Die Mystik im Christentum und in den nichtchristlichen Religionen

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Genau das ist es. In der mystischen Erfahrung wird die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zwischen zeitlich und ewig überwunden, gewissermaßen muss man sagen, gewissermaßen deshalb, weil der Mystiker in Wirklichkeit selbstverständlich in dieser zeitlichen, in dieser immanenten Welt verbleibt. – Die mystische Erfahrung ist nach Augustinus († 430) eine »iucunda admiratio perspicuae veritatis«, »eine freudvolle Bewunderung der durchsichtigen Wahrheit«, nach Thomas von Aquin († 1274) eine »experientia divinae dulcedinis«, eine »Erfahrung der göttlichen Süßigkeit oder Lieblichkeit« oder auch eine »cognitio affectiva sive experimentalis« ein »affektives oder erfahrungsmäßiges Erkennen«. Der Affekt ist das, was zum Strebevermögen des Menschen gehört. Nach Papst Benedikt dem XIV. (Prosper Lambertini) († 1758) ist das mystische Erleben ein »intellectualis intuitus«, der mit einer »sapida dilectio revelatorum« verbunden ist, also ein »intuitives Erkennen«, das mit einer »die geoffenbarten Realitäten verkostenden Liebe« verbunden ist. So beschreibt der Papst das mystische Erleben in seinem bedeutsamen Werk über die Heiligsprechungen und die Seligsprechungen der Kirche173. Offenkundig denkt er hier an die übernatürliche Mystik.

Thomas von Aquin bezeichnet die »experientia divinae dulcedinis«, die »Erfahrung der göttlichen Süßigkeit oder Lieblichkeit«, auch als eine »cognitio affectiva sive experimentalis«, als ein »affektives oder erfahrungsmäßiges (oder experimentelles) Erkennen«. Er erklärt, von mystischer Erfahrung könne die Rede sein, »dum quis experitur in seipso gustum divinae dulcedinis, »wenn jemand den Geschmack der göttlichen Süße in sich verkostet oder erfährt«174. Die klassische Definition der Mystik lautet: »Scientia (oder cognitio) Dei experimentalis, erfahrungsmäßiges oder experimentelles Wissen von Gott« oder »erfahrungsmäßiges oder experimentelles Erkennen Gottes oder der göttlichen Dinge«. Aus der »cognitio« erwächst hier die »scientia«, aus dem Erkennen folgt das Wissen.

Dass so etwas möglich ist wie die Erkenntnis Gottes auf dem Weg der Erfahrung im Innern der Seele, dass das nicht eine leere Behauptung ist, dass nicht alles mystische Erleben Selbsttäuschung ist oder Betrug, dafür spricht zumindest das einhellige Zeugnis nicht weniger geistig hoch stehender Denker in allen Jahrhunderten175.

Robert Charles Zaehner († 1974), der eine Reihe neuerer Arbeiten über die Mystik in den Religionen verfasst hat, definiert die mystische Erfahrung als ein »in seiner mentalen und inhaltlichen Struktur ... je nach religiöser Glaubensform differentes seelisches Geschehen, das sich typologisch in drei verschiedene Grundformen zerlegen lässt«176, nämlich in Naturmystik, in monistische Mystik und in theistische Mystik177. Statt von theistischer Mystik sprechen wir auch von Gottesmystik und statt von monistischer Mystik von Selbstmystik.

Auf zwei Werke des genannten Autors sei hier verwiesen, auf das Werk: »Mystik, religiös und profan« – der Untertitel lautet hier »Eine Untersuchung über verschiedene Arten von außernatürlicher Erfahrung« –178, und an das Werk »Mystik, Harmonie und Dissonanz: Die östlichen und westlichen Religionen«179.

