Requiem für ein Kind

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Die ungetauften Kinder

Andererseits jedoch erwuchs gerade aus der christlichen Glaubenssituation ein besonders schmerzliches Problem bei Totgeburten oder beim Tod ungetaufter Kinder. Da diese Kinder nicht vom Makel der Erbsünde reingewaschen waren, konnten sie, gemäß der offiziellen Lehre der Kirche, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts vom Bischof und Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430) formuliert und von der Synode von Karthago 418 verfestigt wurde, der ewigen Seligkeit nicht teilhaftig werden. Sie gelangten in eine Art »Vorhölle« (»Limbus infantium«), in welcher sie von der ewigen Anschauung Gottes ausgeschlossen waren. Deshalb durften sie nicht einmal in »geweihter Erde« begraben werden. Die Kinder wurden meist heimlich nachts außerhalb des Friedhofs beigesetzt. So weinte man weniger über den physischen Verlust der Kinder selbst als über die Gefährdung ihres Seelenheils. Die Eltern fühlten sich schuldig, wenn Kinder ungetauft dahinstarben.


Die Familie van Miniau mit ihren 31 Kindern, die alle im August 1526 starben

Die brisante theologische Diskussion über das Los der ungetauften Kinder zog sich jahrhundertelang bis 2005 hin, als Papst Benedikt XVI. eine Kommission von Theologen einsetzte, die zur Auffassung gelangten, dass »die Seelen nicht getaufter, gestorbener kleiner Kinder direkt ins Paradies kämen« (2007).

Im Mittelalter führte die seelische Not der Eltern zu mehreren Auswegen oder »Ersatzlösungen«, die eher der populären Religiosität als der amtlichen Lehre der Kirche entsprachen. So fand man bei vielen archäologischen Grabungen in unmittelbarer Nähe der mittelalterlichen Kirchen Gräber von Tot- und Frühgeborenen, die man in der einschlägigen Literatur als »Traufkinder / Traufenkinder« bezeichnet. Diese ungetauften Kinder wurden von ihren unglücklichen Eltern oder Angehörigen möglichst nahe an den Kirchenmauern und beim Chor bestattet, in der Hoffnung oder im festen Glauben, dass das Regenwasser, das von der Traufe am Dach der Kirche herunterrann, bei ihnen im Laufe der Jahre die Taufe ersetzen könne. Das immer wieder herabtropfende oder fließende Wasser sollte eine Art »Nottaufe« darstellen.

Noch seltsamer und befremdlicher wirkt heute das hochmittelalterliche und frühneuzeitliche Phänomen der »Auferweckungsheiligtümer« (»sanctuaires à répit«), die sich besonders in Süddeutschland, Frankreich, der Schweiz und Belgien hundertfach entwickelten; eine »markante Erscheinung des christlichen Europas«, »un fait religieux et culturel majeur de l’Europe chrétienne«, wie Jacques Gélis 2006 urteilt. Diese Praxis erscheint zuerst im 12. Jahrhundert. Ab dem 14. Jahrhundert machten sich unzählige Eltern mit ihrem totgeborenen Kind auf den Weg zu einem Marienheiligtum in ihrer Nähe, wo sie den kleinen Leichnam vor einem Marienbild ausstellten in Erwartung eines »Wunders«, das heißt, eines Lebenszeichens. Um den Leichnam herum stellte man Kerzen auf und versuchte auch bisweilen mittels glühender Kohlen das Kind aufzuwärmen. Auf den Mund des Kindes legte man eine leichte Feder. Wenn diese sich bewegte, glaubte man, dass der Atem wieder einsetze, oder wenn die Wangen sich leicht röteten, wurde auch das als Lebenszeichen gedeutet, und das Kind wurde sofort getauft. Nachher verfiel es dann endgültig in den Todesschlaf, und die Eltern begruben es auch oft um das Heiligtum herum.

Bei archäologischen Ausgrabungen in den letzten Jahrzehnten fand man überall Hunderte von Kinderskeletten. Das meistbesuchte Heiligtum der frühen Neuzeit war das Kloster Ursberg in Süddeutschland. Die Zahl der dort getauften totgeborenen Kinder wird auf 24 000 geschätzt. Das Marienheiligtum von Oberbüren in der Westschweiz wurde 1992–1997 von Spezialisten exemplarisch untersucht, und die akribischen Ergebnisse der Ausgrabungen, die 247 Kinderskelette zutage förderten, in einer umfassenden Publikation 2018 zugänglich gemacht.

