Requiem für ein Kind

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Die Gewissensbisse eines Vaters – »Summa culpa mea«

Da Cicero zu dem Zeitpunkt die Provinz Cilicien verwaltete, war es ihm nicht möglich, sofort persönlich nach einem neuen Mann für seine Tochter Ausschau zu halten. Er beauftragte mehrere Vertraute mit dieser Angelegenheit, die ihm sehr am Herzen lag (»gratissimum … quo nihil carius«). Aus politischem Opportunismus schlug einer von ihnen einen zehn Jahre jüngeren Mann vor, P. Cornelius Dolabella, der einen ziemlich üblen Ruf als Draufgänger und Lebemann genoss, aber erklärter Parteigänger Cäsars war. Zweimal schon hatte Cicero den dreisten jungen Mann verteidigt und eine Verurteilung abwenden können. Diese dritte Verbindung war von Anfang an wenig glückverheißend für Tullia, aber im Augenblick politisch vorteilhaft. Nach einigem Widerstreben fügte sich Cicero und fand schließlich sogar Gefallen an seinem neuen Schwiegersohn (»gener suavis est mihi, Tulliae, Terentiae …«). Als der Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Cäsar ausbrach, versuchten beide Parteien den angesehenen Redner, der eine moralische Autorität darstellte, für sich zu gewinnen.

Das Kind, das Tullia am 17. Mai 49 zur Welt brachte, war eine Frühgeburt, die nicht überlebte. Bald darauf suchte Tullia Zuflucht bei ihrem Vater und beklagte sich über das Benehmen Dolabellas, der sich als Trinker und Schürzenjäger erwies und die Mitgift seiner Frau mit einer Geliebten verschwendete. Im Herbst 46 kam es zur endgültigen Trennung, obwohl Tullia ein zweites Kind erwartete. Cicero fühlte sich schuldig am Unglück seiner Tochter, die jetzt zum dritten Mal, ohne irgendwelches persönliches Verfehlen, eine schreckliche Enttäuschung erlebte (»id-que accidere nullo ipsius Tulliae delicto, summa culpa mea«, bekennt er Atticus XI, 17). Als Vater hatte er versagt, er hätte diese Ehe verhindern oder wenigstens das Leiden Tullias durch eine rasche Trennung verkürzen müssen. Er machte sich bittere Vorwürfe, dass er so blind war (»caeci fuimus«, ad Att., XI, 25). Dieses Kind, das ihm teurer als das eigene Leben war (»Tulliola, quae nobis nostra vita dulcior est«, Ad fam. XIV, 7), war trotz seiner höchsten Tugendhaftigkeit und seiner Güte durch den Fehler des Vaters (»nostra neglegentia«) in ein Unglück geraten, das es keineswegs verdient hatte.

Mittlerweile war auch in Ciceros eigener Ehe eine Krise ausgebrochen, die damit endete, dass er sich nach rund 30 Jahren von Terentia trennte. Diese heiratete daraufhin den Historiker Sallust, während Cicero sein junges Mündel Publilia ehelichte, zum nicht geringen Befremden seiner Umgebung. Ob ihre »Jugendschönheit«, wie Plutarch schreibt, oder ihre Wohlhabenheit den Ausschlag beim verschuldeten Cicero gaben, ist unklar geblieben. Max Brod hat dieser »Spätliebe« des berühmten Redners den Roman »Armer Cicero« (1955) gewidmet.

Der Tod in Tusculum

Ende Januar 45 schenkte Tullia einem Jungen, Lentulus, das Leben. Cicero brach mit seiner Tochter und seiner jungen Frau nach seinem Landsitz Tusculum auf, in der Hoffnung, dass die gesunde Luft der Albaner Berge die geschwächte Tochter schneller auf die Beine bringe. Wenige Wochen später, Mitte Februar 45, starb Tullia, ohne Anzeichen einer Erkrankung, vor Kummer und Entkräftung. Sie war 31 Jahre alt. Cicero war zutiefst erschüttert über diesen herben Verlust (»fortunae gravissimo perculsus vulnere« Acad, post 1,3). An Sulpicius Rufus schrieb er, dass dieser Schicksalsschlag ihn um sein ganzes Glück gebracht habe. »Es ist aus mit mir … nachdem ich das Einzige, was mich noch gehalten hat, verloren habe«, bekannte er Atticus. Seit vielen Jahren war Tullia seine enge Vertraute gewesen. Die üblen Verleumdungen seiner Widersacher gingen sogar so weit, diese sehr innige Vater-Tochter-Beziehung als inzestuös hinzustellen. Bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen in der Politik hatte er stets bei Tullia einen Rückhalt gefunden, weit mehr als bei seiner Frau. Die Gespräche mit ihr hatten ihn immer wieder aufgerichtet und getröstet. Sofort nach Tullias Tod schickte er Publilia nach Rom zurück. Er wollte sie nicht mehr sehen, da sie auf Tullia eifersüchtig gewesen war und ihr jetzt nicht aufrichtig nachtrauerte.

