Requiem für ein Kind

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Kunst und Kindertod

Tieferen Einblick in das fremde Leid gewinnen die meisten Menschen heutzutage durch die Kunst, wenn ein Dichter, ein Maler, ein Bildhauer oder ein Musiker seinem persönlichen Schmerz einen öffentlichen Ausdruck verleiht oder das Kindersterben zum Thema wählt. Kein Leser der Buddenbrooks (1900) vergisst das unheimlich jähe Sterben des kleinen Hanno, mit dem Thomas Manns »Verfall einer Familie« abrupt endet; kein Leser des Romans »La peste« (1947) von Albert Camus kann die schreckliche Szene vergessen, als der Arzt Rieux ohnmächtig und empört der Agonie eines Kindes zusehen muss. Das Wiedersehen der Eltern in Athen, am Sterbe- und Todesbett ihrer Tochter Sabeth in Frischs Roman »Homo faber« (1959) ist von aufwühlender Tragik, trotz der unterkühlten Ausdrucksweise des Technikers Walter Faber. Anspruchsvolle Romane erreichen allerdings nur eine Elite von Lesern.

Dass aber auch eine breite Schicht der Bevölkerung für das tragische Thema empfänglich ist und davon unmittelbar ergriffen werden kann, davon zeugt exemplarisch der große Publikumserfolg des Filmes von Nanni Moretti »La stanza del figlio« (2001). »Das Zimmer des Sohnes« ist die Geschichte einer glücklichen Familie, die durch den jähen Verlust des 16-jährigen Sohnes Andrea zutiefst erschüttert wird und verzweifelt nach Trost und neuem Gleichgewicht sucht. Einzelne Szenen, wie die drastische Einsargung des Sohnes, der elementare Schmerzensausbruch des Vaters in der vergitterten Gondel des Lunaparks prägen sich unbarmherzig jedem Gedächtnis ein. Nach dem Urteil der Fachpresse hat der Film »ganz Italien zu Tränen gerührt«; er wurde dreifach mit dem »David de Donatello«, einer italienischen »Oscar« oder »Cäsar«-Variante, ausgezeichnet. Bei ihrer Vorführung auf dem Filmfestival von Cannes, am 17. Mai 2001, hinterließ die Familientragödie bei den Jury-Mitgliedern »Verunsicherung, Verwirrung, Verstörung«. Drei Tage später wurde »La stanza del figlio« mit der »Goldenen Palme« einstimmig – was äußerst selten ist – als bester Film des Festivals preisgekrönt.

Einige der hier dargelegten Fälle haben in jüngster Zeit durch Bühnenwerke das Interesse eines breiten Publikums wieder erregt. So wurden François Husters Schauspiele »Putzi« (1991) und »Mahler« (2000), die den Verlust der Tochter ergreifend thematisieren, mit großem Erfolg in Paris und verschiedenen Provinzstädten aufgeführt. In Wien geriet der Selbstmord von Lili Schnitzler und Franz von Hofmannsthal wieder in die öffentliche Diskussion dank des Salonstücks »Späte Worte« (2000) der österreichischen Autorin Michaela Ronzoni. Andre Link beschwört in seinem Monologdrama »Mein Flügel und ich, wir waren eins« (2001) die tragische Existenz Clara Schumanns, die hin- und hergerissen zwischen ihrer Künstlerkarriere und ihrer Mutterrolle, den Verlust von fünf Kindern beklagen musste. Der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf hat nie aufgehört, die Gemüter zu beschäftigen, wie zahlreiche Darstellungen beweisen, von den populären Sissy-Filmfolgen bis zum Musical »Elisabeth«, in denen die Tragödie von Mayerling den tränenreichen Schwerpunkt bildet.