Ein gut erhaltenes Architektur-Zeugnis der populären Wiedererweckungspraxis stellt das Marienheiligtum im idyllisch gelegenen Wallfahrtsort Avioth in der altluxemburgischen Grafschaft Chiny dar. Auch hier wurde die Muttergottes als »Notre-Dame de Consolation« jahrhundertelang von den unglücklichen Eltern angefleht, ihren Kindern für eine kurze Zeit das Leben wiederzuschenken. Der Glaube an diese wundertätige Vermittlung Marias ließ im 13. und 14. Jahrhundert eine prachtvolle gotische Kirche erstehen, ein wahres Juwel der mittelalterlichen Architektur, mit einer einmaligen »Recevresse«. Hier konnten die dankbaren Eltern ihre Gaben niederlegen, indem sie gewöhnlich das Gewicht des Kindes in Korn oder Wachs aufwogen. Von weit und breit strömte man mehrere Jahrhunderte lang zur »Notre-Dame de la Consolation«. In einem Register wurden alle Wunder schriftlich festgehalten, u.a. vom Chronisten Jean Delhôtel, der zwischen 1625 und 1673 genau 135 »Wunder« gewissenhaft registrierte.

Die letzten »wunderbaren« Nottaufen in Avioth fanden kurz vor der Französischen Revolution statt, bis der aufgeklärte Weihbischof von Trier Johann Nikolaus Hontheim, der als »Febronius« in die Kirchengeschichte eingegangen ist, 1786 die Wallfahrten und die Taufen unter Strafe verbot. Die Haltung der katholischen Kirche zu den Wundertaufen, die für die Heiligtümer immer lukrativ waren, blieb lange Zeit ambivalent. Einige religiöse Orden und der lokale Klerus bedienten sich nur allzu gerne des reichlichen Segens der »Aufschubwunder«. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts, unter Papst Benedikt XVI., änderte sich die offizielle Haltung der katholischen Kirche gegenüber den ungetauften Kindern – und auch gegenüber der seelischen Not der trauernden Eltern. »Ungetaufte Kinder dürfen ins Paradies«, titulierte etwas reißerisch am 22. April 2007 die angesehene deutsche Tageszeitung »Die Welt«.

Die Kindersterblichkeit in früheren Jahrhunderten

In der Sankt-Nikolaus-Kirche in Gent hängt ein seltsames Gemälde: es stellt das Ehepaar Olivier van Miniau und Amelberga Stangen mit ihren 31 Kindern dar. Bei seinem Einzug in die Stadt war Kaiser Karl V. auf den wackeren Handwerker mit seiner ungewöhnlichen Kinderschar aufmerksam geworden und hatte ihm Hilfe bei der Erziehung zugesichert. Bereits einige Monate später, im August 1526, wurden alle 31 Kinder von einer Seuche dahingerafft. Die Eltern folgten ihnen unmittelbar in den Tod. Sicher ein Extremfall von Kinderfreundlichkeit und gehäufter Verlusttragik, aber nicht untypisch für diese Zeit.

Der junge Albrecht Dürer (1471–1528) musste erleben, wie fünfzehn seiner achtzehn Geschwister in niedrigem Alter dahinstarben. Der Stich, den er von seiner ausgemergelten Mutter im Alter von 63 Jahren mit starkem Realismus anfertigte, dokumentiert drastisch die Spuren, welche solch eine Geburtenhäufigkeit in den Gesichtszügen einer Frau hinterließ. Fast zur selben Zeit und am gleichen Ort musste Hans Sachs (1494–1576), der Held der »Meistersinger von Nürnberg« von Richard Wagner, den Verlust aller seiner sieben Kinder beklagen.

