Requiem für ein Kind

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»So machen es edle Frauen, die ihre Kinder lieben«

Plutarch lobt seine Frau, dass sie weder Trauerkleidung angezogen, noch sich und den Mägden »Selbstquälung« gestattet hat. Die Bestattung hat sich in aller Stille, ohne »kostbaren und festlichen Prunk« abgespielt. Auch diese »maßvolle Einfachheit« passt zum Wesen seiner Frau, die auch nie bei einer freudigen Gelegenheit durch übertriebenes Vergnügen oder unsinniges Gelächter ihre Würde verloren hat. Sie hat stets alles Auffällige in Putz und Kleidung verschmäht. »Verwerflich« findet er »die unersättliche Neigung zum Jammern«, das Klageschreien, das Brüsteschlagen, das Abschneiden der Haare, die Vernachlässigung der Körperpflege. Timoxena war in diesen Punkten immer in Übereinstimmung mit ihrem Mann.

»Denn durch deine einfache Kleidung und unverzärtelte Lebensweise hast du bei allen Philosophen, die mit uns in Umgang und Bekanntschaft lebten, Bewunderung erregt, und alle unsere Mitbürger haben schon bei Festen, Opfern und Schauspielen dein bescheidenes Wesen beobachtet. Auch in ähnlichen Fällen hast du schon große Standhaftigkeit gezeigt, zuerst bei dem Verluste deines ältesten Kindes und dann wieder, als der gute Chäro uns verließ. Ich erinnere mich, wie ich damals, als ich die Nachricht vom Tode des Kindes erhielt, mit einigen Freunden auf dem Rückwege von einer Seereise war, welche dann, nebst anderen, mit mir nach meiner Wohnung gingen; wie sie nun hier alles in schönster Ordnung und Ruhe fanden, glaubten sie, es sei hier kein Unglück geschehen, sondern nur ein falsches Gerücht davon verbreitet worden. So verständig hattest du alles im Hause angeordnet, unter Umständen, wo selbst Unordnung ganz verzeihlich gewesen wäre. Und doch hattest du jenes Kind an deiner Brust gesäugt … So machen es edle Frauen, die ihre Kinder lieben.«

Plutarch dankt seiner Frau, dass er das »Schlimmste und Gefährlichste« nicht zu befürchten hat: »ich meine den Besuch und das Geschrei und Mitgeheul schlechter Weiber, welche die Trauer bloßlegen und noch steigern.« Dadurch bringen sie nur »noch Feuer zum Feuer«. »Wenn man das Haus eines Freundes brennen sieht, löscht jeder so schnell und so gut er kann, wenn aber Seelen im Feuer stehen, so tragen sie ihnen noch Brennstoff zu.«

Im nächsten Teil fordert der Philosoph seine Frau auf, sich in Gedanken »in jene Zeit vor der Geburt dieses Kindes zu versetzen.« Nach seinem Tode sind beide »wieder in gleiche Verhältnisse gekommen« und so dürfen sie nicht undankbar sein für die Lebensjahre des Kindes, »da sie uns den schönsten Genuss verschafften«. Er warnt davor, immer und überall mit dem Schicksal unzufrieden zu sein. »Denn es trägt immer gute und süße Früchte, wenn man von den Göttern nur Gutes redet und das Schicksal mit Gleichmut und Zufriedenheit erträgt …«

Zudem soll sie bedenken, dass sie noch von vielen Menschen wegen ihrer Kinder, ihres Hauses und ihrer Lebensart von andern Menschen beneidet wird. Es wäre falsch, nur über das Verlorene zu jammern und darüber zu versäumen, die Annehmlichkeiten, die sie besitzt, zu genießen.

Ein Ort, wo es keinen Schmerz mehr gibt

Timoxena war erst zwei Jahre alt, als der Tod sie hinwegraffte. Aus elterlicher Sicht war sie um die schönsten Lebensgüter betrogen worden, um Liebe, Ehe und Mutterschaft. Als Philosoph und Psychologe jedoch relativiert Plutarch diesen Verlust, indem er den Standpunkt des Kindes selbst einnimmt, das jetzt in einem schmerzlosen Zustand weilt und das nicht entbehrt, was es weder gekannt noch besessen hat.

