Die Welten des Jörg Weigand

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»Was, meinst du, ist da drin?«

Tarak zögerte mit der Antwort.

»Ich weiß nicht. Wenn Schriften darin sind, heilige Schriften – ich kann sie nicht lesen. Nur Priestern ist es erlaubt, diese Kunst zu erlernen.«

»So ist es. Da ich seit einiger Zeit den Eindruck habe, dass du Zweifel hegst, ob überhaupt etwas darin ist, will ich dir den Inhalt zeigen.«

Bernar öffnete den Deckel der Schachtel und erklärte:

»Vielleicht kannst du dich erinnern: In der Höhle fand man insgesamt fünfzig Schriften in jener Metallkassette; dazu noch einen Brief desjenigen, der dafür gesorgt hat, dass die Kunde vom Großen R uns erreicht hat. Es ist fast ein Wunder, dass dies alles den Feuersturm der Katastrophe überdauern konnte. Jene fünfzig Schriften sind die Aufzeichnungen der Chronisten Khascher, Cladatn, Kutma, Weweh und Kubran – die einzigen schriftlichen Dokumente aus der Zeit vor dem Untergang der alten Welt.«

Bernar entnahm der Schachtel zwei Papierstücke.

»Diese zwei Teile erhielt der Stamm der Hundskrieger. Es sind wichtige Beweisstücke für die wahre Existenz des Großen R. Dies hier ist die erste der insgesamt fünfzig Schriften; sie ist allerdings im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer mehr beschädigt worden. Das Papier zerfällt einfach – auch bei den anderen Stämmen wurde das festgestellt. So ist uns nur noch dieses letzte Stück des Umschlages geblieben. Hier!«

Vorsichtig nahm Tarak den Beweis für die Existenz des Großen R in Empfang.

Das Bild zeigte drei Männer, die in seltsam fremdartigen Anzügen steckten; sie liefen vom Beschauer weg ins Bild hinein, über eine kahle, schroffe Fläche hinweg. Ihre Köpfe steckten in kugelartigen Behältern. Auf ihrem Rücken erkannte Tarak gurkenförmige Gebilde. Hinter den drei Männern gab es technisches Gerät, mit dem der Jungjäger nichts anfangen konnte.

Das Bild war schon stark ausgeblichen, dennoch hatte Tarak den Eindruck, dass früher einmal die Farben sehr grell gewesen sein mussten. An den Seiten gab es überall Ausrisse; die Seite war unvollständig. Links oben waren Teile einer Schrift zu erkennen.

»Was heißt das?«, fragte Tarak.

»Das ist der vollständige Name des Großen R«, sagte der Oberpriester feierlich. »Du weißt, dass der Große Rat der Stämme uns allen verboten hat, den Namen auszusprechen und dadurch zu beflecken.«

Tarak war überwältigt, nie hätte er das für möglich gehalten, dass Bernar solche Kostbarkeiten in seiner Hütte barg.

»Wer sind die drei Männer auf dem Bild?«, fragte er fast schüchtern.

»Das kann ich dir nicht sagen, aber die Weisen der Stämme vermuten, dass höchstwahrscheinlich einer der drei der Große R sein muss.«

Tarak verschlang das Bild fast mit den Augen. Der Große R leibhaftig vor seinen Augen – wenn auch nur auf einem Bild!

»Und was ist das da?«, fragte der Jungjäger und deutete auf das zweite, gefaltete Papier in der Hand Bernars.

»Das ist der Begleitbrief, wie er zusammen mit den fünfzig Schriften der Chronisten gefunden wurde. Auf seinem Inhalt fußt zu einem erheblichen Teil die Beurteilung der Schriften. Denn daraus geht eindeutig hervor, dass der Große R gelebt hat, dass er die Menschheit lange vor der Katastrophe geeint und zahlreiche ferne Welten erobert hat.«

Der Oberpriester machte keine Anstalten, Tarak den Brief zu geben, und dieser verstand. Denn der Brief war von unschätzbarem Wert, darauf basierte die Verehrung des Großen R. Tarak gab Bernar das Umschlagbild zurück, sichtlich beeindruckt.

Bernar bemerkte, in welchem Zustand sich der junge Mann befand. Ziel erreicht, dachte er zufrieden.