Cicero selbst verließ fluchtartig Tusculum, das ihm unerträglich geworden war, und fand Zuflucht bei Atticus. Er suchte Trost in dessen Bibliothek, indem er sämtliche Werke über das Thema des Trauerschmerzes durchlas. »Auf diese Weise bleibt meine Trauer innerhalb der Grenzen, welche die Philosophen vorschreiben. Ich habe nicht nur alles gelesen, was sie zu diesem Thema geschrieben haben, was an sich schon Mut erfordert, sondern ich habe es in mein Werk übertragen …« Da er möglichst jeden Kontakt mit Besuchern meiden wollte, zog er sich schließlich auf ein Landgut zurück, das er in Astura, am Meer, gekauft hatte. Dort gab es einen dichten undurchdringlichen Wald, in dem er sich den ganzen Tag aufhielt, um zu lesen, zu meditieren und zu schreiben. In mehreren Briefen an Atticus teilte er seine Absicht mit, eine »consolatio«, eine Trostschrift, »an sich selbst« zu verfassen, um seinen Schmerz zu lindern (»librum de minuendo luctu«), »Ganze Tage schreibe ich, nicht damit ich dadurch etwas gewinne, doch es lenkt mich eine Weile ab. Freilich nicht genug – der Schmerz ist übermächtig – aber ich erhole mich doch dabei und bin nach Kräften bemüht, wenn nicht den Geist, so doch meine Miene so weit wie möglich in Fassung zu bringen. Wenn ich das tue, komme ich mir bisweilen vor, als beginge ich ein Unrecht; bisweilen glaube ich auch wieder, es sei unrecht, wenn ich es nicht tue.«

Die »consolatio«, die er »mitten in der Trauer und im Schmerz« verfasste, ist verschollen, nur einige Fragmente davon sind überliefert worden, u.a. vom hl. Hieronymus. Aber das große philosophische Werk der »Tusculanae disputationes«, das im August jenes Jahres entstand und verwandte Themen behandelt, ermöglicht es, den Inhalt dieser Trostschrift zu rekonstruieren, umso mehr als Cicero sich auf einige Autoren beruft, deren Ideen zum philosophischen Gemeingut des Altertums gehören. Als Einleitung entwickelt Cicero folgende »tröstliche« Hauptideen: Es ist kein Übel, jung zu sterben, das menschliche Dasein ist so traurig, dass es gut ist, daraus zu fliehen. Cicero kritisiert die Argumente gegen das Leid, die von den verschiedenen philosophischen Schulen des Altertums vertreten wurden, von den Peri-Patetikern, den Epikuräern, den Stoikern usw. Stichhaltig und wirksam erscheint ihm nur die Beweisführung Crantors, eines Akademikers, der sich an Platos Lehre anlehnt, vor allem an seine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Seelen wie die Tullias können nicht vergehen, so wenig wie die Seelen großer Menschen der Vergangenheit, wie z.B. die Scipios. Mit dem Tode seiner Tochter wird diese Hypothese nicht bloß eine Hoffnung für ihn, sie wird ihm zur Gewissheit – oder zu einer notwendigen emotionalen Kompensation.