Es waren Zeiten, in denen man den Kindertod als eine »normale« Erscheinung hinnahm und sich damit abfand, dass etwa 40% der Kinder in jungen Jahren starben. Noch 1762 stellte Jean-Jacques Rousseau in seinem »Emile« fest: »Von allen Kindern, die geboren werden, erreichen nur die Hälfte das Jugendalter.« Die hohe Kindersterblichkeit wurde meist durch eine entsprechende Geburtenfreudigkeit aufgewogen. Der Verlust wurde in kurzen Abständen ersetzt, alle Kinder, so tröstete man sich, hätte man sowieso nicht ernähren oder erziehen können. Die Nachgeborenen erhielten oft die Namen der Frühverstorbenen, für die Kontinuität des Geschlechts oder des Familienbetriebes war meistens mehrfach gesorgt, »überzählige« Nachkommen fanden ihr Auskommen als Dienstpersonal, als Soldaten oder als Mönche und Nonnen.

Das Unglück wurde durchwegs als eine Prüfung angesehen oder als göttlicher Wille. Zwar gibt es auch Zeugnisse der Auflehnung gegen die unerbittliche Macht des Todes, u.a. das berühmte »Streitgespräch« des Johannes von Tepl, »Der Ackermann aus Böhmen« (1400), aber es endet mit der Unterwerfung unter den Willen Gottes. Dass ein früher Kindertod für die Eltern »unannehmbar«, »empörend« oder »ungeheuerlich« (Sigmund Freud) sei, das kommt in Dokumenten vor dem 19. Jahrhundert selten zum Ausdruck. Zu sehr überwog überall das Gefühl, dass man Gott nur »zurückgebe«, was er »geschenkt« habe. Und entsprechend dämpfte man auch Schmerz und Trauer. Konnten sie nicht als ein vermessenes Richten mit Gott gedeutet werden?

Bach hatte zwanzig Kinder, von denen er elf begraben musste; es ist nicht bekannt, dass er viel Aufhebens von einem solchen Verlust machte. Im Korpus seiner über tausend Werke gibt es keine Kantate, keine Motette, die er dem Andenken eines verstorbenen Kindes gewidmet hätte. Als tiefgläubiger Christ war es für ihn eine fraglose Selbstverständlichkeit, dass »Gottes Zeit die allerbeste Zeit« sei; zudem verblieben ihm noch neun Kinder, von denen vier musikalisch genial begabt waren.

Auch Mozart, von dessen sechs Kindern vier sehr früh wieder starben, nahm diese Verluste anscheinend – oder scheinbar? – gelassen hin. Seine »Prager Sinfonie« schrieb er im Juni 1788 in den Tagen, als seine Tochter Theresia Maria Anna im Sterben lag, man könnte jedoch bestenfalls die lange Moll-Einleitung als eine Spur seiner Trauer deuten. Aber die berühmte 40. Sinfonie in g-Moll KV 550, die genau einen Monat später entstand, wird als »das persönlichste Drama Mozarts« (Massin) angesehen. Der bekannte französische Musikologe weist hin auf den »unbarmherzig strengen« Rhythmus des Allegro-Satzes, auf die »unerbittliche« Verdüsterung im Andante, auf die »Verzweiflungsflut« des Menuetts und das »Angstklima« des Finalsatzes; starke emotionale Kennzeichen, die er als Symptome einer tiefen Depression deutet und die er in Zusammenhang mit dem kürzlichen Tod der Lieblingstochter Theresia Maria Anna bringen möchte.

 

Goethe begrub vier seiner fünf Kinder, wovon er nie sprach und was in den meisten Biographien nicht einmal beiläufig erwähnt wird, obwohl er sich beim vierten Verlust auf dem Boden wälzte und sich mehrere Wochen einschloss. Nur der Tod seines erwachsenen Sohnes August 1830 in Rom löste eine starke öffentliche Erschütterung aus, die ihn an den Rand des Todes brachte. Der spanische Hofmaler Francisco de Goya (1746–1828) verlor dreiundzwanzig seiner vierundzwanzig Kinder, lediglich sein Sohn Xavier überlebte. Aber das Thema des Kindersterbens taucht nicht auf inmitten der schrecklichen Visionen der 80 »Caprichos« und seine Verluste werden auch von den Biographen kaum erwähnt.