»Bedauerst du aber unsere Tochter vielleicht darum, weil sie ehelos und kinderlos aus dem Leben ging, so kannst du dich andrerseits wieder darüber freuen, dass du jener beiden Vorzüge nicht hast entbehren dürfen. Denn es ist nicht so, als ob diese Güter für die, welche dieselben verlieren, großen Wert hätten, und nur geringen für die, welche sie besitzen. Unsere Tochter aber, welche sich an einem Ort befindet, wo es keinen Schmerz mehr gibt, braucht uns keine Sorge zu machen; denn wie sollte uns von ihr aus etwas Schlimmes zukommen, wenn sie selbst keinen Kummer mehr hat; verliert ja auch der Verlust großer Güter seinen Stachel, wenn man dahin kommt, wo man sie nicht mehr braucht. Deine Timoxena aber hat nur einen unbedeutenden Verlust erlitten, denn sie hat nur Unbedeutendes gekannt und an Unbedeutendem Freude gehabt; was aber ihrer Empfindung, ihren Gedanken und ihrem Willen ferne lag, wie sollte man sagen können, sie habe dies verloren?«

Der Kindertod – eine Gnade für die unsterbliche Seele

Im letzten Teil seines Trostschreibens beruft sich Plutarch auf ihren gemeinsamen Glauben an die Unsterblichkeit. Dieser Glaube wird von vielen Zeitgenossen nicht geteilt, die überzeugt sind, dass mit der »Auflösung des Körpers« alles definitiv zu Ende ist. Timoxena und er werden von diesem Unglauben bewahrt »durch die von den Vätern überlieferte Lehre und die mystischen Sinnbilder der orgiastischen Dionysoszeremonien – die uns beiden als Eingeweihten bekannt sind.« Dank dieser religiösen Zuversicht kann Plutarch so weit gehen, zu behaupten, dass der frühe Tod für die unsterbliche Seele einen unzweifelhaften Vorteil darstelle. Wer lange lebt, verwickelt sich in »irdische Leidenschaften und Zufälle«, das Leben »entfremdet die Seele der Erinnerung an die jenseitigen Dinge und fesselt sie an die diesseitigen Dinge. … Diejenige Seele dagegen, welche zwar auch an den Körper gefesselt, aber nur kurze Zeit mit ihm verbunden war, wird von den höheren Geistern befreit und gelangt gleichsam durch eine sanfte und geschmeidige Umbiegung wieder in ihren natürlichen Zustand zurück.«

Plutarch belegt die Richtigkeit seiner Überzeugung durch die überlieferten Gewohnheiten und Gesetze. Wenn Kinder sterben, bringt man ihnen keine Totenopfer dar, man unterlässt die meisten Handlungen, die beim Begräbnis eines Erwachsenen üblich sind. Die Kinder nämlich hatten »noch keine Gemeinschaft mit der Erde und den irdischen Dingen«, infolge ihrer Unschuld kehren sie sofort zu ihrem göttlichen Ursprung zurück. Trauer ist also nicht angebracht, wenigstens nicht für den Gläubigen:

»Denn die Gesetze gestatten nicht, Tote von solchem Alter zu betrauern, weil dies bei solchen, welche in einen besseren und göttlicheren Zustand und Ort übergehen, nicht recht wäre. Ich weiß freilich wohl, dass diese Sache viele Schwierigkeiten bietet; weil aber der Unglaube noch mehr Schwierigkeiten macht als der Glaube daran, so wollen wir das Äußerliche dabei, wie es die Gesetze vorschreiben, beobachten, das Innerliche aber noch viel mehr unbefleckt und rein und leidenschaftslos erhalten.«