d) Drei Grundformen

Die drei Grundformen der Mystik, Naturmystik, monistische Mystik oder Selbstmystik und theistische Mystik oder Gottesmystik, haben sich weithin durchgesetzt. Als deutlichstes Paradigma für die Selbstmystik verweist man auf den Griechen Plotin († 269 n.Chr.), der als Neuplatoniker großen Einfluss auf die Kirchenväter ausgeübt hat, wie bereits festgestellt wurde180. In der christlichen Version wird die neuplatonische Selbstmystik dann allerdings zur Gottesmystik. Dabei wird sie dann angereichert um den Gedanken, dass Gott uns innerlicher ist als wir selbst. Plotin lebte von 203–269 nach Christus. Seine Schriften haben im christlichen Abendland einen großen Nachhall gefunden. Seine Mystik ist der »steilste Gipfel der Selbstmystik«. Viermal soll er in seiner Person »die Einung als Ziel des dialektischen Weges erreicht haben«181. Er lehrt: Das Ich muss sich von den Sinnendingen lösen, um zu dem Uranfang im eigenen Selbst hinaufzusteigen. Er erklärt: »Man muss sich von allem, was außen ist, zurückziehen und sich völlig in das Innere wenden«182. Die Grundidee seiner Lehre ist die: Die Seele richtet sich allein auf die Schau des Einen und wird dadurch mit ihm eins. Dann ist die Seele von dem Gegenstand ihres Denkens nicht mehr unterschieden. In dieser Einung ist das Selbst identisch geworden mit dem Sein, sind das Geschaute und der Schauende eins geworden.

Bei Plotin wird die mystische Erfahrung zur Erfahrung der Einheit mit dem letzten Seinsgrund, der Mensch wird darin eins mit dem Sein, das dann allerdings nicht persönlich gedacht wird. Plotin beschreibt damit eine Erfahrung, wie sie uns ähnlich im japanischen Zen-Buddhismus begegnet. Wir haben sie aber auch in der hesychastischen Tradition183 der Mönche vom Berge Athos. Gerade in ihr findet die neuplatonisch-monistische Mystik Plotins eine gewisse Fortsetzung. Sofern sie christliche Mystik ist, wird in ihr jedoch die plotinische Vorstellung von der Einheit mit dem letzten Seinsgrund korrigiert, und zwar im Sinne des augustinischen Gedankens: Gott ist mir innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes. Das heißt: In der christlichen Mystik wird die Selbstmystik dezidiert zur Gottesmystik. Das ist nichts Außergewöhnliches. Denn auch sonst verbindet sich die Selbstmystik nicht selten mit der Gottesmystik wie auch mit der Naturmystik, und oftmals ist auch die Naturmystik nicht scharf von der Gottesmystik geschieden, weshalb man bei der Unterscheidung der drei Formen der Mystik im Grunde durchweg jeweils nur besondere Akzente feststellen kann, monistische, kosmische und theologische.

Ob es sich dann um echte Mystik handelt, das muss dann im Einzelfall erwiesen werden. Gerade das aber ist sehr schwer wegen des Erfahrungsmäßigen, das wesentlich ist für die Mystik. Das bedingt auch die Zurückhaltung der Kirche bzw. des kirchlichen Lehramtes oder genauer des Hirtenamtes der Kirche gegenüber derartigen Phänomenen184.

Das, was die Mystik als Darstellung und Lehre von der Dogmatik unterscheidet, das ist eben dieses Moment des Erfahrungsmäßigen, weshalb man die Mystik auch als gelebte Dogmatik bezeichnen kann, wie man es immer wieder getan hat.

Bei Plotin wird die mystische Erfahrung zur Erfahrung der Einheit mit dem letzten Seinsgrund, der Mensch wird darin eins mit dem Sein. Prinzipiell muss man das als echte Mystik verstehen. Unter diesem Aspekt kann man die Mystik zweifellos als religions- oder auch als konfessionsverbindend verstehen.

Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber († 1965) nennt die plotinische Vorstellung kritisch den »gigantischen Wahn des in sich zurückgebogenen menschlichen Geistes« und fordert die Einheit des Menschen mit dem, was er nicht ist, eine Einheit, in der das »Noch-Größere« aufscheint. Er setzt damit an die Stelle der Selbstmystik bewusst die Gottesmystik. – In ähnlicher Weise betont auch Augustinus mit Nachdruck, dass das Ziel allen menschlichen Strebens die von Liebe bestimmte Einheit des Selbst mit Gott sein müsse185. Dabei weiß er aber, dass Gott im Innersten des Menschen gefunden werden kann.