Wichtige politische Folgen hatte die Tragik, dass die englische Königin Anna Stuart ihre sechzehn Kinder vor dem Alter von zehn Jahren verlor. Bei ihrem Tod im Jahr 1714 ging die englische Krone an die Hannover-Dynastie über. Ihr Gegenspieler, Ludwig XIV., hätte 1712/13, nach dem plötzlichen Tod dreier Dauphins, beinahe das Auslöschen der Capetinger-Dynastie erlebt. Wer die Kapuziner-Gruft in Wien besucht, ist betroffen von den vielen Kindersärgen, welche das Grabmal der Kaiserin Maria-Theresia umgeben.

Das Kindersterben war damals ein so allgemein übliches Phänomen, dass es nur selten Anlass zu einer starken Erschütterung bot. Jedenfalls gibt es wenige Künstler, die sich das Recht herausnahmen, ihren persönlichen Schmerz in einem Werk zu verewigen. Aber sie setzten ihr ganzes Talent ein, um Traueroden und -kantaten für ihre verstorbenen Fürsten zu schreiben. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Michael Haydn 1771 sein ergreifendes Requiem in c-Moll für den Verlust seiner einzigen Tochter komponierte; als aber sein Brotherr, der Fürstbischof von Schrattenberg, kurze Zeit später starb, wurde es dem hohen Herrn offiziell gewidmet und gelangte auf diese Weise zur Aufführung.

Der Kindertod als persönliche Tragik

Seitdem die Fortschritte von Hygiene und Medizin dem Kindersterben weitgehend Einhalt geboten haben, ist auch die Geburtenrate entsprechend zurückgegangen. Das Einzelleben hat dadurch eine nie dagewesene Aufwertung erfahren. Seit der Entwicklung der romantischen Gefühlskultur misst man jedem einzelnen Kind eine unverwechselbare und unersetzliche Bedeutung zu. Mit der Abnahme der Sterbefälle wächst zugleich ihre Tragik. Was einst »sors communis« war, ein Schicksal, das man mit fast allen Familien teilte, wird jetzt zum tragischen, schicksalhaften Ausnahmefall, der von den Betroffenen doppelt schmerzlich empfunden wird. »Das Unglück geschah auch mir allein«, klagt Rückert in einem seiner 446 »Kindertotenlieder«. Stefan Andres schreibt: »In den ersten Tagen und Wochen, da kam es mir so vor, als ob noch nie Eltern ein Kind hätten begraben müssen.« Der Verlust kann zum Trauma werden, der den Rest der Existenz überschattet und verdüstert. Jetzt gilt zusehends der berühmte Vers Lamartines: »Ein einziges Wesen fehlt, und alles ist wie ausgestorben.«

Kindergräber von 1581

In der modernen Kleinfamilie spitzt sich die Krise tragisch zu. Der Tod des einzigen Kindes führt zur Identitätskrise und zum Verlust des Lebenssinns. Plötzlich ist alles vorbei. Mit dem Kinde stirbt nicht nur die Zukunft des Kindes, sondern auch gewissermaßen die »Unsterblichkeit« der Eltern, deren Angst vor dem Tod jetzt panisch aufbricht. Häufige Begleiterscheinungen sind Dauerstress, Depressionen, Misstrauen, Hypochondrie, Wirklichkeitsverlust oder Wirklichkeitsflucht (Drogen Alkohol, Spiritismus), höhere Anfälligkeit für Krankheiten und Unfälle, Selbstmorde.

Sehr oft kommen Schuldgefühle hinzu, Selbstvorwürfe, falsch gehandelt, etwas Wichtiges unterlassen zu haben. Cicero bekennt sein »summa mea culpa«, Grétry verdammt seinen Künstlerehrgeiz, den er für den Verlust seiner drei Töchter verantwortlich macht, Dostojewski macht sich schreckliche Vorwürfe. Mallarme verflucht sein »Blut«, das seinem Sohn den Tod gebracht hat, Tagore klagt sich an wegen der Kinderheiraten. Nicht selten bedauern Eltern lebhaft, dass sie nicht anstelle ihrer Kinder gestorben sind. Schuldzuweisungen an den Ehepartner sind nicht selten, sodass es oft zur Entfremdung oder Trennung der Eltern kommt. Nach dem plötzlichen Tod seiner beiden Söhne – der eine war aus dem Fenster gestürzt – trennte sich Saint-Saëns von seiner Frau. Die Änderung der Wohnung gehört zu den häufigen Abwehrreaktionen der trauernden Eltern. Die Last der Erinnerung an quälende Einzelheiten, die sich in diesen Wänden abgespielt haben, wird auf die Dauer unerträglich und verhindert jeden Abstand zum Verlust. So empfanden es Dickens, Dvorak, Mahler, Metternich, Marx, Verdi und viele andere mehr.

