Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness:

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VI

VI

Die Sonne war untergegangen. Und als Kapitän Whalley, nachdem er mit seinem Stock ein tiefes Loch in den Sand gebohrt hatte, sich zum Weitergehen anschickte, hatte die Nacht ihre Schattenheere unter den Bäumen versammelt. Sie erfüllten die östlichen Enden der Alleen, als warteten sie nur auf das Signal für einen allgemeinen Vormarsch über die offenen Räume der Welt; sie sammelten sich auch tief unten, zwischen den von Mauern eingefassten Ufern des Kanals. Die malaiische Prau, unter den Bogen der Brücke halb verborgen, hatte ihre Lage um keinen Viertelzoll verändert. Kapitän Whalley starrte lange über die Brüstung hinunter, bis ihm schließlich das unbewegliche Schwimmen des verhüllten Dings dort unten unheimlich und unfaßbar erschien. Das letzte Zwielicht verging am Himmel; sein Widerschein verließ die Welt, und die Wasser des Kanals schienen zu flüssigem Pech zu werden. Kapitän Whalley ging weiter.

Die Stelle, wo er auf dem Wege zum Hotel rechts abbiegen musste, lag wenige Schritte entfernt. Er blieb abermals stehen (alle die Häuser auf der Seeseite waren verschlossen, die Quais verlassen, bis auf ein oder zwei Eingeborene, die man in der Ferne dahingehen sah) und begann den Betrag seiner Rechnung zusammenzuzählen. Soundso viel Tage im Hotel, und soundso viel Pfund für den Tag. Um die Tage zu zählen, benutzte er seine Finger; die andere Hand hielt er in der Tasche und klapperte darin mit einigen Silbermünzen. Das ging noch für drei Tage; und dann musste er, wenn sich nichts ergab, die Fünfhundert angreifen – Ivys Geld, das in ihrem Vater angelegt war. Ihm schien es, als würde er an der ersten Mahlzeit, die von diesem Notpfennig bezahlt werden würde, ersticken müssen – unweigerlich. Vernunft hatte dabei nichts zu sagen. Es war eine Gefühlsfrage. Seine Gefühle hatten ihn nie betrogen.

Er bog nicht nach rechts ab. Er ging weiter, als gäbe es noch immer ein Schiff auf der Reede, zu dem er sich des Abends hinausrudern lassen konnte. Weiter weg, jenseits der Häuser, auf dem Abhang des indigoblauen Vorgebirges, das die Aussicht über die Quais abschloss, schickte die schlanke Säule eines Fabrikschornsteins ruhig und gerade ihre Rauchwolken in die klare Luft hinauf. Ein Chinese, der zusammengekauert im Heck eines der Sampans saß, die am Ende des Quais tanzten, bemerkte eine winkende Hand. Er sprang auf, rollte schnell seinen Zopf um den Kopf, zog sich mit zwei raschen Bewegungen seine weiten, dunklen Hosen hoch über die gelben Hüften und brachte mit einer einzigen, lautlosen, floßenartigen Bewegung der Ruder den Sampan längsseits der Stufen, mit der Leichtigkeit und Genauigkeit eines schwimmenden Fisches.

„SOFALA“, sagte Kapitän Whalley von oben; und der Chinese, wohl eben erst zugewandert, sah mit gespannter Aufmerksamkeit hinauf, als wartete er darauf, das merkwürdige Wort sichtbar von des weißen Mannes Lippen fallen zu sehen. „SOFALA“, wiederholte Kapitän Whalley, und plötzlich sank ihm der Mut. Er zögerte. Die Ufer, die Eilande, die Hügel, wie auch die Küstenvorsprünge lagen im Dunkeln; der Horizont hatte sich ganz in Nacht getaucht. Gegen Osten zu, die Küste hinauf, sah man den weißen Obelisken, der den Landungsplatz des Überseekabels bezeichnete, wie ein bleiches Gespenst vor dem Gewimmel ungleicher Dächer und den Palmen des Eingeborenenviertels stehen. Kapitän Whalley begann nochmals:

„SOFALA“. Sabeh, „SOFALA“, John!“

Diesmal erfasste der Chinese den merkwürdigen Laut und grunzte tief drinnen in seiner nackten Kehle eine raue Bejahung. Mit dem ersten gelben Aufglitzern eines Sternes, der wie ein Stecknadelkopf auf der glatten, blass blau glänzenden Himmelsdecke erschien, strich ein kühler Schauer durch die warme Luft des Landes. Im Augenblick, als er in den Sampan stieg, um hinzufahren und sich um das Kommando der „SOFALA“ zu bewerben, fröstelte Kapitän Whalley ein wenig.