»Du kannst wieder gehen«, sagte der Oberpriester. »Aber sprich mit keinem über das, was ich dir soeben gezeigt habe.«

»Ja, Bernar. Und danke auch. Nie wieder will ich zweifeln«, stammelte Tarak und stürzte aus der Hütte, denn er schämte sich zu zeigen, wie ihm vor Rührung die Tränen in die Augen schossen.

Hinter ihm lächelte Bernar zufrieden in sich hinein. Das war geschafft. Liebevoll strich er über den Brief; er hatte ihn Tarak nicht gegeben, denn lesen konnte ihn dieser doch nicht. Er hätte ihn ihm vortragen können, schließlich kannte er ihn auswendig.

Er schloss die Augen und sah den Brief vor sich:

Oktober 1980

Er ist der größte Held – ich bete ihn an.

Er ist der Retter der Menschheit und der Erbe des Universums, er hat den Frieden gesichert und zahlreiche ferne Welten besucht: Perry Rhodan.

Damit seine Geschichte nie vergessen wird und auch spätere Generationen ihn so wie ich verehren können, verstecke ich die ersten fünfzig Folgen in einer feuersicheren Kassette.

In diesem Jahr feiern wir sein Jubiläum. Perry Rhodan wird ewig leben!

Friedrich Wilhelm Baumann, 14 Jahre

Oberpriester Bernar steckte die beiden Papiere wieder in die Schachtel zurück.

Er war zufrieden. Tarak war bekehrt, der Stamm der Hundskrieger bekannte sich vollständig zur Verehrung des Großen R.

Bernar würde auch in der nächsten Zeit nicht hungern müssen.

Bellinda Superstar (1981)
1

Das Gebäude der Staatlichen Fernsehgesellschaft ragte mit seinen dreißig Stockwerken fast bedrohlich vor mir in den morgendlichen Januarhimmel. Mit zweiundzwanzig Jahren wird wohl ein jeder allein von der Demonstration der Macht, die solch ein Klotz aus Beton und Glas darstellt, beeindruckt. Nur mit einiger Mühe konnte ich meinen Blick losreißen und betrat durch die Drehtür die weite Empfangshalle.

»Sie wünschen?«

Ein Fernsehtraum kümmerte sich um mich: tiefschwarzes, schulterlanges Haar; blaugraue Augen; hochgeschlossenes, enganliegendes Kleid in den Tricolorfarben der neuesten Mode, das eine tadellose Figur erkennen ließ. Es stimmte also, ich war beim Fernsehen, und heute sollte ich meine erste Stellung antreten.

»Mein Name ist Mark Lehlein«, stotterte ich ein wenig, fing mich dann aber schnell, als ich ein spöttisches Verziehen des Mundwinkels bei der Schwarzhaarigen bemerkte; schließlich war ein ausgebildeter Computertechniker auch wer, oder?

»Ich habe für zehn Uhr eine Verabredung mit Herrn Sommer.«

»Mit Herrn Sommer, oh!«

Anscheinend ein wichtiger Mann, dieser Herr Sommer. Ich war offensichtlich im Urteil des Fernsehtraums um etliche Sprossen die Leiter hinaufgerutscht.

Während die Empfangsdame telefonierte und mich anmeldete, blickte ich mich in der Halle um. Mehrere Sitzgruppen teilten den Raum auf. An den Wänden hingen Poster und Fotos, die Szenen aus der Arbeitswelt des Fernsehens zeigten. Ich erkannte Bilder von der ersten Liveübertragung vom Mars durch Jonny Cartier, den damaligen Starreporter, der von seinem anschließenden Trip zum Japetus nicht zurückgekommen ist. Vor nicht einmal zehn Jahren war die Übertragung vom Roten Planeten sieben Tage lang ohne Unterbrechung ausgestrahlt worden. Cartier konnte natürlich nur einen kleinen Teil davon bestreiten; wenn er schlief oder sich sonst wie erholte, übertrugen die automatischen Kameras, ab und an mit vorbereiteten, kommentierenden Texten unterlegt, in jedem Falle aber des atemlosen Staunens der ganzen Erde sicher.

Die Computerisierung dieser sieben Tage dauernden Übertragung hatte über ein Jahr lang die Programmierer und Techniker in Atem gehalten – ein Glanzstück des modernen Fortschritts, das uns auf der Schule für Fernsehtechnik immer wieder als beispielhaft vor Augen gehalten worden war.