Neben der Selbstmystik begegnet uns die Naturmystik oder die kosmische Mystik als zweite Erfahrungsform des Mystischen, die sich allerdings nicht immer von der Mystik des Selbst adäquat trennen lässt. Oft verbindet sich zudem die Selbstmystik dezidiert mit der Naturmystik. In der Naturmystik kommt es – so kann man diese Form der Mystik am besten definieren – an auf die Verschmelzung des Ich mit der Natur oder mit dem Kosmos und mit dem All186.

Als instruktives Beispiel für kosmische Mystik kann man hier vor allem die Mystik des Jesuiten Teilhard de Chardin († 1955) anführen, wobei man diese Mystik als nicht mehr christlich verstehen muss. Das ist allerdings eine Position, die nicht allgemein anerkannt ist. Teilhard de Chardin hat gerade auch im Hinblick auf seine Mystik noch heute nicht wenige Freunde. Die Mystik eines Teilhard de Chardin ist zunächst kosmische Mystik, zumindest ihrem Anspruch nach. Teilhard wollte ein Mystiker sein. Mehr noch: Teilhard verstand seine ganze Theologie als Mystik, was oft nicht bedacht wird von denen, die sich mit seinem Schrifttum beschäftigen. Das grundlegende Verständnis der Theologie als Mystik macht erst die Theologie Teilhards verständlich, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Teilhard erklärt im Banne dieses Grundverständnisses: »Meine Stärke, meine einzige Stärke liegt darin, ›Mystiker‹ zu sein, das heißt, nur aus einer einzigen Idee zu leben«187 . Dabei war er fasziniert von der materiellen Natur und wollte in ihr mit Hilfe der Idee von der Evolution das Absolute finden, dessen Transzendenz und Personalität er zumindest nicht verbaliter oder bewusst leugnen wollte. Ganz im Gegenteil. Er gesteht: »Ich habe nie, in keinem Augenblick meines Lebens, die geringste Schwierigkeit gespürt, mich an Gott als einen höchsten Jemand zu wenden«188. Gerade mit seiner Idee von der Höherentwicklung des Materiellen zur Bewusstheit und dann zur Liebe wollte er seine kosmische Mystik christlich akzentuieren und personalisieren. In Jesus Christus und seiner Liebe werden für ihn die kosmische und die göttliche Absolutheit eins.

Teilhard de Chardin wollte die Naturmystik in das Christentum einbringen, ganz bewusst. In diesem Bemühen verband er seine Naturmystik mit der Idee des kosmischen Christus als des Zielpunktes der Evolution. In ihm, in dem kosmischen Christus, erkannte er die Entfaltung des Materiellen zur höchsten Bewusstheit und Liebe. Damit personalisierte er seine Naturmystik und gestaltete sie um zur Gottesmystik. Auf diese Weise hoffte er, die Naturmystik in das Christentum einbringen zu können. Es bleibt dabei jedoch bei einer Mystik des Materiellen. Zudem ist hier festzuhalten, dass die Idee des kosmischen Christus in diesem System leicht verschwimmt und in die Richtung des Pantheismus geht. Es ist bezeichnend, dass im Mystizismus des New Age Teilhard de Chardin geradezu zu einer Art Kultfigur erhoben wurde.

 

Karl Rahner († 1984) folgt seinem Ordensbruder in dieser seiner »Mystik des Materiellen«, so fragwürdig diese Mystik auch ist, was Rahner wohl nicht registriert oder auch nicht registrieren will. So schreibt er: »Im Tode gibt die Seele ihre abgegrenzte Leibgestalt auf und öffnet sich dem All«. »Durch ihren realontologisch und offen werdenden Bezug auf die Welt als Ganzes« wird das, was früher abgegrenzter Leib war, »im Tod allkosmisch«. Er meint, auch Jesus sei mit seinem Tod als göttliches Prinzip in das Weltganze eingegangen und habe diesem eine gottmenschliche personale Mitte gegeben189. Hier wird auch die, vorsichtig ausgedrückt, Tendenz Teilhards de Chardins und mit ihm die Tendenz seines Ordensbruders Karl Rahner zum Pantheismus deutlich, die freilich generell dem kritischen Betrachter der so genannten modernen Theologie immer wieder zum Bewusstsein kommt. Zumindest ist hier, in der modernen Theologie, die Versuchung zu einer pantheistischen Gottesvorstellung nicht zu leugnen. Die pantheistische Gottesvorstellung entspricht in gewisser Weise eher der Erwartung der Menschen, speziell in der Moderne, sie ist intellektuell und ethisch unverbindlicher und zugleich anspruchsloser als die Vorstellung von dem dreifaltigen Gott.