Der Brief scheint nicht vollständig erhalten zu sein, dennoch ist er reich genug, um wichtige Aufschlüsse über die Haltung der antiken Gebildeten dem Kindertod gegenüber zu vermitteln. Er verrät, neben seiner tiefen Menschlichkeit, eine Erhabenheit der Gedankenführung, die das Klischee einer dekadenten heidnischen Welt Lüge zu strafen scheint. Als Priester des Apollo in Delphi glaubt Plutarch zweifellos an die Wahrheit der Orakel. Sie wird ihm bescheinigt durch die geistige und materielle Wiedergeburt des Apolloheiligtums. In seinem Dialog »Über die Orakel der Pythia« beschreibt er den rezenten Aufschwung Delphis, der beispiellos seit tausend Jahren sei, und schlussfolgert: »Es ist nicht möglich, dass eine so vollständige Veränderung in so kurzer Zeit allein durch Menschenhand sich ereignet hat, ohne die Gegenwart eines Gottes, der dem Orakel seine göttliche Autorität verleiht.«

Bezeichnend für diesen hochgebildeten und toleranten Philosophen ist auch, dass er Dionysos mit der ägyptischen Gottheit Osiris und mit dem Gott der Juden identifiziert und den gemeinsamen Jenseitsglauben unterstreicht. Infolge dieses erstaunlichen Gedankengutes, das sich hauptsächlich aus dem Platonismus speist, glaubten manche Kirchenväter, in Plutarch einen Vorläufer des Christentums zu erkennen. So wurden seine Texte in großer Zahl überliefert und konnten eine starke Nachwirkung ausüben.

1929 schrieb Carl J. Burckhardt an Hugo von Hofmannsthal: »Plutarch: die ganze virtù von der Renaissance bis zum napoleonischen Epos ist durch ihn bestimmt, und er wirkt noch weit ins 19. Jahrhundert hinein, bei den Engländern, den Preußen. Er ist eine eminent europäische Kraft.«

Friedrich Dübner: Plutarchi Chaeronensis scripta moralia. Berlin 1841.

Robert Flaceliere/Jean Irigoin: Plutarque. Oeuvres morales. Paris 1987.

Richard Volksmann: Leben, Schriften und Philosophie des Plutarch von Chaeronea. Berlin 1869

Reprint: Hildesheim 1980.

JAN UND DOROTA KOCHANOWSKI

Große Leere ist im Hause eingezogen, Seit du, Ursula, dich hast davongestohlen.

Obschon der polnische Dichter Kochanowski im Westen nicht besonders bekannt ist, besitzt er in Polen wie in anderen slawischen Ländern einen sehr hohen Bekanntheitsgrad. Literaturkenner sehen in ihm nicht nur den »Vater der polnischen Lyrik«, sondern den wichtigsten slawischen Dichter der Renaissance. Der Zyklus »Treny« (Klagelieder), der dem Andenken seiner Tochter Orszola (Ursula) gewidmet ist, ist sein lyrisches Meisterwerk und sein Schwanengesang. Es zählt zu den klassischen Werken der Weltliteratur. Als ergreifendes Zeugnis einer persönlichen Trauer stellt dieser Zyklus einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung der modernen elegischen Dichtkunst dar. Indem er sich an den klassischen Ideen orientiert, stellt er auch die Verbindung her mit der griechischlateinischen Tradition der Trauergesänge oder »Threnodien« sowie mit den antiken Autoren Cicero und Plutarch.

 

Ein Dichter der Renaissance

Jan Kochanowski wurde im Jahr 1530 in Sycyna, einem kleinen Dorf bei Radom in Südpolen als Sohn eines adligen Richters geboren. Dank der künstlerischen Ermutigungen ihrer Mutter zeichneten sich auch mehrere Brüder durch bemerkenswerte Leistungen aus: Mikolaj komponierte Lieder und übersetzte die »Moralia« Plutarchs, Andrzej übersetzte Vergils »Äneis« ins Polnische.

Jan Kochanowski begann seine Studien zunächst 1544 in Krakau und in Krolewiec. Auf einer langen »Bildungsreise«, die ihn nach Königsberg und Padua führte, studierte er die alten Sprachen, Griechisch, Latein und Hebräisch. Zahlreiche lateinische Gedichte, Elegien und Epigramme, die in dieser Zeit entstanden, weisen Kochanowski als bedeutenden klassischen Dichter aus. Als seine Mutter starb, kehrte er nach Polen zurück und erhielt als Erbteil das Gut von Czarnolas nahe bei Radom.