Viele erschütternde Kunstwerke spiegeln die Tragödien wider, die das Lebensgefühl der betroffenen Künstler beim Schaffensprozess geprägt haben. Die zahlreichen Trauermusiken, Totenmessen, Elegien, Nänien und Lamentos der Musikliteratur sind nicht selten das Ergebnis persönlicher Verluste, Zeugnisse echter Trauer. Michael Haydn, Bedrich Smetana, Franz Liszt, Antonin Dvorak, Leos Janacek, Jan Sibelius und zahlreiche andere Musiker haben ihren verstorbenen Kindern ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Zu den jüngsten Zeugnissen gehören auch das berühmte Lied »Tears in Heaven«, das der britische Songwriter Eric Clapton komponierte, nachdem sein Sohn Conor 1991 in New York aus dem Fenster eines 53. Stockwerks gefallen war, und das »therapeutische« Album »Skeleton Tree«, in dem der australische Musiker Nick Cave den tödlichen Sturz seines 15-Jährigen Sohnes Arthur von einer Klippe bei Brighton beschwört.

Jan Kochanowski, Joseph von Eichendorff, Friedrich Rückert, Stefan Andres, Victor Hugo, Léopold Senghor u.a.m. haben ganze Gedichtzyklen dem Andenken ihrer verstorbenen Kinder gewidmet. Die künstlerische Arbeit, das Ringen um den angemessenen Ausdruck, zwang zu einem gewissen Abstand und half den Schmerz zu dämpfen.

Für manche Künstler wird die »Monumentalisierung« des Gedenkens zu einer Art Lebensaufgabe. Cicero beabsichtigte, dem Andenken seiner Tochter Tullia einen öffentlichen Tempel zu errichten. Klemens von Metternich errichtete in Böhmen ein imposantes Mausoleum für seine früh verstorbenen Töchter Clementine und Marie. Käthe Kollwitz arbeitete fast zwanzig Jahre am Denkmal für ihren Sohn Peter, der 1914 als Freiwilliger in den Krieg gezogen war und zu den ersten Gefallenen zählte.

Wie besonders aus den letzten Beispielen ersichtlich, wird der Begriff »Kind« hier in seinem weiten Sinne aufgefasst. Auch erwachsene Söhne und Töchter bleiben die »Kinder« der Eltern, besonders wenn diese sie überleben. Und der Verlust eines Jugendlichen oder Erwachsenen ist für die Eltern gewiss schmerzlicher als der Tod eines Kleinkindes. Jahrelang haben sie einen festen Platz im Leben und im Herzen der Eltern eingenommen; wenn sie herausgerissen werden, zerbricht ein ganzer Lebensabschnitt voll gemeinsamer Erlebnisse, Erinnerungen und liebgewonnener Gewohnheiten. Der emotionale Verlust einer vertrauten entfalteten Person ist größer als jener einer nur knospenhaften Existenz ohne Individualität. Bei älteren Kindern ist der Tod auch deswegen oft tragischer, weil die Hinterbliebenen damit jegliche Hoffnung auf Nachkommenschaft begraben müssen. In mehr als einem Fall stirbt damit der »Stamm« aus: Hector Berlioz, Modest Grétry, Michael Haydn, Alphonse Lamartine, Giuseppe Verdi, Leopold II., Walter Gropius, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler André Malraux, Romy Schneider u.a.m. starben einsam und »verwaist«.

Trauer ohne Tränen

Nicht allen ist es gegeben, ihre Trauer so elementar zu äußern wie Dostojewski oder Hugo. Manche tragen stumm an ihrem Leid, erstarren seelisch und verlieren den Kontakt zur Umwelt. Bei anderen weiß man nicht, ob das Schweigen echte Gefühlsscheu, Stoizismus oder Gefühlskälte ist. Der sonst so mitteilsame Michel de Montaigne verlor wenig Worte über den Tod seiner fünf Töchter, vermutlich weil es »nur« Mädchen waren, und schickte seiner Frau den Trostbrief des Plutarch.