Paradox erscheint, dass auch einzelne Betroffene, wie Victor Hugo und Alma Mahler, die traumatische Leere des Verlustes durch verstärkte sexuelle Kontakte und »erotisch-lüsterne Impulshandlungen mit Zwangscharakter« (G. Raimbault), bewusst oder unbewusst, zu überwinden trachteten.

Die Flucht in die Arbeit gehört zu den typischsten Versuchen, den Alptraum zu bannen. Cicero schuf fast sein ganzes philosophisches Werk nach dem Verlust der Tochter Tullia. Nach dem plötzlichen Tod seines einzigen Sohnes stürzte sich Goethe in sehr anstrengende Studien und vermeinte so, den Schmerz gewaltsam zu unterdrücken. Ein lebensgefährdender Blutsturz war die Folge. Ähnlich reagierte Pasteur nach dem Tod seiner Tochter Cécile. In aufreibender Forschungsarbeit glaubte er, »die einzige Ablenkung von so großen Schmerzen« zu finden.

Nicht selten bewirkt der Tod eines Kindes eine schockartige Reaktion. Hugo von Hofmannsthal starb am Begräbnistag seines Sohnes. Nach dem wechselvollen Überlebenskampf und dem Tod seiner Lieblingstochter verlor Charles Darwin endgültig den religiösen Glauben und entwickelte seine Lehre vom »Struggle for life«. Die Erschütterung über den frühen Tod seiner beiden Kinder Blandine und Daniel trug entscheidend dazu bei, dass Liszt zum »sündigen Büßer« wurde, sich 1865 in Rom zum Abbé weihen ließ und fortan vorwiegend verinnerlichte geistliche Musik schuf. Der Tod des Thronnachfolgers wurde zum »Desaster« für den belgischen König Leopold II., der in einer rastlosen und megalomanen Tätigkeit eine »Kompensation« für seinen Kummer suchte. Die private Kolonisierung des Congo wurde »zum einzig würdigen Memorial für seinen im Alter von neun Jahren verschiedenen Sohn.« (Patrick Roegier)

Für die Frauen bieten sich die Abwehr- und Fluchtstrategien selten im gleichen Ausmaß dar. Da ihre Bindung an das Kind biologisch-emotionaler, fast viszeraler Natur ist, empfinden sie die gewaltsame Trennung auch entsprechend schmerzlicher. »Was dem Vater bis an die Knie geht, geht der Mutter bis ans Herz«, lautet ein altes Sprichwort. Margarete Mitscherlich drückt denselben Sachverhalt in der Sprache unserer Zeit aus: »Mit dem Verlust eines Kindes tragen Mütter … einen Teil ihres Selbst zu Grabe, erleiden einen empfindlichen Wertverlust, der einer seelischen Amputation gleichkommt. Im schlimmsten Fall wird Trauer zur Trauerfalle, zum monotonen Kreisen um die Trauer, zum Gefangensein im totalen Selbstverlust.«

Immerhin, manche Mütter haben versucht, den Schlag aktiv zu bewältigen, nicht nur Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, Mascha Kaléko und Else Lasker-Schüler, sondern auch »ungeniale« Ehefrauen wie Dorothee Andres, Anna Dostojewski, Alma Mahler und Luise Rückert haben in ergreifenden Darstellungen ihre Trauerarbeit dokumentiert. Bettina von Brentano wurde nach dem Tod ihres Sohnes Kühnemund, der 1835 bei einem Bad in der Spree umkam, zum »Anwalt der Armen und Unglücklichen, der Unterdrückten und Verfolgten«. Die »Schlüsselerfahrung« des eigenen Leides ließ sie »herzzerreißend … auch das schwere Leid der anderen« mitfühlen (Brief an den König von Preußen, 1846).