Die Apotheose Tullias

Vielleicht traute Cicero seiner Trostschrift nicht zu, ein zeitüberdauerndes Zeugnis, ein »monumentum aere perennius« zu sein. Jedenfalls unterbreitete er am 11. März seinem Freund Atticus sein Projekt, ein Marmordenkmal für Tullia zu errichten. Dieses Heiligtum sollte kein Grabmal sein, eher eine Kapelle oder ein kleiner Tempel, der von Säulen umgeben wäre (»De fano illo dico, de quo tantum, quantum me amas, velim cogites …« Ad Att, XII, 18). Als Begründung fügte er hinzu: »Vielleicht reißt das meine Wunden wieder auf, aber ich fühle mich wie durch ein Gelübde oder ein Versprechen gebunden.«

Bei den Griechen errichtete man solch ein Gebäude, das sie »heroon« nannten, zu Ehren von Personen, denen man eine göttliche Natur zusprach, z.B. Städtegründern, mythischen Vorfahren usw. Insgesamt sahen manche Philosophen damals in den überlieferten Gottheiten nur Sterbliche, die der Menschheit große Dienste geleistet hatten und dadurch »unsterblich« geworden waren. Sie argumentierten, dass ein Wesen, das mit einer außergewöhnlichen Intelligenz ausgestattet sei, nicht auf ewig verschwinden könne; dieselbe Überlegung war gültig für alle Wesen, die besonders geliebt und verehrt wurden. Die Toten besaßen, in ihren Augen, ein eigenes Leben, eine immaterielle Existenz, die sie halbwegs zwischen ihrem früheren Aufenthalt und jenem der überlieferten Gottheiten führten. So wurde Tullia heroisiert. Dank der Liebe, die sie verdiente und die ihr entgegengebracht wurde, hatte sie eine unvergängliche Daseinsform gewonnen.

Cicero ging unverzüglich an die Verwirklichung seines Planes heran. Bereits im Sommer gedachte er, das Heiligtum zu vollenden (»Cogito … ita tamen, ut hac aestate fanum absolutum sit«, ad Att. 14.3.45). Er beauftragte den Architekten Cluatius mit dem Entwurf, er beabsichtigte, den Bau »mit allen Verzierungen der griechischen und römischen Kunst zu dekorieren.« Atticus wurde beauftragt, wegen der Beschaffung von Marmorsäulen mit Apelles von Chio zu verhandeln.

Mehrere Monate lang suchte Cicero einen geeigneten Platz für das Heiligtum. Er dachte zuerst an die Insel Arpinas, seinen Geburtsort, dann an sein Landgut Tusculum, dann an den Meeresstrand von Ostia. Alle drei Standorte wurden schließlich verworfen, weil sie zu weit entfernt und abgelegen waren. Deshalb unternahm Cicero Schritte, um einen Garten in Rom selbst zu erwerben. Aber die angesprochenen Besitzer wollten nicht verkaufen, trotz der Bereitschaft Ciceros, einen sehr hohen Preis zu bezahlen. »Hab nur keine Angst wegen der Preise für diese Gartengrundstücke. Ich brauche kein Silbergeschirr mehr, keine Teppiche, keine schön gelegenen Villen wie einst: Nur dies Eine brauche ich noch.«

Am besten gefielen ihm die Gärten eines gewissen Scapula, weil dort immer viel Volk vorbeikam (»maxima celebritas«). Damit würde der Kult für Tullia eine echte Aussicht auf Popularität erhalten. Diesen Plan eines zentral gelegenen Standortes musste er aufgeben, als er hörte, dass die Gärten Scapulas im Perimeter der Urbanisierungspläne Cäsars lagen. Er konnte es sich nicht leisten, die Erweiterung des Marsfeldes zu behindern. Atticus gab zu bedenken, dass die Megalomanie des Tempelbaus Ciceros Vermögensverhältnisse überforderten. Vergeblich bemühte sich dieser um Anleihen (»video etiam a quibus adiuvari possim«). Angesichts der sich häufenden Schwierigkeiten bekräftigte er am 3. Mai 45 nochmals: »Ich will, dass dieser Tempel gebaut werde und nichts kann mich von diesem Vorhaben abbringen.« Deutlich betonte er, dass es ihm nicht um ein Grabmal gehe, sondern um eine »Apotheose«. Im lateinischen Text steht das griechische »αποθϵωσιν«.

 

Als Atticus die Befürchtung aussprach, dass Ciceros Trauer seinem Ansehen schaden könne, antwortete dieser mit der vorwurfsvollen Frage: »Ich sollte nicht trauern? Wie könnte man das?« Dennoch wurde es bald merklich still um das Anliegen. Im Spätsommer 45 verlor sich das Thema im Briefwechsel. War der Bau vollendet? Es ist eher wahrscheinlich, dass das Tempelchen nie gebaut wurde.

