Requiem für ein Kind

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Im Schatten des Vaters

Nach drei Jahren Gymnasium studierte August, »vom Vater ferngelenkt«, Jura in Heidelberg und Jena. Als die deutsche Jugend sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon erhob, verbot Goethe seinem Sohn die Teilnahme. August blieb stets in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Vater, dessen geistige Größe ihn zu stark überragte und fast keine Selbstverwirklichung des Sohnes ermöglichte. Als ziemlich schwache Persönlichkeit schlug er die Beamtenlaufbahn ein und wurde, dank der väterlichen Protektion, Kammerassessor, Hofjunker, Kammeradjunkt, Kammerrat und schließlich, im Jahre 1823, Geheimer Kammerrat. Als praktischer, gewissenhafter und ordnungsliebender Kanzleibeamter war er sehr hilfreich, um Goethes Akten und Sammlungen zu ordnen. August bildete auch ein gesundes Gegengewicht zum ziemlich ungeordneten Dasein seiner Mutter, die durch ihre Vergnügungssucht, ihre Tanzlust und ihre laute Trinkfreude für manchen Ärger im Hause und in der Öffentlichkeit sorgte.

Nach dem Tode Christianes im Jahre 1816 wurde er zur wichtigsten Stütze in Goethes Dasein, der ihn folgenderweise beschreibt: »Helfer, Ratgeber, ja einzig haltbarer Punkt in dieser Verwirrung.«

August heiratete im Juli 1817 Ottilie von Pogwitsch, eine ebenso intelligente wie exaltierte und kapriziöse Frau aus verarmtem Adelsgeschlecht, das erst mit dieser Verbindung einverstanden war, als die »plebejische« Christiane das Zeitliche gesegnet hatte. Zu ihrem Schwiegervater, den sie verehrte, gewann sie ein herzliches Verhältnis, das pedantisch-phlegmatische Wesen ihres Mannes hingegen – sowie auch sein Hang zur Trunksucht – führten zu einer allmählichen Entfremdung der Ehepartner. Da Goethe dem jungen Paar eine bequeme Wohnung im Dachgeschoss eingerichtet hatte, musste er mehr als einmal Zeuge der lautstarken, turbulenten Eheszenen werden. Kleinlaut verschloss er sich in seinen Arbeitsräumen, bis der Sturm sich legte. Dass die Wut des vereinten Ehepaars sich auch einmal gegen ihn selbst richten konnte, erlebte er 1823, als August und Ottilie sich entschieden seinem Heiratsprojekt mit der 19-jährigen Ulrike von Levetzow widersetzten. Der Sohn, der auch sein Erbe gefährdet sah, drohte, mit seiner Familie nach Berlin zu ziehen.

Ottilie gebar drei Kinder: Walter (1818), Wolfgang (1820) und Alma (1827) und gab Goethe die willkommene Gelegenheit, sich als vorzüglicher Großvater zu bewähren. Alle drei Enkelkinder starben übrigens, ohne Nachkommen zu hinterlassen, so dass Goethes Geschlecht schon vor 1900 erloschen war.

Die Italienreise

»Wie gelähmt von der väterlichen Übergröße, entwickelte er (August) nie die Aktivitäten, die ihn (vielleicht) zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit hätten bringen können.« (K.O. Conrady) Nur in seinem letzten Lebensjahr unternahm er zwei Befreiungsversuche, einen poetischen und eine große Reise. In Ottiliens Zeitschrift »Chaos« veröffentlichte er ein Gedicht, in dem er gegen die Bevormundung, gegen das »Gängelband«, aufbegehrte:

»Ich will nicht mehr am Gängelbande

Wie sonst geleitet seyn,

Und lieber an des Abgrunds Rande

Von jeder Fessel mich befrein …«

Konsequenter – und leider auch tragischer – war der zweite Versuch, größere Selbstständigkeit zu gewinnen: die große Italienreise, zu der er im April 1830 aufbrach. Der Vater, der ihm 2000 Taler zur Verfügung stellte, hatte ihn sogar lebhaft dazu ermuntert und erwartete regelmäßig Bericht von den Eindrücken seines Sohnes. Er überhäufte ihn mit guten Ratschlägen: »Die Hauptsache bleibt, daß du von fremden Gegenständen und von fremden Menschen berührt werdest … Deine Absicht sei, eine große Welt in Dich aufzunehmen und jede in Dir verknüpfte Beschränktheit aufzulösen.« (29. Juni 1830) »Ich freue mich schon auf alle Fortschritte im Guten und Heilsamen.« (5. Juli).