Als er bei der Rückkehr wieder am Quai anlegte, warf Venus einen feinen goldenen Schein hinter ihm her über die Reede, die glatt wie ein Fußboden aus dunklem, glänzendem Stein dalag. Das luftige Gewölbe der Alleen war schwarz, tief schwarz, und die Porzellankugeln auf den Lampenpfosten glichen ungeheuren, leuchtenden, eiförmigen Perlen, in einer Reihe aufgestellt, die gegen Ende tiefer und tiefer und schließlich bis in Kniehöhe zu sinken schien. Er legte die Hände auf den Rücken. Er wollte nun in aller Ruhe die Vorteile der Sache erwägen, bevor er morgen das endgültige Wort sprach. Seine Füße knirschten laut im Kies – die Vorteile der Sache. Die wären wohl leichter abzuschätzen gewesen, hätte es die Möglichkeit einer Wahl gegeben. Die Ehrenhaftigkeit stand allerdings außer Frage. Er wollte dem Burschen nichts Böses; und von Zeit zu Zeit sprang sein Schatten jäh neben ihm an den Stämmen der Bäume hoch, um sich dann wieder schräg und schmal weit über die Rasenfläche zu erstrecken – immer im gleichen Schritt mit ihm selbst.

Die Vorteile. Gab es eine Wahl? Er schien bereits etwas von sich selbst eingebüßt, einem hungrigen Gespenst etwas von seiner Offenheit und Würde abgegeben zu haben, um weiterleben zu können. Aber sein Leben war notwendig. Mochte die Armut ihren bittersten Stachel fühlen lassen, indem sie solche Demütigungen bescherte. Es war gewiss, dass Ned Eliott ihm, ohne es zu wissen, einen Dienst erwiesen hatte, um den er ihn unmöglich hätte bitten können. Er hoffte, Ned würde keinen zweideutigen Beweggrund in seiner Handlungsweise suchen. Er nahm an, dass er ihn nun, wenn er davon hörte, verstehen – oder vielleicht Whalley für einen überspannten Narren halten würde. Was für einen Zweck hätte es haben können, ihm die Wahrheit zu sagen, ihm oder etwa diesem Menschen Massy? Fünfhundert Pfund flüssig zu einer Anlage. Mochte er das nach Kräften ausnützen. Mochte er sich auch wundern. Sie wünschen einen Kapitän – ich wünsche ein Schiff. Das ist genug. B-r-r-r! Was für einen unangenehmen Eindruck der leere, dunkle, widerhallende Dampfer ihm gemacht hatte...

Ein aufgelegter Dampfer war ein totes Ding, darüber gab es keinen Irrtum; ein Segelschiff scheint doch immer bereit, mit jedem Hauch aus dem Himmelsgewölbe ins Leben zurückzuspringen; ein Dampfer aber, dachte Kapitän Whalley, mit gelöschten Feuern, ohne die warmen Luftzüge, die einen noch auf Deck erreichen, ohne das Zischen von Dampf, das Klirren von Eisen aus dem Innern – liegt kalt, still und ohne Puls da, wie ein Leichnam.