Ich wurde ziemlich abrupt aus meinen Träumen gerissen, als mir die Schwarzhaarige in den Tricolorfarben auf die Schulter klopfte und mir mitteilte, Herr Sommer sei im Augenblick anderweitig beschäftigt und könne daher den abgesprochenen Termin nicht einhalten.

»Wissen Sie«, flötete sie, »heute fällt die Entscheidung über unseren nächsten großen Star, den die Gesellschaft aufbauen will. Eine höchst wichtige Entscheidung, nicht wahr? Schließlich will das Publikum ja nur das Beste vorgesetzt bekommen …«

Sie schaute mich unter ihren verlängerten Wimpern an, als erwartete sie, ich solle sie als nächsten großen Star vorschlagen. Sicherlich war sie davon überzeugt, dass sie das alles viel besser konnte als die vom Publikum und den Fernsehgewaltigen hofierten Schönheiten.

Ich begnügte mich damit, sie nach dem Weg in die Computerzentrale zu fragen, und überließ sie ihren Träumen.

Mein Gespräch mit Herrn Sommer, dem technischen Leiter der Computerabteilung, hatte offensichtlich Zeit. Jetzt wollte ich mich erst einmal mit meinen neuen Kollegen bekannt machen.

2

Es ist eben doch ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, was man auf der Schule lernt, und den Anforderungen, die dann in der Praxis gestellt werden. Der gleichmäßige Trott, an den wir uns auf der Schule für Fernsehtechnik in den vergangenen drei Jahren gewöhnt hatten, wurde bei der Staatlichen Fernsehgesellschaft abgelöst durch ein Stoßgeschäft mit hektischen Aktivitäten, worauf dann lange Zeiten der Pause folgten. Ebenso plötzlich flammte dann wieder Arbeitswut auf, bedingt durch Termine oder auch nur menschliche Unzulänglichkeiten, da niemand in den oberen Etagen in der Lage zu sein schien, für eine gleichmäßige Auslastung der Mitarbeiter zu sorgen.

Ganz schön aufreibend, eine solch sporadische Hektik. Das geht an die Nerven; kaum einer, der nicht gereizt reagiert, wenn ihn ein anderer nur schräg ansieht.

Bald war ich in diesem Chaos, das wunderbarerweise immer wieder mit wirklich bemerkenswerten Resultaten aufwarten konnte, voll integriert. Ich schimpfte wie meine Kollegen auf »die da oben«, war dennoch ganz zufrieden, mein gutes Geld auch für streckenweises Nichtstun zu erhalten, und maulte, wenn Terminarbeiten dieses Nichtstun unterbrachen.

 

Bereits in die ersten Wochen fiel meine entscheidende Begegnung mit Bellinda. In jenen Tagen wurde ich in der Abteilung herumgereicht, um überall einmal hineinschnuppern und mich akklimatisieren zu können – so der technische Leiter Sommer, mit dem ich am Tag nach meinem Arbeitsantritt eine kurze Unterredung gehabt hatte. Sommer war mir herzlich unsympathisch, ein diensteifriger Strebertyp, wie ich sie noch nie habe leiden können. Ich war auf dem Weg zur Computerzentrale, da wurde ich auf dem Gang von einem jungen Mädchen angesprochen. Sie war höchstens achtzehn Jahre alt und lächelte mich etwas schüchtern an.

»Können Sie mir sagen, wo ich Herrn Peter Melchior finde?«, fragte sie.

Ich musterte das Mädchen etwas erstaunt. Peter Melchior ist unser Chefprogrammierer, ein serviler Typ. Was konnte sie von ihm wollen …

»Es geht um die Anlage der Programme«, fügte das Mädchen wie als Antwort auf meine unausgesprochene Frage hinzu. Es war etwas kleiner als ich, also etwa einen Meter siebzig groß, hatte ziemlich kurzgeschnittenes, kastanienbraunes Haar und hellblaue Augen, die mir sofort auffielen. Ihre Figur war vielleicht nicht üppig zu nennen, doch saß da alles am richtigen Fleck. Es ging eine natürliche, eine selbstverständliche Anmut von ihr aus.