In Max Brods Roman wird das Projekt im Rückblick folgenderweise dargestellt: »Tullia war tot, vor einem Jahr gestorben, zum unbeschreiblichen Schmerz des Vaters, dem sie das Liebste auf Erden gewesen war … Hatte der Jammernde damals nicht einen Tempel zum Gedächtnis Tullias bauen wollen, – nicht etwa eine Grabstätte; denn für ihn sollte sie nicht tot sein, als Gottheit sollte sie weiterleben, verehrt von ihm und von allem Volk. Deshalb sollte ja auch der Tempel unbedingt an einer vielbefahrenen und begangenen Straße liegen. Monatelang hielt der Konsular Ausschau nach einem passenden Grundstück …« (S. 32) Im Roman sind es die »schrecklichen Zuckungen des Bürgerkriegs«, welche die Verwirklichung des Tempelbaus vereitelten.

Die philosophischen Werke

Der Tod seiner Tochter bedeutete auch eine Krise im Denken Ciceros. Er wurde zum Anlass, die großen Theorien kritisch zu überprüfen. Nie war Cicero philosophisch so produktiv wie in den Monaten nach Tullias Tod. Er betäubte seinen Kummer in einer ungeheuren Arbeitswut, die ihm fast keine Zeit zum persönlichen Grübeln übrigließ. Die lateinische Literatur verdankt dieser übermenschlichen »Trauerarbeit« einige ihrer besten Bücher, inhaltlich wie stilistisch. Es darf nicht vergessen werden, dass die Grammatik und Stilistik der lateinischen Sprache wesentlich auf den Werken Ciceros und Cäsars beruhen. Ciceros Reden und Abhandlungen bilden das Rückgrat der Latinität, er schuf die klassische lateinische Sprache, die für Jahrhunderte gültig blieb.

Schon am 16. Mai kehrte Cicero wieder nach Tusculum zurück, wo die Erinnerung an die letzten Tage Tullias keine unerträgliche Qual mehr darstellte. Er nahm eine ganze Reihe von philosophischen Abhandlungen in Angriff, die »Academica«, »De finibus bonorum et malorum«, und vor allem die »Tusculanae disputationes«, die er schon am 29. Mai begann. Das erste der fünf Bücher handelt vom Tod, das zweite vom Schmerz, das dritte vom seelischen Leiden, alles Themen, die Cicero jetzt, nach dem Verlust Tullias, mit besonderer Betroffenheit untersuchte und ergründete. Die im selben Jahre geschriebenen Bücher über die Natur der Götter (»De natura deorum«) und über die Weissagungen (»De divinatione«) offenbaren ebenfalls das Interesse Ciceros, sich mit metaphysischen Fragen auseinanderzusetzen und für sein Denken, für seine Weltanschauung neue Grundlagen zu finden. Er schuf eine Synthese der jüngeren griechischen Philosophen und wirkte so, besonders als Vermittler ihrer Ethik, auf die ersten christlichen Jahrhunderte.

Das Ende

Nach der Ermordung Cäsars an den Iden des März 44 v. Chr. versuchte Cicero wieder ins politische Geschehen einzugreifen, indem er den Tyrannenmörder Brutus als Befreier Roms hinstellte. Er setzte die staatspolitischen Ideen, die er in seinem »De re publica« vertreten hatte, der Praxis des machthungrigen Marcus Antonius entgegen. Mit großer Leidenschaft prangerte er die undemokratischen Methoden seines Gegners in 15 Reden, den berühmten »Philippica«, an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Octavian, der Adoptivsohn Cäsars, sich mit Antonius und Lepidus zum 2. Triumvirat zusammenschließen würde. Jetzt konnte Antonius Rache an Cicero nehmen.

Wahrscheinlich gegen den Widerstand Octavians, der ein gutes Verhältnis zum Redner unterhielt, wurde Cicero auf die Liste der Geächteten gesetzt. Die Häscher holten ihn ein, am 7. Dezember 43 v. Chr., nicht weit von Gaeta, als er in seiner Sänfte ans Meer flüchtete. Plutarch schildert ausführlich die barbarische Ermordung des großen Redners.