In der Einsamkeit der Allee, die oben ganz schwarz und unten im Lichtschein dalag, kam Kapitän Whalley, während er die Vorteile der neuen Stellung erwog, wie zufällig auch der Gedanke an den Tod. Er schob ihn mit Widerwillen und Verachtung beiseite. Er lachte beinahe darüber und bedachte frohlockend, in der unbeugsamen Lebenskraft seiner Jahre, wie wenig er zum Leben brauchte. Keine üble Kapitalanlage für die arme Frau, dieser rüstige Leib ihres Vaters. Und im Übrigen sollte für alle Fälle die Abmachung klar sein, die ganzen Fünfhundert mussten der Tochter innerhalb dreier Monate zurückgezahlt werden. Zur Gänze. Jeder Penny. Er dachte nicht daran, einen Penny ihres Geldes zu verlieren, was immer auch sonst wohl dahingehen mochte – ein wenig Würde – ein wenig von seiner Selbstachtung. Nie zuvor hatte er es jemand gestattet, von ihm selbst einen falschen Eindruck zu erhalten. Nun, mochte es hingehen. Er lachte ein wenig über diese innerliche Verachtung für seine weltliche Klugheit. Selbstverständlich wäre es einem solchen Burschen gegenüber und angesichts der besonderen Beziehung, in der sie stehen sollten, unangebracht gewesen, alles auszuplaudern. Ihm gefiel der Mensch nicht, seine einfältige, leere Geschwätzigkeit sowenig wie die Ausbrüche der Verbitterung. Alles in allem – ein armer Teufel. Er hätte nicht an seiner Stelle sein mögen. Die Menschen waren ja schließlich nicht böse. Aber ihm gefiel das schlichte Haar nicht, die merkwürdige Art, sozusagen im rechten Winkel dazustehen, die Nase in der Luft, und den Blick über die Schulter weg auf einen gerichtet. Nein. Im Ganzen genommen waren die Menschen nicht böse, sie waren nur töricht oder unglücklich.

Kapitän Whalley hatte aufgehört, die Vorteile dieses Schrittes zu erwägen – und die ganze lange Nacht lag vor ihm. Im vollen Licht glänzte sein langer Bart wie ein silbernes Brustschild über seinem Herzen. Im Zwischenraum, zwischen den Lampen, hob sich seine mächtige Gestalt weniger deutlich ab und verschwamm riesengroß, wanderend, geheimnisvoll mit der Umgebung. Nein, es gab nicht viel wirklich Böses im Menschen: und die ganze Zeit über hielt ein Schatten mit ihm Schritt, zu seiner Linken dahingleitend – was im Osten von übler Vorbedeutung ist.

* * *

„Kannst du die Palmengruppe noch nicht ausnehmen, Serang“, fragte Kapitän Whalley von seinem Lehnstuhl auf der Brücke der „SOFALA“ aus, während er sich der Bank von Batu-Beru näherte.

„Nein, Tuan. Bald sehen.“ Der alte Malaie, in einem Gewand aus grobem, blauem Baumwollstoff, stand auf knochigen, dunklen Füßen unter dem Sonnensegel der Brücke, hielt die Hände auf dem Rücken und starrte zwischen den zahllosen Fältchen um die Augenwinkel hervor geradeaus.

Kapitän Whalley saß still und hob den Kopf nicht, um etwa selbst einen Blick zu tun. Drei Jahre – sechsunddreißigmal. Er hatte diese Palmen sechsunddreißigmal vom Süden her angesteuert. Sie würden im rechten Augenblick in Sicht kommen. Gott sei Dank machte das alte Schiff seine Fahrten und Zwischenstationen ein ums andere Mal pünktlich auf den Glockenschlag. Schließlich murmelte er abermals: „Noch nicht in Sicht?“

„Die Sonne glänzt sehr stark, Tuan“,

„Pass gut auf, Serang.“

„Jawohl, Tuan.“

Ein weißer Mann war lautlos die Leiter vom Deck heraufgestiegen und hatte der kurzen Unterredung stumm gelauscht. Nun trat er auf die Brücke heraus, begann sie vom einen Ende zum anderen abzuschreiten und hielt dabei das lange Weichselrohr einer Pfeife in der Hand. Sein schwarzes Haar war in langen, dünnen Strähnen glatt auf dem kahlen Scheitel angepickt; er hatte buschige Brauen, eine gelbe Hautfarbe und eine dicke, unförmige Nase. Ein spärlicher Backenbart verbarg nicht die Umrisse seiner Wangen. Er sah übellaunig und lauernd aus; und während er an dem gekrümmten, schwarzen Mundstück sog, bot sein schweres Profil ein so unangenehmes Bild, dass sogar der Serang sich einiger stiller Betrachtungen darüber nicht erwehren konnte, wie äußerst unvorteilhaft weiße Männer doch mitunter aussehen können.