Auf einer Frankreichreise suchte er auch Pierre Ronsard, den Hauptvertreter der »Pléïades«, auf und notierte stolz: »Ronsardum vidi!« Indem er Ronsard mit dem antiken Sänger Orpheus verglich, träumte er davon, ein polnischer Orpheus zu werden und Werke hervorzubringen, die seines Vorbildes würdig wären. Tatsächlich wurde er schon sehr früh berühmt. 1560 wurde er Sekretär des Königs Sigismund August und er lebte am Königshof von Krakau, wo er sein literarisches Werk in den Dienst der nationalen Politik seines Herrschers stellte. Seine geistreichen »Fraszki« (Geschichtchen) zirkulierten in den gebildeten Kreisen des Hofs und des Adels.

Seit der Veröffentlichung seines Werkes »Satyr« (1564) galt Kochanowski allgemein als der größte Dichter Polens. Der König schenkte ihm einträgliche Pfründe, verlieh ihm mehrere Pfarreien, obwohl der Dichter nie eine Weihe empfangen hatte. Kurz nach dem Tod des Königs verzichtete Kochanowski auf alle politischen Ambitionen. Er verließ den Hof und zog sich auf sein Landgut von Czarnolas zurück, »um dort seine poetische Ernte einzubringen … unter der Linde, fern von den Geräuschen der Welt«.

Der Landedelmann und Familienvater in Czarnolas

1575 heiratete Kochanowski dort die Tochter eines adligen Gutsbesitzers, Dorota Podlowska. Sie schenkte ihm drei Töchter sowie einen Sohn. Trotz Einladungen und verlockender königlicher Angebote, zog Kochanowski es vor, das beschauliche Leben eines Landbesitzers zu führen, wo er sich seiner Familie und seinem poetischen Schaffen widmen konnte. Er besang sein Landgut von Czarnolas als sein »Tusculum«:

Im Marmorschlosse mögen andre residieren

Und mit lautrem Gold ihre Wände zieren,

Mich dagegen, Herr, heiß hier zu Hause sein.

Mir gib Gesundheit, das Gewissen lass rein,

Die Menschen sein mir gut, stets reichlich Trank und Speise,

Erträglich sei das Alter und der Umwelt Weise.

Dennoch blieb er auch politisch tätig. Er setzte sich im Sejm in Warschau für die Kandidatur von Kaiser Maximilian II. als König von Polen sein. Er schrieb eine klassische Tragödie »Odprawa poslow greckich« (Die Abfertigung der griechischen Gesandten), die 1578 in Warschau in Gegenwart des Königs und der Königin aufgeführt wurde. In diesem »pazifistischen« Werk benutzte der Dichter ein historisches Gewand, um die Polen vor einem drohenden Krieg zu warnen. Er zeigte die Gefahren, die zum Untergang einer Gemeinschaft führen können. Zehn Jahre lang arbeitete er an einer polnischen Übertragung der 150 Psalmen Davids, an seinem umfangreichsten Werk. »Psalterz Dawodow« erschien 1579 in Krakau. Während Kochanowski die Gesamtausgabe seiner Werke vorbereitete, traf ihn ein Schicksalsschlag, der die vorgesehene Editionsreihenfolge unterbrach. Wahrscheinlich Ende 1579 starb unerwartet seine Tochter Ursula (Orszula) im Alter von 30 Monaten und stürzte den Dichter und seine Frau in tiefe Verzweiflung. Um seinem Schmerz Ausdruck zu verleihen, schrieb er einen Zyklus von 19 Klageliedern, »Treny«, sein letztes, und nach übereinstimmendem Zeugnis, sein ausdrucksstärkstes lyrisches Werk. Dieser Zyklus erschien 1580 in Krakau.