»Cicero befahl den Trägern, die Sänfte an Ort und Stelle niederzusetzen, und schaute selbst, indem er nach seiner Gewohnheit die linke Hand ans Kinn legte, mit starrem Blick auf die Mörder, von Staub bedeckt, mit ungeschorenem Haar und Bart und das Gesicht von Kummer verzehrt, so dass die meisten sich verhüllten, als Herennius ihn abschlachtete. Er erhielt den tödlichen Hieb in den Hals, den er aus der Sänfte vorstreckte, im vierundsechzigsten Lebensjahr. Dann schlugen sie ihm, gemäß Antonius’ Befehl, den Kopf und die Hände ab, mit denen er die Philippinischen Reden geschrieben hatte.«

Der Centurio Herennius schickte die »abgeschnittenen Teile« nach Rom zu Antonius, der sie auf dem Forum, auf der Rednertribüne, ausstellen ließ. Vor Jahren hatte Cicero seinen Mörder, der des Vatermordes angeklagt war, vor Gericht verteidigt und seinen Freispruch erwirkt.

Marcus Tullius Cicero: Ad Atticum/Ad Familiares/Tusculanae disputationes. Collection Budé. Paris.

Max Brod: Armer Cicero. Herbig. Berlin 1955.

Jérôme Carcopino: Les secrets de la correspondance de Cicéron. Paris 1947.

Marion Giebel (Hrsg, und Übers.): Cicero zum Vergnügen. Reclam. Stuttgart 1997.

Pierre Grimal: Cicéron. Fayard. Paris 1986.

Plutarch. Von großen Griechen und Römern. Doppelbiographien. DTV. München 1991.

PLUTARCH UND TIMOXENA

Ich schicke Ihnen den Trostbrief des Plutarch … Ich überlasse Plutarch die Aufgabe, Sie zu trösten Michel de Montaigne an seine Frau nach dem Tod der Tochter. 1570

Ich wohne in einer kleinen Stadt, und ich lebe gerne dort, damit sie nicht noch kleiner werde.« Chäronea, die Geburtsstadt Plutarchs, liegt in Böotien, in Zentralgriechenland. Sie war berühmt in der Antike wegen des Sieges, den Philipp II. von Mazedonien im Jahre 338 v. Chr. dort über die Thebaner errungen hatte. Hier verbrachte der im Jahr 46 n. Chr. geborene Plutarch seine Kindheit, hierhin kehrte er im reifen Alter zurück, um sich seinem Werk zu widmen. Sein Bildungsgang hatte ihn nach Athen und nach Alexandrien geführt. In Athen hatte er viele Jahre als hochangesehener Philosoph gelehrt und war Bürger der Stadt geworden. Er reiste auch mehrfach nach Rom, wo er lehrte, die Freundschaft bedeutender Römer gewann und auch die Bürgerrechte erhielt. Nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt bekleidete Plutarch verschiedene politische Ämter. Noch wichtiger war, dass er zum Priester des Orakels von Delphi ernannt wurde und häufig zwischen Chäronea und Delphi unterwegs war.

Verheiratet war Plutarch mit Timoxena, der Tochter Alexions aus Chäronea. Sie brachte wenigstens fünf Kinder zur Welt, von denen drei sehr früh verstarben. Da sie selbst eine philosophische Abhandlung verfasste, muss sie eine gebildete Frau und ebenbürtige Partnerin ihres berühmten Mannes gewesen sein.

Als Historiker, Moralist und Philosoph hat Plutarch ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen, das große Verbreitung fand und daher auch weitgehend erhalten geblieben ist. Man unterscheidet meist zwei Gruppen von Schriften: die historischen Biographien und die so genannten »moralischen« Schriften. In seinen »Lebensbeschreibungen berühmter Männer« stellt er oft einen Griechen und einen Römer gegenüber, z.B. Alexander und Cäsar, Demosthenes und Cicero. Diese Doppelviten oder »parallele Biographien« mit ihrem Hang zur Heroisierung und Idealisierung prägten für viele Generationen das Bild der großen Gestalten der Antike. Sie hatten eine starke Nachwirkung, z.B. auf Shakespeare und Corneille, die sie als Quellen für ihre Römerdramen benutzten, auf Friedrich den Großen, Napoleon und Beethoven, denen sie als Musterbeispiele antiker Größe dienten.