Eine dritte Grundform der Mystik ist neben der Mystik des Selbst und der kosmischen Mystik die Gottesmystik. Sie ist die klassische Form der christlichen Mystik, zumindest hat sie dem Christentum stets als Ideal vorgeschwebt. Die Gottesmystik ist weniger auf Einheit mit dem Sein ausgerichtet, sie besteht vor allem in der Begegnung, in der Liebe, in der Ekstase und im affektiven Hingerissensein des Mystikers190.

Es ist hier zu beachten, dass sich nicht nur die Selbstmystik häufiger mit der Naturmystik verbindet, dass auch die Gottesmystik des Öfteren nicht scharf von der Naturmystik geschieden ist. Deshalb kann die Gottesmystik immer auch leicht zur Naturmystik und auch zur Selbstmystik abgleiten. Eine scharfe Trennung dieser drei Formen der Mystik, Selbstmystik, Naturmystik, Gottesmystik, ist ohnehin schwierig. Im Allgemeinen kann man hier nur jeweils besondere Akzente feststellen, monistische, kosmische und theologische191.

e) Zwei Grundhaltungen

Neben diesen drei Grundformen der Mystik unterscheidet man zwei Grundhaltungen in der Mystik, zwei Grundhaltungen, die auch wiederum in inniger Beziehung zueinander stehen, nicht anders als die drei Grundformen, und die sich oft miteinander verbinden oder vermischen. Da ist zum einen die Negation des Weltseins, dem man sich zu entwinden sucht, soweit das möglich ist, zum anderen der Anschluss an ein positives Gut, die Hinwendung zu einem positiven Gut, in dem man die letztmögliche Seinserfüllung, die letzte Sinnerfüllung des Menschseins finden will. Für die eine Position stehen, gleichsam stellvertretend für viele, Buddha und der Buddhismus, für die andere der Apostel Paulus und seine spezifische Theologie.

Das heißt: In diesen beiden Grundhaltungen prägen sich die fernöstliche und die christliche Mystik in ihrer jeweiligen Eigenart aus, wobei man sich darüber im Klaren sein muss, dass die reinen Formen immer wieder vermischt worden sind. So blieb die fernöstliche Mystik nicht frei von dem Auslangen nach einer seienden und positiven Gottheit, blieb andererseits die christliche Mystik nicht frei von der äußersten Verneinung der Welt, ja auch von der Verneinung alles dessen, was über Gott gesagt wird und sich sagen lässt. Also auch in der christlichen Mystik gibt es die »Fühlung mit dem Nichts auf der Suche nach dem Alles«192, sogar auch legitim, etwa in der von der negativen Theologie inspirierten Mystik des Pseudo-Dionysius Areopagita im frühen 6. Jahrhundert.

f) Bezug zur »visio beatifica«

In der christlichen Mystik – aber teilweise auch in der Mystik der anderen Religionen – wird die Gotteinung als der höchste Grad der Gottverbundenheit auf Erden verstanden und erfahren, als Vorgeschmack (»praegustatio«) der Ewigkeit, als Vorwegnahme (»praelibatio«) des ewigen Lebens.

Prinzipiell wertete die katholische Kirche die Hinführung zur Mystik und zur Gotteinung in der Mystik daher zu allen Zeiten als den Höhepunkt ihrer göttlichen Sendung und ihres gottgegebenen Wirkens auf Erden. So ist es konsequent, wenn es »kaum einen Heiligen« gibt in der Geschichte der Kirche, »der nicht irgendwie Mystiker war«193.