Theodor Fontane schrieb nach dem Tode seines Sohnes: »Der Dritte, seines Todes froh / Liegt auf dem weiten Teltow-Plateau.« Dass der befremdliche Ausdruck nicht nur »des Reimes willen« zustande kam, belegt eine Tagebuchnotiz, die von geradezu bestürzender Unberührtheit des Gefühls zu zeugen scheint: »… Am Freitag schien es etwas besser, dann kam eine furchtbare Nacht (Mete pflegte ihn von Dienstag an) und am Sonnabend früh um 9 Uhr starb er. Als ich eintrat, war er eben tot. Das Begräbnis war herrlich, 4 Uhr Nachmittag, schönster Herbsttag, Exzellenzen und Generäle in Fülle. Kränze über Kränze, und die Gardeschützen gaben die drei Salven, die ihm als ›alten Krieger‹ zukamen. Er liegt nun auf dem Lichterfelder Kirchhof, einem umzäunten Stück Ackerland, und ich wünschte mir die gleiche Stelle …« Bei Effi Briests Tod offenbarte er eine ganz andere Wärme des Gefühls. Ob seine Romanfiguren ihm näher gestanden haben als der eigene Sohn oder ob der altersweise Schriftsteller seine Resignation hinter äußeren Fakten verbirgt oder neutralisiert, wer wagte es, darüber ein Urteil zu fällen?

Nach dem Tod seines einzigen Kindes und seiner Frau schrieb Lessing recht philosophisch und geistreich: »Die Freude war nur kurz. Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! Denn er hatte soviel Verstand! Soviel Verstand! – Soviel Verstand! … Glauben Sie nicht, dass die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. War es nicht Verstand, dass man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen musste? Dass er so bald Unrat merkte? War es nicht Verstand, dass er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? Freilich zerrt mir der Ruschelkopf auch die Mutter mit fort.« Wenn er dann noch hinzufügt: »Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen«, so verstehen wir, dass hier jemand in seinem Tiefsten getroffen ist, dass er aber seinen Schmerz heroisch-männlich niederkämpft. Nicht bei jedermann haben Tränen eine heilsame Wirkung.

Rabindranath Tagore zeigte äußerlich keine Trauer beim Verlust seiner drei Kinder, weil er sich schämte, vor aller Augen seinen Schmerz »zu erniedrigen«.

Igor Strawinsky verlor 1938 seine fast 30-jährige Tochter Ludmilla, deren Tragödie er hautnah am Krankenbett miterlebt hatte. Aber in seinem Konzert »Dumbarton Oaks«, das er gerade damals komponierte, findet sich keine Spur einer Trauerarbeit. Beim Tode bedeutender Persönlichkeiten schrieb er jedoch eine beachtliche Reihe von Elegien, von Rimsky-Korsakov bis Kennedy.

Thomas Mann ging 1948 sofort nach dem Freitod seines Sohnes Klaus zur »Tagesordnung« über und sagte keinen einzigen öffentlichen Auftritt ab. Offensichtlich wollte er sich nicht die Blöße geben, einem Fremden Einblick in sein innerstes Gefühlsleben zu gewähren. Die Trauer blieb seine Privatsphäre. Ihm war deutlich bewusst, was Platen so scharf und pessimistisch formuliert hat:

»Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,

Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts!«

André Malraux verlor am 23. Mai 1961 bei einem Verkehrsunfall seine beiden einzigen Söhne Gauthier und Vincent. Wenige Tage darauf nahm er an einem offiziellen Empfang bei de Gaulle teil und führte als Kulturminister den amerikanischen Präsidenten Kennedy durch die Prunkräume von Versailles, ohne ein einziges Wort über seinen Verlust zu verlieren.

 

Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang auch ein prominentes Gegenbeispiel anführen: Joe Biden, der 46. Präsident der Vereinigten Staaten, kam immer wieder auf seine persönlichen Verluste zu sprechen, auf den frühen Tod seiner Frau und seiner Tochter, besonders auf den Tod seines erfolgreichen Sohnes Joseph Robinette Beau, der am 30. Mai 2015 an einem Hirntumor gestorben ist. Am Vorabend seiner Vereidigung, am 19. Januar 2021, würdigte er dessen Verdienste und fügte hinzu: »I only have one regret. Beau is not here. Because we should be introducing him as president.« Nur allzu gerne hätte er seinem Sohn die Präsidentschaft überlassen.