»Na, genug gesehen?« Mit einem Mal wirkte sie nicht mehr schüchtern. Ein schneller, prüfender Blick aus den umwerfend blauen Augen begleitete die kecke Frage.

»Hm, ja.« Jetzt war ich verlegen. »Ich habe mir gerade überlegt, was Sie wohl bei Melchior … ich meine, Herrn Melchior …«

»Warum ich ihn suche? Nun, ich bin Beate Michalowski …«

Sie sah mich an, als müsste mir nach dieser Eröffnung alles klar sein. Wahrscheinlich starrte ich ihr nur blöde wie ein Rindvieh auf der Weide entgegen, denn der Name sagte mir gar nichts.

Sie lachte hell auf.

»Ach so! Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, ich bin Bellinda.«

Nun staunte ich erst recht. Das also war sie, unser neuer Superstar. Aus Tausenden von Bewerberinnen ausgewählt, die selbst bereits mehrere Wettbewerbe erfolgreich hinter sich gebracht hatten. Man erzählte sich bereits Wunderdinge von Bellindas Talent vor der Kamera, von ihrer Ausstrahlungskraft, ihrem Charme.

Nun konnte ich mich selbst davon überzeugen.

Ich glaube, ich war in jenem Moment der Überraschung keines gescheiten Gedankens mehr fähig. Immerhin war ich noch ausreichend bei Verstand, um Bellinda bei Melchior abzuliefern.

Dann aber war für den Rest des Tages nicht mehr viel mit mir anzufangen. Immer wieder sah ich jene hellblauen Augen vor mir, im Kontrast dazu die kastanienfarbenen Haare, die kleine gerade Nase … Ich glaube, ich hatte mich damals schon, gleich bei der ersten Begegnung, hoffnungslos in Bellinda verknallt.

Ob da nun bei mir ein besonderer Funke gezündet hatte oder ob die Auswahl der Fernsehanstalt so zielsicher erfolgt war, dass einfach alle Männer auf die Ausdruckskraft des lieben Gesichts ansprangen, darüber möchte ich nicht zu lange nachdenken. Die erste Erklärung ist mir lieber, sie lässt mir mehr individuelle Befriedigung; andererseits ist der große, ja überwältigende Erfolg von »Bellinda Superstar« eine Tatsache.

Damals freilich konnten alle nur auf so einen Erfolg hoffen. Bellinda wäre, bei all ihrer Bescheidenheit, sicherlich auch mit weniger Erfolg zufrieden gewesen – zumindest am Anfang, denn im Laufe des Aufbaujahres entwickelte sie einen recht beachtlichen Ehrgeiz. Vielleicht hätte sie sonst die folgenden Monate auch gar nicht durchhalten können.

3

In der Folgezeit traf ich, auch in meiner Eigenschaft als Computertechniker, öfter mit Bellinda zusammen. Zwar war ich der Jüngste in der Mannschaft der Computerzentrale, doch bei uns muss jeder, ohne Ansehen der Person und seiner Dienststellung, überall einsetzbar sein. Daher wurde ich auch zur Gesamtfeldprogrammierung von »Bellinda Superstar« herangezogen.

Man hatte das Programm einfach nach dem Star genannt, um den sich zwölf Monate lang alles drehte. Eigentlich müsste ich sagen: nach dem zukünftigen Star, doch für mich war Bellinda von Anfang an etwas Besonderes.

Bei dem Programm, das mit der bei uns üblichen sporadischen Hektik durchgezogen wurde, ging es um Folgendes:

Die Gesamtpersönlichkeit Bellindas, ihr Verhalten, ihre Gesten, ihre Mimik, ihre Sprachgewohnheiten – all das und noch vieles mehr mussten eingespeichert werden, um schließlich nach Beendigung des Programms im Personality-Generator ein hundertprozentiges Bild der Person Bellinda zu ergeben. Das hört sich sehr kompliziert an, aber so schlimm war es eigentlich nicht. Es dauerte nur seine Zeit und verlangte eine ungeheuer konzentrierte Kleinarbeit.