Mit dem lässt es sich gut vereinbaren, dass die Kirche in konkreten Fällen hinsichtlich der Feststellung der Echtheit von mystischen Erfahrungen stets sehr zurückhaltend war. Diese Zurückhaltung ist geradezu charakteristisch für den Umgang der Kirche mit der Mystik, und sie verpflichtet auch die Gläubigen.

g) Erworbene und eingegossene Beschauung

Vielfach unterscheidet man die erworbene von der eingegossenen Beschauung, das erworbene mystische Erleben von dem eingegossenen. Dabei geht man davon aus, dass die erworbene Beschauung durch die folgerichtige Übung der Askese und des inneren Gebetes erreicht werden kann, wenngleich das mystische Kernerlebnis auch hier Geschenk ist, dass die eingegossene Beschauung hingegen als Wirkung der Gaben des Heiligen Geistes verstanden werden muss, die der Mystiker aus eigener Kraft nicht erwerben kann. Das eingegossene mystische Erleben hat demgemäß ein höheres Niveau als das erworbene. Dabei gilt, dass die erworbene Beschauung den Menschen jedoch in einen Zustand zu bringen vermag, in dem Gott für gewöhnlich die eingegossene Beschauung verleiht. In diesem Sinne kann die eingegossene Beschauung »de congruo« verdient werden. Das bedeutet, dass letzten Endes auch die eingegossene Beschauung erstrebt und erbetet werden kann und auch darf194.

Sofern es um den Inhalt der mystischen Erfahrung geht, ist die Mystik ein theologisches Problem, sofern es um das Erlebnis als solches geht, ist sie ein psychologisches Problem.

Theologisch gesehen vollzieht sich in dem mystischen Erleben ein Einwirken Gottes auf die Seele, wobei die Seele sich dieser Einwirkung bewusst wird und dadurch zu außerordentlicher Gottesliebe beflügelt wird. Psychologisch bedeutet das mystische Erlebnis eine »Entwerdung« des Menschen von allem Sinnlichen, Sinnenhaften und Geschaffenen, die der Mystiker bereits auf dem Weg zur mystischen Einung anstrebt, aber so nicht aus eigener Kraft erreichen kann. Damit verbindet sich das Bewusstsein der Einswerdung mit Gott, das Bewusstsein einer besonderen Nähe zu Gott.

h) Mystik im katholischen Sinn

Nicht zu Unrecht hat man das mystische Erleben zwischen der »visio beatifica«, wie sie in der Endvollendung erhofft wird, und der gewöhnlichen, schlussfolgernden Geistestätigkeit der Seele angesiedelt. Dabei ist das mystische Erleben stets vom Glauben bestimmt. Es ist Beschauung auf der Grundlage des Glaubens und damit qualitativ unterschieden von der »visio beatifica«, wie sie in der Endvollendung erhofft wird, wenngleich in ihm in gewisser Weise der Endzustand erlebnismäßig vorweggenommen wird, erlebnismäßig, nicht wirklich. Der Mystiker verlässt nicht den »status viae«, also den Pilgerstand oder die Glaubensexistenz. Die mystische Beschauung hat den Glauben zur Grundlage. Das ist zumindest die »sententia communis« in der Theologie und in der Kirche195. Das mystische Erleben ist demnach im katholischen Verständnis das erfahrungsmäßige Innewerden des göttlichen Gnadenlebens im Menschen, die Erfahrung der heiligmachenden Gnade, des göttlichen Lebens im Menschen196.

i) Mystik und transzendentale Erfahrung (Karl Rahner)

Diese Definition des mystischen Erlebens hat den Jesuitentheologen Karl Rahner veranlasst, die transzendentale Erfahrung als den mystischen Kern des Menschen anzusehen, die Mystik in das Grunderlebnis der Verwiesenheit des Menschen auf Gott zu verlegen, das seiner Meinung nach konstitutiv ist für den Menschen, das er zwar verdrängen, aber nicht zerstören kann, das seinen Gipfel erreicht in der eingegossenen Beschauung197. Er nennt die transzendentale Erfahrung – das ist der Grundansatz seiner Theologie – den mystischen Kern des Menschen und versteht sie als den Ort der generellen Begnadigung der Menschheit.

Nach Rahner hat also jeder Mensch in der Tiefe seines Bewusstseins, in der Tiefe seiner »Erfahrung«, einen mystischen Kern. Diesen mystischen Kern nennt er die »transzendentale Erfahrung«. Von daher gesehen gehört nach Rahner die Mystik in irgendeiner Weise zu jedem Menschen dazu, wenngleich sie nur dort aktuell wird, »wo der Mensch sich selbst in seiner Endlichkeit annimmt«, wo der Mensch »sich in der Tiefe, vor dem Absoluten, akzeptiert«198, oder wo »der Mensch sich unentrinnbar als begründet im Abgrund des Geheimnisses erfährt und dieses Geheimnis in der Tiefe seines Gewissens und in der Korrektheit seiner Geschichte ... als erfüllende Nähe ... erfährt«, wie Rahner es ausdrückt199.