August reiste mit den Schriften seines Vaters im Kopf und erlebte nur, um seine Eindrücke in tagebuchartigen Briefen festzuhalten, die er seinem Vater wie ein Tagespensum nach Weimar schickte. Seine Briefe lagen bis 1999 unentziffert im Weimarer Archiv und wurden erst dann transkribiert und auszugsweise in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« veröffentlicht. Sie dokumentieren, wie schwierig es ist, aus dem Schatten eines großen Vaters herauszutreten. Vom Comer See berichtete August pflichtgetreu nach Weimar: »Hier fand man alles, was in Ihrem Gedicht ›Kennst Du das Land?‹ so schön ausgedrückt ist, weiter brauche ich nichts zu sagen.«

Am 1. August schrieb August aus Spetia: »Sie werden sich wundern, daß Sie Brief an Brief von mir erhalten! Doch es ist mein einziger Trost, Ihnen zu schreiben, und immer liegt ein Blatt auf dem Tische an welchem ich schreibe wenn trübe Gedanken kommen wollen.«

Der Brief aus Rom vom 16. Oktober wirkt wie eine Bilanz und ein Abschied: »Ich sitze in einem kleinen Zimmerchen am Caminfeuer und erfreue mich der Vergangenheit, wie der Zukunft. Ich habe Italien gesehen und genossen … Bis jetzt war ich so unschuldig wie das Kind im Mutterleibe. Doch sehe ich, daß es überall Toll gegangen, da man aber keine Actio in Distanz hat so kann man auch nicht helfen! Deßwegen verfolge ich meine Zweke, Italien zu sehen und kennen zu lernen, ich hoffe es gelingt mir und ist für meine ganze künftige Existenz sehr wichtig. Menschenkenntniß und höhere Kunst- und Naturbildung sind etwas Großes. Es ist das erste mal, im 40t Jahre, daß ich zum Gefühle der Selbständigkeit gekommen, und unter fremden Menschen Lazaronis, sogar Räubern, Barcaroles und andern, auch vornehmen Gesindel. Man wollte mich heranziehen, Spiel, Mädchen, Frauen. Die drei letzteren Dinge hatte ich verschworen. So kehre ich frey und frank zurük, wenn ich auch bei andern Gelegenheiten etwas mehr Geld ausgegeben als andere. Kunst, Natur- und Volks-Leben kennen zu lernen war mein Zwek und den habe ich soweit meine Kräfte reichen, erreicht. ›Vieler Menschen Städte gesehen und Sitten gelernet.‹ Und so will ich heute diesen Brief schließen und wünschen, daß es Ihnen, dem ich dieß Glük danke so wie allen den Uebrigen wohl ergehe. Leben Sie wohl und grüßen Sie Frau, Kinder, Verwandte u. Freunde. Ihr treuer Sohn A. v. Goethe.«

Dieser Brief, einer der letzten, die August pflichtschuldig nach Weimar schrieb, entsprach sicher voll den optimistischen Erwartungen, die der Vater in diese Bildungsreise gesetzt hatte. Auch Goethe hatte einst euphorisch geschrieben, dass er in Rom zum ersten Male zu sich selbst gefunden habe und als ein anderer Mensch zurückkehren werde.

Mit einem gewissen Vaterstolz berichtete er an Wilhelm von Humboldt: »Mein Sohn nimmt nun schon seit sechs Monaten an der Fülle teil, die, auf der unschätzbaren Erdzunge, Natur und Jahrhunderte an Leben gehäuft und zerstört, an Künsten erbaut und eingerissen, an Menschenschicksalen, Nationalität und Persönlichkeiten auf das wunderbarste durcheinander gewürfelt haben.«

Nemo ante obitum beatus – »Prüfungen erwarte bis zuletzt«

Jedoch, als Goethe den Brief Augusts in Händen hielt und sich über dessen glückliche Entwicklung freute, war das Unheil schon in Rom über den Sohn hereingebrochen: August lag bereits auf dem protestantischen Friedhof, bei der Cestiuspyramide, begraben, unweit von Keats und Shelley. In der Nacht vom 26. zum 27. Oktober war er im Hause Kestners, des Sohnes von Charlotte Buff, der hannoverscher Gesandtschaftssekretär beim päpstlichen Stuhl war, durch einen Schlaganfall (oder Meningitis) plötzlich gestorben. Auf den Grabstein schrieb man lakonisch: GOETHE FILIUS. Damit war alles gesagt über das Schattendasein Augusts.

