft hatte, beschimpfte, weil der Motor nicht anspringen wollte; das Auto rollte hundert und mehr Meter weit das ziemlich geneigte Straßenstück lautlos hinunter und ließ meistens erst kurz vor dem Einbiegen in den Dorfplatz endlich die ersten Motorgeräusche hören.

Trotzdem: Wenn der Vater zu Hause war, sei jeder Tag zu einem Festtag geworden. Wenn Papà am Donnerstagabend von der Stadt kam, habe er immer unglaublich stark nach Fisch gerochen, jedes Mal mehrere Kilo toter Meerestiere mitgebracht und sei sehr stolz auf seine Auswahl gewesen. Er habe der Mutter bis in alle Kleinigkeiten erklärt, wie sie die verschiedenen Fische zubereiten musste, habe sich natürlich als Fischkenner gebärdet, er, der am Meer aufgewachsen war, während Mutter für ihn eine Gebirglerin gewesen sei, die sehr gut Knödel kochte. Wenn Vater zu Hause war, habe er sozusagen das ganze Haus ausgefüllt, alles habe sich nach ihm ausgerichtet. Ich weiß nicht, aber das Haus war tatsächlich immer voll, wenn er da war, am Freitag trafen seine Gäste ein, um Fisch zu essen, manchmal oder meistens waren wir eine zwanzigköpfige Tischgesellschaft, erinnerte sich Mara. Der Sohn des Bauern, der die Wiese rund um das Ferienhaus mähte, erzählte ihm, Jul, später einmal, das „walsche Herumkommandieren“ des Advokaten mit seiner Frau sei oft bis in die Nachbarhäuser hinein zu hören gewesen, ebenso das Gejohle seiner Gäste.

Alles drehte sich um Vater, wenn er da war, sagte Mara. Meine Mutter schickte uns Kinder um Pfifferlinge und Pilze in den Wald, weil sie Papà so schmeckten, schon am Mittwoch, also am Tag vor seiner Ankunft, gingen wir um Erdbeeren in den Wald (perché piacciono a papà), weil Papà sie so gern hat, ermunterte uns Mutter. Wir aßen immer sehr gut, wenn Vater zu Hause war. Aber selber ging er nie in den nahen Wald, er, der Meeresmensch. Er las lieber zu Hause den „Corriere della sera“; die einzige Wegstrecke zu Fuß ging er am Sonntagvormittag – die hundert Meter zur Kirche. Aber nie ein Spaziergang in den Wald, der für mich, sagte Mara, eigentlich genauso geheimnisvoll ist wie das Meer.

Ein einziges Mal habe der Vater sie in den Wald begleitet, und ich war, sagte Mara, sehr stolz darauf: Da zeigte er mir die Grenzsteine eines Waldstückes, das unserer Familie gehörte. Es sei ein komisches Gefühl gewesen. Ich bewegte mich zwischen den Fichten, als ob ich sie zählen sollte, und schaute sie dementsprechend ganz anders an; das Waldstück war sehr licht, es war durchsonnt, und die Schwarzbeeren schmeckten wie in anderen Teilen des Waldes. Später habe sich der Vater immer wieder einmal bei ihr nach diesem Waldstück erkundigt, habe sie, wenn es Pfifferlinge zu Tisch gab, gefragt, ob sie diese „Fifferlinghe“ in dem von ihm gezeigten Wald gefunden habe; ein andermal: ob noch alle Fichten dort vorhanden wären, und: ob neue Bäume nachgewachsen seien. Ich, lachte Mara, fühlte mich auf einmal für diesen Wald zuständig. Dabei wüsste ich heute nicht mehr, ob ich dieses Waldstück noch finden könnte, heute bräuchte ich dazu wohl einen Grundbuchauszug oder einen Forstbeamten.

 

Mit ihm, Jul, war Mara oft und immer wieder durch die Wälder der Umgebung gewandert. Für ihn bedeuteten diese Wälder hier, aber auch die Wiesen und die von Flechten grauen Holzzäune, ein Zurückfinden in Winkel abhandengekommener Vertrautheiten. Es war das letzte Mal, dass er sich fast vollkommen in unscheinbar kleine Momente seiner Kindheit zurückversetzen konnte, er erlebte sie hier noch einmal, wenn er vor der verwitterten Lattenwand einer abgelegenen Heuschupfe stand und in die Brennnesseln schaute, die unter dem Holunderstrauch wucherten, sogar die Sandmulden in den Wegbiegungen waren ihm wie Schlafbilder vertraut. Und die endlosen Kukuruzäcker, die sich vor Maras elterlichem Ferienhaus im Sommer ausdehnten. Im Frühherbst lief er mit Mara auf schmalen Feldwegen durch dieses Maiskolbenmeer, die Schaftspitzen über den Köpfen.