 

Kapitän Whalley schien sich in seinem Stuhl straffer zu setzen, nahm aber im Übrigen von der Gegenwart des anderen keinerlei Notiz. Der stieß Rauchwolken aus und meinte dann plötzlich:

„Mir ist Ihre neue Manie ganz unverständlich, den Malaien da immer wie Ihren Schatten um sich zu haben, Partner.“

Kapitän Whalley erhob sich in seiner ganzen, achtunggebietenden Größe, ging zum Fernrohr hinüber und hielt dabei den Kurs so unverrückbar ein, dass der andere schleunigst aus dem Wege gehen musste und wie eingeschüchtert stehenblieb, wobei die Pfeife in seiner Hand zitterte. „Mich vielleicht gleich über den Haufen rennen“, murmelte er verblüfft und empört. Dann sagte er langsam und betont:

„Ich – bin – nicht – Schmutz“, und fügte trotzig hinzu, „wie Sie zu glauben scheinen.“

Der Serang rief aus:

„Sehe die Palmen jetzt, Tuan.“

Kapitän Whalley trat an die Reling vor; anstatt aber mit dem sicheren, kühnen Blick eines Seemanns gerade nach dem Punkt hinzublicken, wanderten seine Augen unentschlossen im Raum umher, als hätte er, der Entdecker neuer Seewege, in diesem engen Meere seinen Weg verloren.

Noch ein weißer Mann, der Erste Offizier, kam auf die Brücke herauf. Er war schlank, jung, hager, mit einem Soldatenschnauzbart und einem etwas tückischen Blick. Er stellte sich in die Nähe des Ingenieurs. Kapitän Whalley kehrte ihm den Rücken zu und fragte: „Was zeigt das Log?“

„Fünfundachtzig“, gab der Erste schnell zurück und stieß dabei den Ingenieur mit dem Ellbogen an.

Kapitän Whalleys muskulöse Hände umpressten die Eisenreling mit ungewöhnlicher Kraft; seine Augen glänzten von der furchtbaren Anstrengung; er runzelte die Brauen, der Schweiß rann ihm unter dem Hut hervor, und er murmelte mit schwacher Stimme: „Stütze das Ruder, Serang – wenn Kurs anliegt.“

Der schweigsame Malaie trat zurück, wartete einen Augenblick und gab dann mit ausgestrecktem Arm dem Rudersmann ein Zeichen. Das Rad wirbelte hastig herum, um das Abfallen des Schiffes zu stoppen. Wieder stieß der Erste Offizier den Ingenieur an. Massy aber wandte sich ihm zu und sagte heftig:

„Herr Sterne, lassen Sie mich Ihnen – als Reeder – sagen, dass Sie nichts weiter sind, als ein verdammter Narr.“

* * *

VII

VII

Sterne ging schmunzelnd und augenscheinlich durchaus unberührt davon, der Ingenieur Massy aber blieb auf der Brücke und lief, wie zur Selbstbestätigung, auf und ab, wobei er sich aber nicht recht wohl fühlte. Jeder Mann an Bord war sein Untergebener – jeder Mann, ohne Ausnahme. Er zahlte ihnen die Gehälter und fand Arbeit für sie. Sie aßen mehr von seinem Brot und steckten mehr von seinem Geld ein, als sie wert waren; und sie brauchten sich um nichts in der Welt zu kümmern, während er allen den Schwierigkeiten der Reederei die Stirn zu bieten hatte. Wenn er seine Lage in ihrem ganzen bedrohlichen Umfang überblickte, so schien es ihm, als wäre er durch Jahre die Beute einer Schmarotzerbande gewesen; und durch Jahre hatte er jeden einzelnen, der mit der „SOFALA“ in Verbindung stand, gelästert, mit Ausnahme vielleicht der chinesischen Heizer, die tatsächlich dazu halfen, das Schiff vorwärtszubringen. Ihr Nutzen war offensichtlich: sie waren ein unentbehrlicher Teil der Maschinerie, deren Gebieter er war.

Wenn er sein Deck entlangschritt, rannte er die Leute, die ihm in den Weg kamen, rücksichtslos an; die malaiischen Matrosen aber hatten es gelernt, ihm auszuweichen. Er hatte sich schließlich dazu bequemen müssen, sie zu dulden, im Hinblick auf die notwendige Handarbeit, die auf dem Schiff getan werden musste. Er musste sich den Kopf zerbrechen, rechnen und tüfteln, um die „SOFALA“ flott zu erhalten – und was hatte er davon? Nicht einmal genügend Respekt. Darin hätten sie ihm nie Genüge tun können, und wären auch alle ihre Gedanken und alle ihre Handlungen darauf gerichtet gewesen. Die Eitelkeit des Besitzers, das überhebliche Machtgefühl, hatten ihn schon verlassen, und es waren nur die Geldsorgen geblieben, die Angst, diese Stellung zu verlieren, die sich doch als kaum beneidenswert erwiesen hatte, und eine Angst vor den Gedanken, für die ihn keine noch so kriechende Dienstfertigkeit anderer entschädigen konnte.