Die Todesnachricht wurde nach Weimar durch einen Brief Kestners an den Kanzler von Müller übermittelt. Durch diesen erhielt Goethe am 10. November die traurige Mitteilung. In einem Brief an Rochlitz berichtet der Kanzler, wie der 81-jährige Dichter auf die Hiobsbotschaft reagierte: »Sie können leicht ermessen, welche bittere Aufgabe es für mich war, solche Schreckenskunde dem ehrwürdigen Vater beizubringen! Doch er empfing sie mit großer Fassung und Ergebung. ›Non ignoravi, me mortalem genuisse‹, rief er aus, als seine Augen sich mit Thränen füllten.« Im Augenblick des höchsten Schmerzes nahm Goethe, angesichts des Unaussprechlichen, seine Zuflucht zu einer lateinischen Sentenz: »Ich wußte wohl, daß ich einen Sterblichen gezeugt hatte.«

Das erste schriftliche Zeugnis, das seine Erschütterung dokumentiert, ist sein Brief an Zelter, dem er selbst erst sechs Wochen früher sein Beileid ausgedrückt hatte zum Tod seiner jüngsten Tochter Clara – eines der zwölf Kinder, von denen Zelter zehn begraben musste. Wieder fällt auf, dass Goethe mit einem klassischen Zitat – ›Niemand kann vor dem Tode als glücklich gepriesen werden‹ – die Schwelle des Schweigens überwindet. Am 21. November schrieb er: »›Nemo ante obitum beatus‹ ist ein Wort, das in der Weltgeschichte figurirt, aber eigentlich nichts sagen will. Sollte es mit einiger Gründlichkeit ausgesprochen werden, so müßte es heißen: ›Prüfungen erwarte bis zuletzt‹.

Dir hat es, mein Guter, nicht daran gefehlt, mir auch nicht, und es scheinet, als wenn das Schicksal die Überzeugung habe, man seye nicht aus Nerven, Venen, Arterien und andern daher abgeleiteten Organen, sondern aus Draht zusammengeflochten.

Dank für Deinen lieben Brief! Hatt ich Dir doch auch einmal eine solche Hiobsbotschaft als gastlichen Gruß einzureichen. Dabei wollen wir es denn bewenden lassen.

Das eigentliche Wunderliche und Bedeutende dieser Prüfung ist, daß ich alle Lasten, die ich zunächst, ja mit dem neuen Jahre abzustreifen und einem jünger Lebigen zu übertragen glaubte, nunmehr selbst fortzuschleppen und sogar schwieriger weiter zu tragen habe.

 

Hier nun allein kann der große Begriff der Pflicht uns aufrecht erhalten. Ich habe keine Sorge, als mich physisch im Gleichgewicht zu bewegen; alles andere gibt sich von selbst. Der Körper muß, der Geist will, und wer seinem Wollen die notwendigste Bahn vorgeschrieben sieht, der braucht sich nicht viel zu besinnen.

Weiter will ich nicht gehen, behalte mir aber doch vor, von diesem Punkte gelegentlich fortzuschreiten. Meine herzlichsten dankbaren Grüße an alle so treulich Teilnehmende.«

Der Brief enthält nur Umschreibungen, ein Uneingeweihter könnte den Sachverhalt höchstens erraten. Der Sohn bleibt unerwähnt.

Dasselbe bewusste Ausweichen, ja Verschweigen, berichtet Eckermann, der Goethe am 23. November besuchte. Er ging zuerst zu Augusts Frau. »Ich fand sie bereits in tiefer Trauerkleidung, jedoch ruhig und gefaßt, und wir hatten viel gegeneinander auszusprechen.« Ottilie war nicht verzweifelt wegen des jähen Todes ihres Ehemannes. An Adele Schopenhauer schrieb sie: »Ich beklage mehr die Art unseres Zusammenlebens wie seinen Tod … wie waren gewiss beide grenzenlos unglücklich.« Am Vortage hatte Eckermann notiert: »Meine größte Besorgnis war, daß Goethe in seinem hohen Alter den heftigen Sturm väterlicher Empfindungen nicht überstehen möchte.« Jetzt erlebte er eine Überraschung: »Ich ging sodann zu Goethe hinunter. Er stand aufrecht und fest und schloß mich in seine Arme. Ich fand ihn vollkommen heiter und ruhig. Wir setzten uns und sprachen sogleich von gescheiten Dingen … seines Sohnes jedoch ward mit keiner Silbe gedacht.«

»Der unterdrückte Schmerz«

Die bewusste Verdrängung der Trauerarbeit erzeugte solch einen Druck, dass Goethe drei Tage später »mit einem heftigen Blutsturz erwachte, so daß Sein Leben in Gefahr schwebte und nur ein schneller Aderlaß und eine so kräftige Natur wie die Seine Ihn retten konnte.« (Eckermann an Thomas Carlyle)