j) Veranschaulichung der Mystik an der Gestalt des Hiob

Was die Mystik, das mystische Erleben, eigentlich meint, kann man sehr schön veranschaulichen an der alttestamentlichen Gestalt des Hiob. Der bedeutende englische Fundamentaltheologe und Religionsphilosoph, der Konvertit John Henry Newman († 1890), kurz auch Kardinal Newman genannt, macht darauf aufmerksam in seinem Buch über die »Philosophie des Glaubens«200: Hiob bekennt, so Newman, dass er eine wahre Erfassung der göttlichen Attribute bereits vor seinen Trübsalen gehabt hat, dass aber mit der Heimsuchung ein großer Wandel in der Weise der Erfassung dieser Wirklichkeit bei ihm eingetreten ist. Wörtlich sagt Hiob: »Ich hatte von dir mit den Ohren gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum widerrufe und bereue ich in Staub und Asche« (Hiob 42, 5). Das eine ist das Wissen mit dem Intellekt, das andere ist das Wissen mit dem Herzen. So stellt Newman fest.

k) Große und kleine Mystik

Wenn Mystik Begegnung mit Gott ist, stellt sie ein inneres Moment jedes lebendigen Gottesglaubens dar. Begegnung mit Gott kann sich aber mehr oder weniger tief verwirklichen. Von daher gesehen hat man unterscheiden wollen zwischen großer und kleiner Mystik. Die kleine Mystik ist dann die Spiritualität, die große die Mystik. Es ist ein Faktum, dass die Begegnung mit Gott sich mehr oder weniger tief verwirklichen kann. Darum aber geht es hier201.

Die umfassende Klammer aller Formen mystischer Erfahrung ist die Begegnung, immer geht es darum in der Mystik, ganz gleich, ob die Mystik intellektuell oder willentlich, abstrakt-geistig oder konkret-körperlich ist, ob sie bildlos ist oder geschaut und gehört wird, ob sie ekstatisch ist oder alltäglich, ob sie mit außerordentlichen äußeren Phänomenen verbunden oder rein innerlich ist. Dabei ist Begegnung immer sowohl Geschenk als auch Verwirklichung der eigenen Freiheit. Denn »Liebende erfahren ihre Liebe ebenso als Gabe wie als Tat aus der eigenen freien Mitte«202.

l) Dominanz der Liebe

Bedeutet die mystische Erfahrung auch wesentlich Erkenntnis – die Dominanz des Erkenntnismomentes unterscheidet die christliche Mystik grundlegend von der Mystik der antiken Mysterienreligionen –, so muss sie doch primär von der Liebe her verstanden werden. Nur so wird man den Zeugnissen in der Geschichte der christlichen Mystik gerecht. Diese Liebe bedeutet personale Begegnung im Sinne des Kontaktes mit dem innersten Zentrum einer Person, womit selbstverständlich immer auch Erkenntnis verbunden ist und zugleich die rationale Prüfung herausgefordert ist. Liebe und Erkenntnis gehören im Grunde stets zusammen, einerseits setzt die Liebe das Erkennen voraus, und andererseits führt die Liebe immer zu tieferer Erkenntnis. Lieben heißt bejahen. Bejahen kann ich aber immer nur etwas oder eine Person, dessen oder deren Wert ich erkannt habe.

m) Intuition und Affekt

Immer ist die Mystik, ist das mystische Erlebnis, intuitiv. Denn in der Mystik trachtet der Mensch danach, das Ganze zu suchen, von dem her er »die Aufhellung und Entwirrung des Da- und Hierseins«203 erwartet. In der Mystik begibt sich der Mensch also in eine Dimension, die keiner Erfahrung gegeben ist, die nur im Vorgriff des Glaubens, in der Übernahme der hell-dunklen Offenbarung von drüben – unter Umständen auch einer vermeintlichen Offenbarung – zu gewahren ist204. Mystik ist somit Erfahrung des Nicht-Erfahrbaren.