Er ging auf und ab. Die Brücke gehörte ja schließlich ihm. Er hatte dafür bezahlt; und dann und wann blieb er mit dem Pfeifenrohr in der Hand kurz stehen, als horchte er mit gespanntester Aufmerksamkeit auf den dumpfen Gang der Maschinen (seiner eigenen Maschinen), auf das leichte Knirschen der Steuerketten und das stete, leise Plätschern des Wassers längsseits. Wären diese Geräusche nicht gewesen, so hätte man meinen mögen, das Schiff läge still, an einer Bank festgemacht, von jeder lebenden Seele verlassen; nur die Küste, die niedrige Küste, aus Schlamm und Mangroven, mit der Gruppe der drei Palmen weiter hinten, hob sich langsam, in gerader Linie, deutlich hervor, ohne ein einziges Merkmal, das die Aufmerksamkeit hätte fesseln können. Die eingeborenen Passagiere der „SOFALA“ lagen auf Matten unter dem Sonnensegel herum; die Rauchfahne aus dem Schornstein schien das einzige Anzeichen, dass noch Leben auf dem Schiff war, und geheimnisvoll mit seinem Hingleiten verbunden.

Kapitän Whalley stand aufrecht, ein Fernglas in der Hand und den kleinen malaiischen Serang neben sich, wie ein alter Riese, von einem Zwerg bedient, und führte das Schiff über die Untiefe an der Bank.

Diese unterseeische Bank aus Schlamm, der von der Strömung von dem weichen Grund des Flusses mitgeführt und auf dem harten Meeresgrund angeschwemmt wurde, war schwer zu überqueren. Die Alluvialküste bot keinerlei Merkmale, und so musste die genaue Lage der Durchfahrt nach der Form der Gebirge im Landesinnern bestimmt werden. Ein Kennzeichen bildete ein Gipfel, der abgeplattet, mit zackigen Rändern, einem Backenzahn glich; ein anderes, eine tiefe Einsattelung, und nach beiden musste unter dem wolkenlosen, strahlenden Himmel gesucht werden, in einem Licht, das wie ein trockener Feuernebel die Luft zu erfüllen und vom Wasser aufzusteigen schien, das die Entfernung verhüllte und die Augen blendete. In diesem grellen Licht war fast nur die Uferkante zu sehen, die ganz dunkel gegen den Opalglanz stand. Dreißig Meilen weiter weg erstreckte sich das eigentliche Landesinnere gegen den Horizont, in Umrissen, die in vielerlei Blau abgetönt waren; die einzelnen Arme der Mündung tauchten glänzend weiß auf, wie silberner Zierat auf dem Mangrovendunkel der Küste.

Vorn auf der Brücke tauschten der Riese und der Zwerg häufig halblaute Bemerkungen. Seitlich hinter ihnen stand Massy mit einem Ausdruck von Geringschätzung und Spannung im Gesicht. Seine Kugelaugen waren vollkommen reglos, und er schien die lange Pfeife, die er in der Hand hielt, vergessen zu haben.

Auf dem Vordeck, unterhalb der Brücke, war ein Matrose, ein junger Laskar über die Reling hinausgeklettert. Er befestigte mit raschen Griffen einen breiten Gurt aus Segeltuch unter seinen Armen, stemmte sich mit der Brust dagegen und lehnte sich weit über das Wasser hinaus. Die Ärmel seines dünnen Baumwollhemdes waren knapp an den Schultern abgeschnitten und ließen seinen braunen Arm frei, der voll und rund war, mit seidenweicher Haut, wie der einer Frau. Nun schwang er ihn gestreckt im Kreise, mit der drohenden Bewegung eines Schleuderers: das Vierzehnpfundgewicht beschrieb einen Kreis in der Luft und flog dann plötzlich bis über den Bug hinaus vor. Die nasse, dünne Leine zischte mit einem Laut wie gekratzte Seide durch die dunklen Finger des Mannes, und das Aufklatschen des Bleilots nahe an der Schiffswand schlug eine silberige, schnellvergehende Wunde in die goldene Glätte; dann verkündete nach einer kurzen Pause die Stimme des jungen Malaien laut und langgezogen in den Worten seiner eigenen Sprache die Wassertiefe.