Als Goethe am 10. Dezember an Zelter über diese lebensbedrohliche Krise berichtete, analysierte er auch scharfsinnig die Ursachen: »Das Außenbleiben meines Sohnes drückte mich, auf mehr als Eine Weise, sehr heftig und widerwärtig; ich griff daher zu einer Arbeit, die mich ganz absorbieren sollte …« Er schlussfolgert über diese Arbeitstherapie: »Es dürfte wohl kein Zweifel sein, daß der unterdrückte Schmerz und eine so gewaltsame Geistesanstrengung jene Explosion, wozu sich der Körper disponiert finden mochte, dürften verursacht haben. Plötzlich, nachdem keine entschiedene Andeutung, noch irgendein drohendes Symptom vorausging, riß ein Gefäß in der Lunge und der Blutauswurf war so stark: daß, wäre nicht gleich und kunstgemäß Hülfe zu erhalten gewesen, hier wohl die ultima linea rerum sich würde hingezogen haben.«

Zu Beginn desselben Jahres hatte Goethe sich mit Eckermann über den Tod an sich unterhalten und ihn als eine fremde, gewaltsame, unvorstellbare Macht hingestellt. Der Verlust eines geliebten Menschen erschien ihm als etwas Unmögliches, das »die tiefste Erschütterung« hervorrufen würde: »Der Tod ist doch etwas so Seltsames, dass man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns teuren Gegenstände nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes eintritt. Er ist gewissermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieser Übergang aus einer uns bekannten Existenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wissen, ist etwas so Gewaltsames, dass es für die Zurückbleibenden nicht ohne die tiefste Erschütterung abgeht.« (15. Februar 1830)

Kurze Zeit nach dem Tod seines Sohnes ordnete Goethe seine irdischen Angelegenheiten. In einem umfangreichen Testament traf er »die möglichste Fürsorge« für seine »geliebte Schwiegertochter Ottilie« und seine Enkelkinder.

»Hülflos klaget ein Greis Kinder und Enkel umsonst«

Der 81-jährige Goethe hat seinem Schmerz keinen besonderen dichterischen Ausdruck mehr verliehen, er verstummte in seiner Qual. Oft genug hatte er die Erschütterung der Überlebenden nachempfunden und gestaltet, zuletzt bei Helena, die freiwillig ihrem Sohn Euphorion in den Tod folgte. In seinen letzten Werken betonte er auffallend seinen Glauben an die Unvergänglichkeit. Sei es der ätherische Makarien-Mythos oder das philosophische Gedicht »Vermächtnis« (›Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,/Das Lebendige regt sich in allen… ‹) im Wilhelm-Meister-Roman von 1829, sei es Fausts Tod und Verklärung (›Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis …‹), alles deutet daraufhin, dass Goethe sich an die tröstliche Vorstellung der Unsterblichkeit und die Idee der Erlösung ernsthaft klammerte, ohne sich zu den Dogmen einer Religion zu bekennen. Er blieb »Hypsistarier«, d.h. er wählte sich das ihm Passende aus mehreren Religionen aus.

Früher hatte Goethe auch in mehreren Werken das Thema des »unzeitgemäßen« Todes behandelt, u.a. in dem Melodrama »Proserpina«, das 1776 als Auftragswerk für Christoph Willibald Gluck nach dem Tod seiner Nichte gedichtet worden war. Und Goethe, der den frühen Tod seiner Schwester Cornelia verschmerzen musste, hatte dem Werk die explosive Kraft des Protestes verliehen, der auch heute noch nichts an Wucht eingebüßt hat, wie rezente Aufführungen in der Vertonung von Eberwein (1815) bewiesen haben.

Rund 20 Jahre später dichtete Goethe »Euphrosyne«, »den vollendetsten Totengesang in der deutschen Dichtung, was die Form anbelangt« (R. Petsch), anlässlich des Todes der 19-jährigen Schauspielerin Christiane Becker (1778–1797). Die Verstorbene war dem Dichter als die Verkörperung von Anmut und jugendlichem Frohsinn erschienen. Die Elegie spricht deutlich das Widernatürliche aus, – also den Widerspruch zu den ewigen und zuverlässigen Gesetzen der Natur – das im frühen Hinscheiden der Kinder liegt und die Eltern verwaist zurücklässt. In erhabener klassischer Form formuliert der Mittelteil der Elegie eine zeitlos gültige Aussage über die Umkehr der natürlichen Reihenfolge, wenn die Naturgesetze »schwankend« werden:

Ach, Natur, wie sicher und groß in allem erscheinst du!