In seinen »Moralia« untersucht Plutarch religiöse, ethische, politische, literarische, naturwissenschaftliche und medizinische Fragen, wobei er sich in seinen Ansichten stark an den Platonismus anlehnt. Sie sind ein wahres Kompendium, eine Enzyklopädie philosophisch-wissenschaftlicher Themen, wie sie in hellenistischer Tradition, meist in Dialogform, im kaiserlichen Rom und in Athen diskutiert wurden.

Zu den »moralischen Schriften« zählt man auch einen Text, der streng autobiographischen Charakter hat, den oft zitierten Trostbrief, den Plutarch an seine Frau Timoxena nach dem Tod ihrer gleichnamigen Tochter schrieb. Er gilt als ein exemplarisches Zeugnis für eine antike »Consolatio«. Für den hochgebildeten und feinfühligen Michel de Montaigne hatte er noch 1500 Jahre später eine solch zeitlos gültige Bedeutung, dass er seiner Frau eine Übersetzung davon zuschickte, als ihr ältestes Kind im Jahre 1570 starb. »Ich überlasse Plutarch die Aufgabe, Sie zu trösten … er wird Ihnen meine Absichten entdecken und was man in einer solchen Lage anführen kann, viel besser als ich es selbst tun könnte …«

Ich bin nicht aus Eichen und Steinen gemacht

Als rücksichtsvoller Philosoph und Gatte geht Plutarch kaum ein auf den Schmerz, den dieser Verlust ihm persönlich zufügt. Die Versicherung, dass er nicht unempfindlich wie Stein und Eiche sei, muss als Hinweis genügen. Sein Hauptanliegen ist die Tröstung und Ermunterung seiner Frau, deren Lieblingskind plötzlich gestorben ist.

»Plutarchus wünscht seiner Frau Glück! Der Bote, den du mir mit der Nachricht vom Tode unseres Kindes geschickt hast, hat mich wahrscheinlich auf dem Wege nach Athen verfehlt; ich habe es jedoch, als ich nach Tanagra kam, von der Nichte erfahren. Vermutlich ist die Bestattung schon vor sich gegangen: möge alles so geschehen sein, wie es dir jetzt und für die Zukunft am wenigsten Kummer macht. Falls du aber etwas, was du tun wolltest, unterlassen hast, weil du meine Meinung darüber abwarten willst, und, wenn ich bei dir bin, leichter zu tun glaubst, so magst du auch dieses noch besorgen, ohne jede Übertreibung und ohne Ängstlichkeit, was ja auch gar nicht deine Sache ist.

Nur erhalte mich, liebe Frau, und dich selbst bei diesem Schlage in gehöriger Fassung. Denn ich kenne und begreife die Größe unseres Verlustes; wenn ich aber finden sollte, dass du dich zu sehr darüber grämst, so würde mir dieses noch mehr leid tun als die Sache selbst. Dennoch aber bin ich nicht aus Eichen und Steinen gemacht, wie du selbst weißt, die du in Gemeinschaft mit mir so viele Kinder aufgezogen hast, weil wir alle zu Hause persönlich erzogen. Ich weiß, dass diese Tochter, deren Geburt nach vier Söhnen deinen sehnlichsten Wunsch erfüllte und mich veranlasste, ihr deinen Namen zu geben, dir ganz besonders lieb war. Was deine zärtliche Liebe zu dem Kinde noch besonders steigerte, ist die reine, unschuldige, niemals durch Ärger und Tadel getrübte Freude, die es uns machte. Es besaß von Natur eine wunderbare Gelassenheit und Sanftmut, und seine Gegenliebe und Hingebung machte uns Vergnügen und ließ zugleich sein liebreiches Wesen ahnen; wie es denn seine Amme bat, nicht nur andern Kindern, sondern selbst Gerätschaften und Spielsachen, an denen es eine Freude hatte, die Brust zu reichen, ganz so, wie wenn es sie aus Menschenliebe an seinen eigenen Tisch zur Teilnahme an seinen Genüssen einladen und mit denen, welche ihr Freude machten, sein Süßestes teilen wollte …«

Da die Tochter eine reine Freudenquelle war – »die allersüßeste Liebkosung … Augenweide und Ohrenschmaus« – soll ihr Andenken auch mehr Freude als Trauer erregen. Das sind die Eltern ihrem Liebling schuldig.