„Tiga stengah“, rief er nach jedem Aufklatschen und holte dabei die Leine hastig zu einem neuen Wurf ein. „Tiga stengah“, was soviel hieß wie dreiundeinhalb Faden. Von einem Punkt etwa eine Meile weit in See war bis zu der Bank eine gleichbleibende Wassertiefe. „Halb drei, halb drei, halb drei“ – und sein wohltönender Ruf, immer wiederholt, schien im Sonnenschein davonzutreiben und sich im Raum der schweigenden See und des leblosen Ufers zu verlieren, der offen war, nach Nord und Süd, nach Ost und West, ohne den kleinsten Wolkenschatten, ohne den geringsten Laut.

Der Reeder-Ingenieur der „SOFALA“ stand reglos hinter den zwei Seeleuten von verschiedener Rasse, Herkunft und Farbe; dem Europäer, der mit der ganzen Macht seines alten Körpers der Zeit zu trotzen schien, und dem kleinen Malaien, auch alt, doch dürr und verschrumpelt wie ein welkes Blatt, das ein Zufallswind in den mächtigen Schatten des anderen geblasen hatte. Da sie so gespannt nach dem Lande ausschauten, hatten sie für nichts sonst einen Blick übrig; und Massy, der ihnen von hinten her zusah, schien ihren Diensteifer peinlich zu empfinden, wie eine persönliche Spitze gegen sich.

Das war unvernünftig; doch er hatte durch Jahre in seiner eigenen Welt voll unvernünftiger Bitterkeiten gelebt. Schließlich strich er sich mit der feuchten Hand über die spärlichen Haarsträhnen auf dem gelben Kopf und begann langsam zu sprechen:

„Einen Mann am Lot, den brauchen Sie! Das ist wohl Ihr korrekter Dampferstil. Sind Sie nicht selber schlau genug, um sagen zu können, wo Sie sind, einfach durch einen Blick auf die Küste? Nun, bevor ich zwölf Monate bei dem Geschäft war, hatte ich den Trick schon heraus – und ich bin nur ein Ingenieur. Ich kann Ihnen von hier aus zeigen, wo die Bank ist, und könnte Ihnen überdies noch sagen, dass Sie das Schiff aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der nächsten fünf Minuten auf Grund setzen werden; aber Sie würden das Einmischung nennen, nehme ich an. Und da gibt es ja unsere schriftliche Abmachung, dass ich mich nicht einmischen darf!“

Seine Stimme brach ab. Kapitän Whalley bewegte, ohne die strengen Züge zu entspannen, die Lippen zu der halblauten Frage:

„Wie nahe, Serang?“

„Sehr nahe jetzt, Tuan“, murmelte der Malaie hastig.

„Ganz langsam“, sagte der Kapitän laut, mit fester Stimme.

Der Serang rückte den Hebel des Maschinentelegraphen. Unten erklang ein Gong. Massy ging mit einem verächtlichen Schnauben davon und steckte den Kopf in das Oberlichtfenster zum Maschinenraum.

„Sie können sich auf ein närrisches Getue mit den Maschinen gefasst machen, Jack“, bellte er. Der Raum, in den er hinuntersah, war tief und düster; und das graue Schimmern von Stahl dort unten wirkte kühl nach dem grellen Glanz der See rings um das Schiff. Die Luft allerdings schlug einem heiß und stickig ins Gesicht. Ein kurzer Schrei, der kaum zu deuten schien, hallte aus der Tiefe herauf. Das war die Art, in der der Zweite Ingenieur seinem Vorgesetzten antwortete.