Himmel und Erde befolgt ewiges, festes Gesetz,

Jahre folgen auf Jahre, dem Frühling reichet der Sommer,

Und dem reichlichen Herbst traulich der Winter die Hand.

Felsen stehen gegründet, es stürzt sich das ewige Wasser,

Aus der bewölkten Kluft, schäumend und brausend hinab.

Fichten grünen so fort, und selbst die entlaubten Gebüsche

Hegen, im Winter schon, heimliche Knospen am Zweig.

Alles entsteht und vergeht nach Gesetz; doch über des Menschen

Leben, dem köstlichen Schatz, herrschet ein schwankendes Los.

Nicht dem Blühenden nickt der willig scheidende Vater,

Seinem trefflichen Sohn, freundlich vom Rande der Gruft;

Nicht der Jüngere schließt dem Älteren immer das Auge,

Das sich willig gesenkt, kräftig dem Schwächeren zu.

Öfter, ach! verkehrt das Geschick die Ordnung der Tage;

Hülflos klaget ein Greis Kinder und Enkel umsonst,

Steht ein beschädigter Stamm, dem rings zerschmetterte Zweige

Um die Seiten umher strömende Schloßen gestreckt.

Goethe hat sich immer als einen vom Schicksal besonders Begünstigten angesehen. Im ersten Satz seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit« erklärt er, dass seine Geburt unter einem besonders glücklichen Stern stand – »Die Konstellation war günstig …« Auch später hat er gerne die Seite des Götterlieblings gezeigt. »Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten«, äußerte er sich noch 1824 gegenüber Eckermann.

Seine letzten Lebensjahre waren indes verdüstert durch das Gefühl der Vereinsamung. Der 82-Jährige zog es vor, seinen letzten Geburtstag nicht mehr zu feiern und sich in die Einsamkeit des Harzes zurückzuziehen, wo er nach der »Urschrift« seines berühmten Gedichtes »Über allen Gipfeln ist Ruh« suchte, das er im September 1780 einst in einer Jagdhütte auf einen Holzbalken geschrieben hatte. Als er sich den Schluss halblaut vorlas: »Warte nur, balde ruhest du auch«, rollten ihm dicke Tränen über die Wangen, da seine Verse jetzt für ihn eine bestürzend aktuelle Bedeutung erhalten hatten.

Goethe starb am 22. März des Jahres 1832, in seinem Sessel sitzend. Nur die Schwiegertochter Ottilie war bei ihm, als er Atemnot verspürte und sie bat, das Fenster zu öffnen. Seine letzten Worte waren keine bedeutsame Botschaft für die Menschheit, aber das Zeugnis eines liebenden Menschen, der sich in seiner Todesangst nach menschlicher Wärme und Geborgenheit sehnte: »Nun, Frauenzimmerchen, gib mir dein gutes Pfötchen.«

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt 1999.

August Goethe: Es ist mein einziger Trost, Ihnen zu schreiben. F.A.Z. – 16.1.1999.

Peter Boerner: Goethe. Rowohlt. Reinbek 1980.

Nicholas Boyle: Goethe. Beck. München 1999.

Carl Otto Conrady: Goethe.

Johann Peter Eckermann: Goethes Gespräche mit Eckermann.

Christian Michel: Goethe – Sein Leben in Bildern und Texten. Insel. Wiesbaden.

Gero von Wilpert: Goethe-Lexikon. Kröner. Stuttgart 1998.

KLEMENS UND ELEONORE VON METTERNICH

»Was für Schicksalsschläge hat mein Herz zu erdulden gehabt, und Alles ist mir widerfahren, den die Welt einen Glücklichen nennt. Wie mag es erst den sogenannten Unglücklichen ergehen?« (1825)

Unter den Staatsmännern, die die Geschichte des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt haben, nimmt Klemens von Metternich einen besonderen Platz ein. Einige Historiker zögern nicht, die Zeitspanne der Restauration von 1815 bis 1848 als die »Ära Metternich« zu bezeichnen. Metternich war Präsident und treibende Kraft des Wiener Kongresses (1814–1815). Als österreichischer Staatskanzler war er ein ausgesprochener Gegner jeglicher revolutionären Bewegung, und es gelang ihm, das Gleichgewicht der Mächte in Europa wiederherzustellen und mit einer konservativen Bündnispolitik alle liberalen und nationalistischen Bestrebungen im Keim zu ersticken.

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