Die »Treny«

Mit den »Treny« brach Kochanowski ein doppeltes Tabu seiner Zeit. Indem er ein so großes Aufheben vom Tod seines kleinen Kindes machte, verstieß er gegen die gesellschaftliche Verhaltensregel, dass man den Verlust der Kinder als eine natürliche Erscheinung, als einen normalen Schicksalsschlag gelassen, d.h. wortlos, hinnehmen solle. Kochanowski scheute sich nicht, vom »unendlichen Schmerz der Eltern« zu schreiben, sich zu seiner Trauer, zu den »Tränen des unglücklichen Vaters« zu bekennen. Noch gravierender war die Tatsache, dass er es wagte, mit den Zeugnissen seines privaten Trauerschmerzes an die Öffentlichkeit zu treten. Die unmittelbare Drucklegung der »Treny« war eine Zumutung für die damalige Gesellschaft und zudem eine Verletzung der literarischen Konvention, die nur zuließ, dass man das Andenken einer bedeutenden Persönlichkeit, einer »persona gravis«, in einem Kunstwerk verewigte. Ursula, das junge, völlig unbekannte Kind, von dessen Existenz nur der engste Familienkreis wusste, war eine »persona levis«, ein unbedeutendes Wesen, kein Gegenstand also für einen Trauergesang, geschweige denn für einen gewaltigen Zyklus, der noch heute in seinem Umfang und in seiner Intensität einmalig in der polnischen Literatur dasteht. Mickiewics ging sogar soweit, in seinen Pariser Vorlesungen drei Jahrhunderte später zu urteilen: »Von seinen Werken ist unstreitig als originale Schöpfung am ergreifendsten der Zyklus der nach dem Tod eines seiner Kinder verfaßten ›Treny‹. Wir werden nichts Gleiches in der Literatur irgendeines anderen Landes finden.« Damals waren weder die »Kindertotenlieder« Rückerts noch die »Pauca meae« Victor Hugos veröffentlicht, sodass Kochanowskis persönliche Klagelieder noch viel stärker hervorragten.

Die Zeugnisse über die Aufnahme beim zeitgenössischen polnischen Publikum sind nicht übereinstimmend. Einerseits wird berichtet, die Öffentlichkeit habe kühl auf den Zyklus reagiert. Andrerseits gibt es die unumstößliche Tatsache, dass der Verleger in kurzen Abständen, 1583 und 1585, zwei Neuauflagen des Zyklus in Krakau folgen ließ. Hätte er das getan, wenn das Werk keine Käufer und Leser gefunden hätte? Der Krakauer Verleger Jan Januszowski war ein normaler, d.h. gewinnorientierter Unternehmer, der sicher nur druckte, weil eine rege Nachfrage nach dem Buch bestand, die ein gutes Absatz-Geschäft versprach. Die Neudrucke in kurzen Abständen lassen also eher auf eine ungewöhnlich starke Resonanz schließen.

Die pathetische Widmung in Kapitallettern, die der Dichter seinen Klageliedern voranstellte, lautet:

FÜR URSULA KOCHANOWSKA,

DAS ANMUTIGE, ENTZÜCKENDE, UNGEWÖHNLICHE KINDLEIN, WELCHES, NACHDEM ES DAS AUFBLÜHEN ALLER TUGENDEN UND FERTIGKEITEN EINES MÄDCHENS GEZEIGT, UNVERSEHENS UND WEIT VOR DER ZEIT, ZUM UNENDLICHEN SCHMERZ SEINER ELTERN, DAHINGING – HAT SIE JAN KOCHANOWSKI, IHR UNGLÜCKLICHER VATER, UNTER TRÄNEN GESCHRIEBEN.

DU BIST NICHT MEHR, O MEINE URSULA !

Die Gedichte sind vermutlich nicht in der Reihenfolge entstanden, die sie im Zyklus einnehmen. Die Forschung ist der Auffassung, dass die persönlichsten Klagen, die fast ganz frei von mythologischen Anspielungen sind, unmittelbar nach dem Verlust des Kindes niedergeschrieben wurden. Zu ihnen gehören die Treny VII und VIII, welche die Intimität der Familie und die Erschütterung des häuslichen Glücks ergreifend widerspiegeln:

Kochanowski beweint seine Tochter Ursula. Gemälde von Jan Matejko (1838–1893)

Tren VII

Unglückselige Kleider, traurig Band, geflochten,

Meiner allerliebsten Tochter !