Kindergräber


Das »Schengener Kindchen«

Wer die Gräberzeilen eines Friedhofs durchwandert und die Lebensdaten der Epitaphen auch nur flüchtig liest, kann etwas von der Häufigkeit und der Tiefe dieser Familientragödien ahnen. Die Denkmäler sind meist anders, ausdrucksreicher, pathetischer als das schlichte Kreuz oder die glatte Marmorplatte. Sie tragen oft Abbildungen der Begrabenen oder allegorische Szenen, in denen die Engelsflügel ein übliches Attribut sind. Vielfach scheinen sie dem »Andenken eines Engels« gewidmet. Kindergräber werden mit größerer Sorgfalt und Innigkeit gepflegt, niemand besucht häufiger ein Grab als »verwaiste« Eltern. Solange sie leben oder ihre Füße sie tragen, sind sie ängstlich bemüht, um zu verhindern, dass »schon ernstes Moos« die »frühen Gräber« bewächst, wie Klopstock so empfindsam klagt.

In früheren Zeiten wurden die Kinder auch mancherorts an privilegierter Stelle beigesetzt, in geschlossenen oder geweihten Räumen. Unerträglich war für die Eltern die Vorstellung, dass der wehrlose Leichnam ihres Kindes »bösen Geistern« ausgeliefert oder einfach den Unbilden der Jahreszeiten ausgesetzt sei. Die Nähe des Altars und der Heiligenreliquien schenkte Schutz und Geborgenheit. Ein aufschlussreiches Beispiel unter zahlreichen anderen liefert das kleine luxemburgische Moseldorf Schengen, das durch den Vertrag über die Abschaffung der europäischen Grenzkontrollen 1985 zu unverhoffter Berühmtheit gelangte. Während der napoleonischen Zeit rügte der Geistliche in einer Klageschrift den »ordnungswidrigen« Brauch der Schengener, alle Kinder in der Kirche zu begraben, obwohl der Friedhof sich unmittelbar neben der Kirche befand – »… contre le bon ordre tous les enfants furent enterrés dans l’interieur de l’église.« – Der Präfekt des Departements Lacoste verhängte daraufhin ein strenges Verbot, und die Schengener mussten sich fügen, zähneknirschend. Kurze Zeit darauf erwirkten sie die Versetzung des missliebigen Geistlichen. Erhalten geblieben ist ein bedeutsamer Kindergrabstein aus dem Jahr 1616. Die sehr früh verstorbene Anna-Appolonia von Hous wird als kraushaariges Wickelkind dargestellt, umgeben von Familienwappen und geflügelten Engelsköpfen. Seit vielen Generationen umspinnt eine fromme Sage das »Schengener Kindchen«: Sofort nach seiner Geburt habe das Kind sprechen können, es habe seine Eltern angefleht, unverzüglich getauft zu werden und sei bald darauf »in Gott verschieden«.

Heute belegen auf manchen Friedhöfen die Frühverstorbenen eigene Grabfelder. Buntes Spielzeug erinnert an das harmlose Dasein der Kinder, die um das reife Leben betrogen worden sind. Dennoch, in den meisten Fällen künden nur die nackten Zahlen und Lettern der Epitaphen von den außergewöhnlichen Schicksalsschlägen. Sie überlassen es der Vorstellungskraft des Besuchers, sich das unsichtbare und unbekannte Schicksal der Betroffenen, der Toten wie der Trauernden, auszumalen.

Wie ein schöpferischer Mensch von einem Kinderfriedhof berührt und inspiriert werden kann, das bezeugt der französische Komponist Jérémie Rhorer (*1973), der 2005/2008 das Klavier- und Orchester-Werk »Le Cimetière des enfants« (»Der Kinderfriedhof«) geschrieben hat: »Die Idee zum ›Kinderfriedhof‹ ist mir in Venedig am Allerheiligenfest gekommen. Ich begab mich auf die Isola San Michele, auf den Insel-Friedhof, wo Igor Strawinsky ruht. Bei der Rückkehr verirrte ich mich in jenen Teil, der den Kindern gewidmet ist. Ihre Fotos, die auf den Gräbern erstarrt sind, haben mich erschüttert, und ich habe mir die Geschichte dieser geopferten Kinder ausgemalt, ihre Träume, ihre Augen, und ihren vergeblichen wie tragischen Kampf gegen das Schicksal.« (September 2005)