Die Gräfin von Nassau-Saarbrücken mit ihren drei Kindern.

Allerdings, in einer Gesellschaft, deren Wertmesser nur Glück, Schönheit und Erfolg gelten lassen, ist Trauer eine höchst unwillkommene Erscheinung. Ihre äußeren Zeichen werden als Störfaktor und Zumutung empfunden und müssen tunlichst in die Unsichtbarkeit verbannt werden. Wer dennoch Trauer bekundet, begibt sich ins Abseits der Isolation. Bei einem Großteil der Bevölkerung scheint die Fähigkeit zu trauern oder mitzuleiden völlig abhandengekommen zu sein. Für sie ist bereits der obligate alljährliche Friedhofsbesuch zu Allerseelen oder zum Totentag eine Belastung und ein leeres Ritual. Wie sollten sie echten Anteil am Schmerz anderer, fremder Menschen nehmen? Die Trauer gehört zu jenen einsamen Grenzerfahrungen, die man nur versteht, wenn man sie selbst durchleben muss.

Das Verhältnis des modernen Menschen zum Tod, auch wenn das Todesthema durch die grausigen Berichte des Bildschirms »enttabuisiert« scheint, bleibt höchst ambivalent, und meistens geradezu unaufrichtig. Jeder ist bereit einzusehen, dass der Tod der natürliche und unabwendbare Ausgang des Lebens ist. Dennoch versuchen alle, wie Freud scharfsinnig entlarvend formuliert, den Tod »totzuschweigen, denn im Unbewussten ist jeder von seiner Unsterblichkeit überzeugt« (Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915).

Kleine Anthologie der trauernden Eltern

Die vorliegende Sammlung versucht, eine Reihe von authentischen Einzelschicksalen anhand von Dokumenten, seien es Tagebücher, Briefe, Gedichte, Romankapitel, Bildwerke oder musikalische Kompositionen, vorzustellen, die aus Anlass solch eines Verlustes entstanden sind. Es sind Berichte ohne Ausschmückung oder Wehleidigkeit, ohne psychologisierende Zergliederung oder Besserwisserei, rein faktographische Darstellungen, die für sich sprechen sollen. Jeder der chronologisch geordneten Artikel möchte gleichzeitig, obwohl er hauptsächlich auf den Verlust des Kindes und den Trauerprozess zentriert ist, auch ein knappes Lebensbild des Betroffenen vermitteln. Die Darstellung greift etwas weiter aus bei Persönlichkeiten, die zwar berühmt sind, deren Biographie aber beim Leser nicht ohne weiteres als bekannt vorausgesetzt werden kann.

Kinderfriedhof auf dem Berg Takao (Japan).

Die Auswahl der Beispiele, die auf einer breiten Recherche beruht, wurde aus verschiedenen Epochen und Ländern des abendländischen Kulturkreises – Tagore ist eine Ausnahme – mit Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert getroffen. Alle diese Fälle erschütterten das Leben der Eltern – Hofmannsthal starb zwei Tage nach dem Freitod seines Ältesten, Kaiserin Elisabeth trug Trauerkleidung bis ans Ende ihres Lebens – und wurden Anlass zu einer langen »Trauerarbeit«, ob die Trauernden nun tiefgläubige Christen waren wie Andres, Eichendorff und Rückert, oder überzeugte Atheisten wie Marx und Freud. In solch tragischen Situationen ist auch der Unterschied zwischen einem Sonnenkönig und einem Revolutionär nicht gewaltig; wenn die Axt an die Wurzeln gelegt wird, erweist sich fast jedes Vaterherz als weich und verwundbar.