Er war ein älterer Mann von nachlässigem Benehmen und augenscheinlich so sehr in der schweigsamen Sorge um seine Maschinen befangen, dass er darüber die Sprache verloren hatte. Wenn man ihn unmittelbar anredete, so war seine einzige Antwort, je nach der Entfernung, ein Knurren oder ein Schrei. Während all der vielen Jahre, die er auf der „SOFALA“ zugebracht, hatte man ihn nie auch nur ein lautes „Guten Morgen“ mit einem seiner Schiffskameraden wechseln hören. Er schien es nicht zu merken, dass Leute kamen und in die Welt hinausgingen; er schien sie überhaupt nicht zu sehen. Tatsächlich schien er seine Schiffskameraden an Land nie zu kennen. Bei Tisch (die vier Weißen der „SOFALA“ speisten gemeinsam) saß er da und blickte teilnahmslos auf seinen Teller; gegen Ende der Mahlzeit aber sprang er auf und stürzte hinunter, wie in der plötzlichen Befürchtung, man könnte ihm während des Essens die Maschinen gestohlen haben. Am Ende der Reise ging er im Hafen regelmäßig an Land, doch wusste niemand, wo und auf welche Weise er seine Abende zubrachte. Unter den Leuten der Küstenfahrer lief immer noch ein wildes und unbestimmtes Gerücht um von seiner Liebschaft mit der Frau eines Sergeanten in einem irischen Infanterieregiment. Das Regiment aber hatte seine Garnisonzeit dort draußen schon vor Jahren abgedient und war irgendwohin auf die andere Hälfte der Erdkugel versetzt worden, weiter weg, als das Wissen der Menschen reichte. Zweimal oder vielleicht dreimal im Jahre pflegte er zuviel zu trinken. Bei diesen Gelegenheiten kehrte er früher als gewöhnlich an Bord zurück, rannte über das Deck, wobei er sich mit ausgespreizten Armen, wie ein Seiltänzer, im Gleichgewicht hielt, schloss sich dann in seiner Kajüte ein und redete und schimpfte die ganze lange Nacht in allen Tönen vor sich hin; Wut, Hohn und Wehklagen wechselten unerschöpflich miteinander ab. Massy, der Wand an Wand mit ihm schlief, pflegte sich in seiner Koje auf den Ellbogen aufzurichten und entdeckte dann, dass sein Zweiter Offizier den Namen jedes Weißen behalten hatte, der durch Jahre und Jahre auf der „SOFALA“ Dienst getan hatte. Er erinnerte sich an die Namen von Leuten, die gestorben, die nach Hause oder nach Amerika gegangen waren; er erinnerte sich während seiner Räusche an die Namen von Männern, deren Verbindung mit dem Schiff so kurz gewesen war, dass Massy selbst die näheren Umstände vergessen hatte und sich eben noch an die Gesichter erinnern konnte. Die trunkene Stimme jenseits des Schotts ergoss über sie alle eine ungewöhnliche Flut giftiger und lästerlicher Verleumdungen. Scheinbar hatten sie alle ihn auf irgendeine Weise beleidigt, und zum Lohn dafür war er ihnen allen hinter die Schliche gekommen. Er murmelte finster; er lachte höhnisch; er zermalmte sie, einen nach dem anderen; von seinem Vorgesetzten aber, Massy, plapperte er voll Bewunderung und Neid. „Gerissener Schuft! Trifft seinesgleichen nicht alle Tage. Seht ihn nur an! Ha! Groß! Eigenes Schiff. Würde sich nie erwischen lassen. Keine Angst – der Hund!“ Und nachdem Massy eine Weile mit dankbarem Lächeln diesem kunstlosen Tribut an seine Größe gelauscht hatte, begann er wohl zu brüllen und mit den Fäusten gegen das Schott zu trommeln.

 

„Hören Sie auf, Narr! Wollen Sie mich nicht schlafen lassen! Saufbold!“

Dabei aber umspielte immer noch ein halbes Lächeln des Triumphs seine Lippen; draußen stand der Laskar, den die Nachtwache im Hafen getroffen hatte (ein Junge vielleicht, der gerade aus einem Walddorf gekommen war), reglos im tiefen Schatten des Decks und lauschte dem endlosen trunkenen Geschwätz. Sein Herz pochte vor atemloser Ehrfurcht vor den weißen Männern: den hartnäckigen, herrschsüchtigen Männern, die unbeugsam ihre unverständlichen Ziele verfolgen – Wesen mit unerhörtem Tonfall in der Stimme, von unberechenbaren Gefühlen und unergründlichen Trieben bewegt.

* * *