Das fing damit an, dass Bellinda bei allen nur irgend denkbaren Bewegungen und Tätigkeiten des täglichen Lebens mit der E-Kamera beobachtet und das Ganze auf Magnetband aufgezeichnet wurde. Die Elektronik erlaubt schärfere Konturierung als der Film, und auch kleinste Details erfahren so eine einwandfreie Wiedergabe. Dazu noch wurde das Geschehen auf dem Einzollband gespeichert und nicht auf dem Viertelzoll, das wir eigentlich seit vielen Jahren auch professionell nutzen. Ich bin kein Techniker der magnetischen Aufzeichnung, aber wie die Kollegen mir das erklärt haben, scheint die Viertelzoll-MAZ aus schnitttechnischen Gründen für die Gesamtfeldprogrammierung weniger geeignet zu sein als das Einzollband.

Bei den Aufnahmen im Freien, in irgendwelchen Autos, Flugzeugen oder Eisenbahnabteilen, aber auch bei der Arbeit im Studio erwies sich Bellindas schauspielerische Begabung. Sogar die schwierigsten Rollen meisterte sie auf Anhieb mit einer Selbstverständlichkeit, die selbst alte Füchse im Fernsehgeschäft staunen machte. Ich konnte ihr immer wieder zusehen oder ihre Leistung auf den Bändern während des Schnitts beobachten; ich war ihr von Herzen zugetan, doch noch darüber hinaus war ich von ihren Fähigkeiten tief beeindruckt.

Diese Arbeit beanspruchte während der Dreharbeiten Bellindas volle Aufmerksamkeit; es war nicht leicht, den Wünschen der Regie, der Aufnahmeleitung, der Technik oder der Kamera immer gerecht zu werden. Oft ging es um winzige Kleinigkeiten, um Nuancen wie einen Augenaufschlag, ein Lächeln, ein Herabziehen der Mundwinkel.

Waren die Aufnahmen im Kasten, dann begann unsere Aufgabe. Jede Bewegungseinheit wurde in kleinste Aufbauteilchen zerlegt, sogenannte »Bits«, aus denen man umgekehrt wieder ganz neue Bewegungsabläufe zusammensetzen konnte, vorausgesetzt, man hatte vorher alle nötigen Bits gespeichert. Oft mussten neue Kameratermine anberaumt werden, da wichtige Zwischenglieder fehlten.

Diese Bits nun mussten nach Art, Rhythmus, Schnelligkeit, Bewegungsrichtung usw. klassifiziert und anschließend zum Verbleib in den Fixwertspeicher eingegeben werden. Von dort waren sie dann jederzeit abrufbereit.

Für Bellinda war das eine ungeheure physische, aber auch psychische Anstrengung; ihr wurde das Letzte abverlangt. Doch sie ertrug alles mit gleichbleibend guter Laune, ihre Kraftreserven waren erstaunlich.

Doch nach einem halben Jahr war es mit ihrer Kraft zu Ende. Sie konnte nicht mehr.

4

Es war ein heißer Augusttag. Die Sonne brütete über der Stadt, schon beim Aufstehen hatte ich einen Schweißausbruch. Ich war zur Spätschicht eingeteilt, musste also nicht vor vierzehn Uhr im Dienst erscheinen. Als ich den technischen Trakt betrat, kam mir Bellinda entgegen.

Wir hatten uns in den letzten Monaten angefreundet, waren vertraut miteinander geworden. Wie es um sie stand, war mir nicht klar, da sie sich nie dazu äußerte, ich jedenfalls war hoffnungslos in sie verliebt.

Sie trug ein luftiges Kleidchen aus blauem Stoff, passend zu den Augen. Ein viereckiger Ausschnitt ließ mehr von ihrem wohlgeformten Körper sehen als üblich. Sie sah so reizvoll aus, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Obgleich ich längeres Haar vorgezogen hätte, trug sie immer noch ihre kurze Frisur.

»Das gehört zu meinem Typ«, hatte sie mir einmal erklärt. Ich dagegen war davon überzeugt, dass zu ihrem Typ ebenso langes Haar passen würde. Aber einem Argument musste ich mich schließlich beugen: Die Aufnahmen verlangten immer gleiches Haar.

»Ich habe eine Stunde Zeit«, sagte Bellinda zur Begrüßung. »Wollen wir ein wenig durch die Anlagen laufen?«

Ein Gedanke, der mir sehr gefiel. Ein kurzes Telefonat, und ein Kollege übernahm für die nächste Stunde meinen Job am Eingabepult des Computers. Irgendwann einmal würde ich ihm zum Ausgleich auch einen Gefallen erweisen können.