Die sprachliche Vielfalt der Texte hat zur Folge, dass alle nichtdeutschen Texte in Übersetzungen aufgenommen wurden. Um dennoch einen Hauch des Originals zu vermitteln, schien es angebracht, auch eine Reihe von Kern-Zitaten in der Originalsprache einzustreuen (mit Übersetzung oder Umschreibung). Zudem bedient sich der Trauernde meist nur des schlichten Grundwortschatzes, weithergeholte Ausdrücke und Metaphern sind dem Gegenstand wenig angemessen.

Eine besondere Aussagekraft kommt dem Bildmaterial zu. Wer z.B. das große Familienportrait A. Manzonis mit seinen Kindern sieht, von denen sieben ihm im Tode vorausgingen, ermisst mit einem Blick das tragische Familienleben des gefeierten Dichters; die Aufzeichnung der »letzten Worte« Olga Janaceks, deren »Sprechmelodien« teilweise in die Oper »Jenufa« eingeflossen sind, vergegenwärtigt fast unerträglich grell die Agonie des Mädchens und die Verzweiflung des Vaters.

Vielleicht hilft es Eltern, die einen ähnlichen Verlust erlitten haben, zu erkennen, wie sich andere Menschen, sogenannte »berühmte« Menschen, ihre Schicksalsgenossen in der »Brüderschaft der vom Schmerze Gezeichneten« (Schweitzer), zu einem Ausdruck durchrangen, oft wieder neuen Halt gewannen oder sich wenigstens mit ihrem Leid abfanden. Für den verschonten oder »ungeprüften« Leser können diese Artikel ein Anlass sein, ein besseres Verständnis für die Lage und das vielleicht andersartige Benehmen der trauernden Eltern zu finden, ein Benehmen, das man ihnen leicht übel nimmt: ihre Scheu, ihr Schweigen, ihre latente Schwermut, ihr unfrohes Lachen, ihr geringes Interesse am Treiben der Welt, am Jahrmarkt der Eitelkeiten. Der neuerdings gebrauchte Ausdruck von »verwaisten Eltern« umschreibt wohl am nächsten, in Ermangelung einer adäquaten sprachlichen Bezeichnung, ihre seelische Verfassung. Das Buch möchte auch Brücken schlagen zwischen den zwei Welten, über den Abgrund hinweg, der die glücklichen Eltern von den einst auch glücklichen, aber jetzt trauernden Eltern trennt.

Paul Badde: Ungetaufte Kinder dürfen ins Paradies. 22.4.2007. https://www.welt.de/politik/ausland/article827376/Ungetaufte-Kinder-duerfen-ins-Paradies.html (Zugriff: 8.7.2021).

Ninja Charbonneau: Kindersterblichkeit: Warum sterben eigentlich Kinder?. 18.9.2020. https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/kindersterblichkeit-weltweit-warumsterben-kinder/199492 (Zugriff: 8.7.2021).

Jean Delhôtel: Avioth. Bref recueil de l’état de l’églisede Notre-Dame d’Avioth (1668). Colmar 1981.

Peter Eggenberger, Susi Ulrich Bochsler, Kathrin Utz Tremp et al.: Das mittelalterliche Marienheiligtum Oberbüren. Chilchmatt. Hefte zur Archäologie im Kanton Bern 4. 2018.

Sigmund Freund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915). Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Hugo Heller. Wien 1915.

Martin Heidegger: Le Dasein Etre-pour-la-mort et angoisse. Gallimard. Paris 1986.

Jean et Brigitte Massin: Wolfgang Amadeus Mozart. Librairie Fayard. Paris 1970.

Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Piper. München 2007.

Ginette Raimbault: Lorsque l’enfant disparaît. O. Jacob. Paris 2011.

Statistisches Bundesamt: Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland nach Geschlecht in den Jahren von 1950 bis 2060. Juli 2020. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/273406/umfrage/entwicklung-der-lebenserwartung-bei-geburt--in-deutschland-nach-geschlecht/ (Zugriff: 8.7.2021).

UNICEF: Rapport Innocenti. Firenze 2011.