In der Mystik geht es immer auch um Glauben, der Glaube ist der Hintergrund der mystischen Erlebnisse, wie immer man ihn auch im Einzelnen versteht. In der Mystik wird der Glaube jedoch weniger im Intellekt gelebt als im Affekt. Der ethische Appell des Glaubens gilt in beiden Fällen, der Glaubensakt ist immer ein ethischer Akt, aber im einen Fall stützt er sich mehr auf den Intellekt, im anderen Fall mehr auf den Affekt. Immer muss der Glaube jedoch auf den Willen hin fruchtbar werden, also ethische Gestalt annehmen, ob er im Affekt oder im Intellekt seinen Ort hat, immer muss er im ethischen Handeln des Menschen Gestalt annehmen.

 

Es hat einen guten Sinn, mit der »philosophia perennis« drei Seelenkräfte in der menschlichen Person zu unterscheiden, die innerlich zusammenhängen, nämlich den Intellekt, den Affekt und den Willen. Sie gehören zusammen, diese drei, treten aber jeweils in ihrer eigenen Akzentuierung als Ausdruck des Geistes hervor.

Ein ganz wesentliches Moment der Mystik, der mystischen Erfahrung, ist das Ergriffensein des Mystikers. Solches Ergriffensein sucht man heute vielfach vergeblich in der so genannten wissenschaftlichen Theologie, die bei näherem Hinsehen allerdings oft gar nicht so wissenschaftlich ist, wie sie sich vorstellt. Über das Fehlen des mystischen Elementes in der wissenschaftlichen Theologie mokiert sich unter anderem kein Geringerer als Eugen Drewermann205, in diesem Fall freilich zu Recht.

Wiederholt hat man in der Gegenwart kritisch festgestellt, dass der persönliche Glaube des theologischen Lehrers oder des theologischen Autors häufig durch trockene Wissenschaftlichkeit unkenntlich gemacht oder paralysiert wird, bewusst oder unbewusst. Die innere Glut, die durchaus mit der wissenschaftlichen theologischen Aussage vereinbar ist – ja, die theologische Aussage setzt sie im Grunde gewissermaßen voraus –, ist ganz selbstverständlich bei den großen Theologen der Vergangenheit, mehr oder weniger. Auch bei den Theologen der Scholastik spürt man sie trotz ihrer starken Abstraktion. Das dürfte gemeint sein, wenn sich Theologiestudenten – wie man es des Öfteren hören kann – über die nicht erkennbare Glaubensentscheidung und Glaubenspraxis ihrer theologischen Lehrer beklagen. Je mehr eine Wissenschaft existentielle Fragen zum Inhalt hat, je mehr es in ihr um das geht, »was uns, was mich letztlich unbedingt angeht«, um Paul Tillich († 1965) zu zitieren, umso mehr muss die Persönlichkeit des Forschers in seine Argumentation eintreten und umso mehr muss darin auch seine persönliche Betroffenheit erkennbar werden206.

Das mystische Erleben enthält Augenblicke ungewöhnlicher Freude, ist dabei jedoch auch zuweilen von verwirrenden und beunruhigenden Vorgängen oder Erfahrungen durchsetzt. Unter diesem Aspekt ist es ambivalent. Immer wieder verbinden sich im mystischen Erleben mit der Freude Schmerz, Unruhe und Ungeborgenheit, also extrem negative Erfahrungen.

Unverkennbar sind dabei zuweilen – in der echten Mystik – Verhaltensweisen oder Vorgänge, die an Symptome gewisser Neurosen oder geistiger Störungen erinnern207. Das bezeugt uns etwa das mystische Leben des heiligen Jean-Marie Vianney († 1859), der als der Pfarrer von Ars in die Geschichte eingegangen ist.

n) Freude und Schmerz

Wenn die Mystik, das mystische Erleben, in der Regel von der Freude bestimmt ist, teilweise von ungewöhnlicher Freude, so gilt das nicht ausschließlich. Es gibt in der Mystik auch schmerzliche Erfahrungen. Zuweilen begegnen sich in ihr Freude und Schmerz, Unruhe und Ungeborgenheit und das in ungewöhnlicher Extensität und Intensität. So kommt es vor, dass extrem verwirrende und beunruhigende Erscheinungen den Mystiker geradezu quälen.