Warum lenkt ihr auf euch meine Kummerblicke,

Spielet mit verlornem Glücke?

Ihre Glieder wird sie nicht mehr in euch hüllen,

Keine Hoffnung je erfüllen !

Dumpf und bleiern packte sie der Schlaf des Todes …

Schon ist dieses Kleid, das rote

Für den Sommer, sind die Kränze, goldnen Bänder –

Eitel alle die Gewänder.

Nicht in solches enge Brautgemach, du Holde,

Dich die arme Mutter sollte

Führen ! Jener Brautschatz ward dir nicht verheißen,

Ach, nun gab sie dir das weiße

Hemdchen nur und ein erbärmlich dünnes Linnen,

Und es legt mit düstrem Sinnen

Ihr zu Häupten Erdklümpchen der Vater. Ach, verdrossen

Sehn wir sie im Schrein verschlossen !

Das Motiv der zurückgelassenen, unnütz gewordenen Kleider, die den Schmerz der Eltern stets erneuern, wird noch des Öfteren anklingen, am pathetischsten wohl bei Dostojewski. Das nächste Klagelied wirkt teilweise wie eine Vorwegnahme gewisser romantischer Verse, von Rückert oder V. Hugo etwa.

TREN VIII

Große Leere ist im Hause eingezogen,

Seit du, Ursula, dich hast davongestohlen.

Zahlreich sind wir, und doch scheints, das Leben fehle:

Soviel ist verlorn mit einer kleinen Seele !

Hast geplaudert für uns alle, hast gesungen,

Bist mit flinkem Schritt durch Haus und Hof gesprungen.

Hast die Mutter keine Stund sich grämen lassen,

Noch den Vater grübelmüd beim Kopf sich fassen,

Da du diesen bald, bald jene sanft umarmtest.

Ihrer dich mit Lachen und mit Scherz erbarmtest.

Stumm ist alles nun im Haus und öde Leere :

Keiner, der mit Spiel und Lachen ihrer wehrte.

Leid starrt jetzt den Menschen an aus jedem Winkel.

Das Herz blickt sich vergebens um, wo Trost noch winke.

In andern »Treny« erweist sich Kochanowski auch als ein typischer Dichter seiner Zeit, d.h. als ein »poeta doctus« der Renaissance. So ruft er gleich zu Beginn die Tränen des griechischen Philosophen Heraklit und die Lamenti des griechischen Lyrikers Simonides dazu auf, ihm zu helfen, um sein »kleines Mädchen, seine teure Tochter zu beweinen, die der grausame Tod mit wilder Gewalt aus seinem Leben gerissen … «. Er vergleicht den Tod mit einer giftigen Schlange, die in das Nest einer Nachtigall einbricht; die Mutter wehrt sich verzweifelt, aber ihr Widerstand kann die Kleinen nicht vor dem tödlichen Biss retten.

Er wendet sich an Persephone (Proserpina), die Göttin der Unterwelt. Seine musikalisch begabte Tochter bezeichnet er als »slawische Sappho«. Wie Orpheus sucht er nach dem Tor des Hades, um mit seiner Laute Pluto zu rühren, dass er sein Kind vom Tode entbinde. Er beschwört die unglückliche Mutter Niobe, die zu Stein ward nach dem Tod ihrer vierzehn Kinder.

Dazwischen ersteht das unvergleichlich vollkommene Bild Ursulas, so verklärt, wie es nur ein verletztes Vaterherz entwerfen kann:

Reinlich, gehorsam, züchtig, immer sich bescheidend,

Gewandt, als hätte sie’s gelernt, im Singen, Reimen …

Verständig, wohlerzogen, gütig, ganz und ohne Grillen,

Höflich, bescheiden, schamhaft und stets von gutem Willen.