MARCUS TULLIUS CICERO

Tullia war tot, vor einem Jahr gestorben, zum unbeschreiblichen Schmerz des Vaters, dem sie das Liebste auf Erden gewesen war. Max Brod. Armer Cicero, 1955

Marcus Tullius Cicero ist der berühmteste Redner, den das alte Rom hervorgebracht hat. Sein Aufstieg war das Produkt von Talent, Tüchtigkeit und Ehrgeiz. Als »homo novus«, als Aufsteiger oder Emporkömmling, der am 3. Januar 106 v. Chr. in einer bescheidenen Familie in Arpinum geboren wurde, gelang es ihm, die höchsten Ämter im Staat einzunehmen. Besonders stolz war er darauf, dass er alle Ämter zum frühestmöglichen Zeitpunkt (»suo anno«) bekleidete. Den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreichte er als Konsul, im Jahre 63 v. Chr., indem er die Verschwörung des Catilina aufdeckte und die Staatsfeinde mit großer Festigkeit unschädlich machte. Mit naiver Eitelkeit feierte der »Vater des Vaterlandes« seine Rettungstat in dem Gedicht »De consulatu«, worin er Rom dafür glücklich pries, dass es dank seines Konsulats wiedergeboren wurde: »O fortunatam natam me consule Romam!«

Dank der fast 1000 überlieferten Briefe, die er an seine Freunde schrieb – Ciceros Korrespondenz ist die umfangreichste und kunstvollste der lateinischen Literatur –, ist das Privatleben Ciceros ziemlich gut bekannt, mit Ausnahme seiner frühen Jahre, als er sich einen Namen als Gerichtsredner machte, Terentia, eine Frau aus altem und reichem Adelsgeschlecht heiratete und mit ihrer Mitgift einige Landgüter und Villen erwarb.

Tulliola deliciae nostrae

Die Forschung nimmt heute an, dass er Terentia im Jahre 77 heiratete und seine einzige Tochter Tullia am 5. August 76 geboren wurde. Cicero berichtete voller Stolz an seinen Freund Atticus, dass Tullia sehr aufgeweckt sei und schon mit fünf Jahren juristische Fachausdrücke wie »Sponsor« verwende. Alle Zeugnisse belegen, dass er diese Tochter unendlich liebte (»Tulliola deliciae nostrae« – die kleine Tullia ist unsere Freude«, schreibt er an Atticus, sie ist das »Licht seines Daseins«, die »Vielgeliebte«, und »Allersüßeste« – »suavissima«), Marion Giebel nennt die »väterliche Liebe zu Tullia eine Beziehung, die an Innigkeit in der Antike ohne Beispiel ist.« Cicero war narzisstisch in sie vernarrt, da er in ihr sein Ebenbild zu erkennen glaubte. Mit Entzücken entdeckte er bei dem »Töchterchen« dieselbe Intelligenz, dieselben Gesichtszüge, dieselbe Stimme, dasselbe Wesen. (»Quid quod … desidero filiam? … effigiem oris, sermonis, animi mei …«, berichtet er an den Bruder Quintus.) Wenn sie erkrankte, litt er Qualen (»excruciat me valetudo Tulliae nostrae«). Als sie acht Jahre alt war, verlobte er sie mit Calpurnius Piso. (»Tulliolam Pisoni despondimus«, ad Att. 1,3). Die Heirat fand fünf Jahre später statt, in einem Alter, das in Rom nicht unüblich war. Als Piso nach wenigen Jahren starb, litt Tullia sehr unter diesem Verlust. Nach dem Willen ihres Vaters heiratete sie ein Jahr später Furius Crassipes, der dem hohen Adel angehörte und über großen Reichtum verfügte. Cicero schätzte vor allem die ausgedehnten Gärten seines Schwiegersohnes und empfing dort seine Gäste. Diese zweite Ehe, die sich als wenig glücklich erwies, wurde nach zwei oder drei Jahren durch eine Scheidung wieder gelöst.