Zum mystischen Erleben gehört die Erfahrung der »dunklen Nacht«, die in spezifischer Weise Johannes vom Kreuz († 1591) thematisiert hat208. Da wird dann die mystische Erfahrung zur Nicht-Erfahrung, wird das mystische Erkennen gleichsam zum Nichterkennen oder zum Erkennen des Nicht-Erkennbaren. Unter diesem Aspekt spricht man in der Mystik gern von der »docta ignorantia«209.

Die Welt der Mystik ist kompliziert, manche sagen, sie sei paradox. Diese Paradoxie kann indessen nur eine scheinbare sein, nicht eine wirkliche, denn Paradoxes, Widersprüchliches, kann nicht existent sein. Hält man Paradoxes für möglich, verlässt man den Boden der Vernunft, was heute freilich nicht selten geschieht in der Theologie, die damit dann allerdings gleichsam den Ast absägt, auf dem sie sitzt.

o) Actio und passio

Es ist im mystischen Leben allerdings so, dass die freudige Stimmung des Gemütes oder das Glück der Beschauung immer den mühsamen Aufschwung des Willens zur Voraussetzung hat. Das ist hier nicht anders als auch sonst im menschlichen Leben: Der Genuss des inneren Glücks setzt immer den Ernst der sittlichen Tat voraus. Der Passivität der Beschauung, also der Aktivität Gottes, geht die Aktivität des Menschen voraus, muss die Aktivität des Menschen vorausgehen. Das will sagen, dass die Askese ein wesentliches Moment ist für den Weg der Mystik, das gilt normalerweise. Die Passivität des Menschen im Hinblick auf die Gnade Gottes hat stets die äußerste Aktivität des Menschen im Hinblick auf seine Offenheit für Gott zur Voraussetzung210. Die Aktivität des Menschen muss dem mystischen Erleben aber nicht nur vorausgehen, sie muss ihm auch folgen.

Wird die Passivität im Hinblick auf das mystische Leben, als vorausgehende oder nachfolgende, zu sehr betont, so gerät man in die Gefahr, die Mystik in den außerordentlichen Begleitphänomenen zu lokalisieren, die ja eigentlich Randphänomene sind. Vor allem gerät man so in die Gefahr des Quietismus. Der Quietismus ist eine Versuchung, die den mystischen Weg immer begleitet. Verfällt die Mystik dieser Versuchung, desavouiert sie sich in jedem Fall vor dem kritischen Intellekt. Darauf wird sehr geschaut bei der professionellen Prüfung der Echtheit mystischer Vorgänge.

Die Passivität ist die eigentliche Gefahr der Mystik, also ihre Unfruchtbarkeit im Hinblick auf die »vita activa«, ihre Bedeutungslosigkeit im Hinblick auf das moralische Leben. Daher sind jene Definitionen der Mystik falsch oder zumindest missverständlich, die allzu sehr das Merkmal der Passivität an ihr hervorheben. Das geschieht u. a. auch bei Auguste Poulain. Davon war die Rede im Zusammenhang mit dem 1901 erschienenen Werk »Des grâces d’oraison«211.

Die Passivität hat eine wesentliche Funktion im mystischen Erleben, sie hat in ihm einen legitimen Platz, das ist nicht zu bestreiten, aber die Versuchung ist stets groß für den Mystiker, dass er ihr den ersten Platz einräumt und so dem Quietismus verfällt, womit er seine Mystik – gemäß dem kontinuierlichen Verständnis der katholischen Kirche – eindeutig als falsche Mystik, als Pseudomystik, ausweist212.

Faktisch ist der Quietismus eine Fehlform der Mystik, die sehr verbreitet ist. Immer wieder geht sie hervor aus einer überstarken Hervorhebung der Passivität des Subjektes im religiösen und im religiös-sittlichen Leben. In letzter Konsequenz führt er zu einer Art von psychologischer Annihilation des Subjektes213.

Demgegenüber ist festzuhalten, dass sich im mystischen Erlebnis Aktivität und Passivität vereinigen müssen, Leistung und Empfang zu einer Einheit zusammenwachsen müssen. Dabei besteht die Aktivität des Menschen zum einen in der Vorbereitung auf die Beschauung und in dem »liebevollen Aufmerken auf Gott« und zum anderen in der ethischen Fruchtbarkeit der mystischen Erfahrung214. Die legitime Passivität besteht dann im mystischen Erleben der Beschauung als solcher.