Des Weiteren preist er ihre Frömmigkeit, ihre Hilfsbereitschaft, ihre Tugend, ihre Anmut …, aber alle Vorzüge haben nichts geholfen. Ursula ist unwiederbringlich tot, er muss die Hoffnung eines Wiedersehens mit ins Grab nehmen, »Weil du in alle Ewigkeit nie wieder aufgehn / Und aufblühen wirst nie mehr vor meinen Kummeraugen.« In seinem Schmerz erweisen sich auch Weisheit und Verstand als ohnmächtig. Cicero behauptete, dass ein Philosoph nur durch die Schmach unglücklich werden könnte. Und Kochanowski stellt dem Philosophen aus Arpinum jetzt die unbequeme Frage: »Warum beklagst du so bitter die Tochter?« (XVI). Hat Cicero nicht selbst seine philosophische Gelassenheit ad absurdum geführt, als er so unbändig um Tullia trauerte?

 

Immer wieder wendet er sich an Ursula selbst: »Ursula, mein süßes Kind, wohin bist du gegangen? Bist du im Paradies? Bei Charon? Im Fegefeuer? Wohin auch immer du gegangen bist, hab Mitleid mit mir, komm zurück, als Schatten, Traum oder Geist.« Er fühlt sich so stark von ihrem Tod getroffen, dass er eine schreckliche Alternative ausspricht, die von den meisten Eltern nicht geteilt wird: »Ich wünschte, du wärest nie geboren worden oder du wärest nicht gestorben!« Wie viele drücken gerade ihre Dankbarkeit dafür aus, dass sie das Glück hatten, wenigstens ein paar Jahre die Existenz ihres Kindes teilen zu können. Sie wären nie bereit, diese kurze Existenz selbst infrage zu stellen.

Am Schluss des XIII. Tren entwirft er den Grabspruch für seine Tochter, die eigentlich glücklicher ist als ihr Vater, der mit ihrem Tode leben muss, eine Idee, die später so prägnant von Mascha Kaléko ausgedrückt wurde: »Den eignen Tod, den stirbt man nur, / Doch mit dem Tod der andern muss man leben.«

Steinmetzen, diesen Stein stellt auf, kunstvoll behauen,

Und meißelt ein den Denkspruch meiner schwarzen Trauer:

»Ursula Konanowska, ihres Vaters Liebe,

Ruht hier, ach: seine Tränen und der Wehmut Lieder.

Wie will, o unbedachter Tod, sich solches reimen:

Nicht sollt ich sie, sie sollte wohl eher mich beweinen.«

Nachdem der Dichter alle rein menschlichen Aspekte der Tragödie beleuchtet hat, sie mit mythologischen und klassischen Beispielen verglichen hat, betrachtet er gegen Ende seines Zyklus den Verlust von religiöser Warte aus, und er bewertet ihn neu, im großen Zusammenhang. In den letzten Treny geht es nicht mehr um die antiken Götter oder das Schicksalsgesetz, es geht um den einen christlichen Gott. Kochanowski stellt fest: »Gott gab mir diese harten Schläge.« Seine Seele ist tief verwundet, er sieht ein, dass von der Vernunft keine Linderung oder Rettung kommen kann, deshalb endet Tren XVII mit der Feststellung: »Gott ist meine einzige Hoffnung.«

Das zweitletzte Klagelied erinnert überdeutlich daran, dass Kochanowski vor kurzem die Bußpsalmen Davids übersetzt hat, u.a. das »De profundis … Aus tiefer Not schrei ich zu Dir.« Hier ist nur noch die Rede von der Schuld der Menschen, von ihrer Undankbarkeit für die Wohltaten Gottes. »Wir, deine widerspenstigen Kinder, Vater … gedenken deiner selten.« Und die Schlussstrophe fasst noch einmal das Versagen der Menschen und die Bitte um göttliche Barmherzigkeit zusammen:

Groß sind vor dir meine Missetaten.

Doch dein sanftes Walten

Schwebt ob allem Bösen.

Heute, Herr, mag mich dein Mitleid lösen!

Ohne dass es explizit gesagt wird, erscheint der Tod des Kindes jetzt als eine Prüfung, wenn nicht gar eine Strafe Gottes für seine Sünden, eventuell für seine Hybris, dass er sich so sicher wähnte, als er ein einfaches, bescheidenes Leben auf dem Lande führte. Aber der Schmerz um das Kind lässt nicht nach.