Wir schlenderten unter den hohen Pappeln und Birken dahin, die in einem breiten Parkgürtel an der Hinterfront des Gebäudes der Fernsehgesellschaft angesetzt sind. Schon bald schien Bellinda müde zu werden, sie wollte sich auf eine Bank setzen. Ich merkte ihr die Erschöpfung an; sie saß mit geschlossenen Augen und atmete tief die Luft ein, die hier im Schatten der Bäume frischer war als in den Häuserschluchten.

»Hat es heute etwas Unangenehmes gegeben?«, fragte ich sie besorgt, legte meinen Arm um ihre Schulter und zog sie an mich.

Sie sträubte sich nicht, schüttelte nur mit dem Kopf und sah mich an. Ihr Blick besaß nicht die gewohnte Kraft der Ausstrahlung. Und als ich ihr in die Augen schaute, nach Anzeichen irgendwelchen Ärgers oder Schwierigkeiten forschte, da lehnte sie plötzlich ihren Kopf an meine Schulter und begann zu weinen. Ich fühlte mich hilflos, wusste nicht, was tun, wischte dann ihre Tränen ab und fuhr ihr mit der Hand übers Haar, bis sie sich schließlich wieder beruhigte.

Ich wartete ab, dann begann sie, zu erzählen.

»Weißt du, Mark, wahrscheinlich kann sich das niemand vorstellen, was das heißt, jeden Tag – manchmal ohne Unterbrechung stundenlang – vor dem Fischauge der Kamera zu stehen, sich zu bewegen, wie man es dir sagt, irgendwelchen Anweisungen des Regisseurs oder des Kameramanns zu folgen. Du verlierst mit der Zeit den Sinn für die Wirklichkeit. Am schlimmsten ist, dass du immer wieder die gleichen Gesten ausführen, die gleiche Szene spielen musst.«

Ich konnte mir das schon vorstellen, hatte ich doch so manches Mal ihre Geduld, ihre Zähigkeit bewundert. Es erschütterte mich dennoch, Bellinda so niedergeschlagen zu erleben.

»Du musst daran denken, dass dies ja nicht in alle Ewigkeit so weitergeht«, versuchte ich sie aufzumuntern. »Schau, dein Vertrag für das Aufbaujahr läuft bald ab. Dann werden sie dir den eigentlichen Vertrag vorlegen, da bin ich ganz sicher. Und das bedeutet den Erfolg, darauf kannst du dich doch jetzt schon freuen.«

»Aber ich kann nicht mehr. Mark, ich möchte weg von hier, mich irgendwo verkriechen, wo es keine Kameras und kein Studio gibt.«

»Wenn du es dir ganz fest vornimmst, dann kannst du auch weitermachen«, behauptete ich, war davon aber gar nicht so fest überzeugt.

Sie versuchte ein zaghaftes Lächeln.

»Meinst du?«

»Davon bin ich überzeugt. Die Programmierung steht zum großen Teil, jetzt geht es um die Feinheiten. Oder willst du jetzt vielleicht aussteigen, nachdem du bereits so viel durchgemacht hast?«

Sie schien sich wieder etwas beruhigt zu haben und schüttelte energisch den Kopf. Eine Zeitlang schwieg sie. Ich saß ruhig neben ihr und hielt sie im Arm.

»Mark?«, sagte sie dann.

»Ja, Liebes?« Das rutschte mir so heraus, aber sie schien es nicht bemerkt zu haben.

»Warum müssen eigentlich zwölf Monate lang diese Aufnahmen gemacht werden? Man hat mir gleich zu Beginn gesagt, dass sie Voraussetzung dafür sind, dass später in jedem Fall gesendet werden kann. Damals hat mir das als Antwort genügt, heute frage ich mich, ob das alles eigentlich notwendig ist.«

Jetzt war ich in meinem Element, denn über diesen Punkt hatte ich inzwischen nicht nur mit Sommer und Melchior, sondern auch mit zahlreichen Kollegen gesprochen. Denn auch ich hatte mir diese Frage gestellt, um deren Beantwortung mich nun Bellinda bat.

»Nimm einmal an, aus dir ist bereits der große Star geworden, ich persönlich zweifle überhaupt nicht daran, dass du das schaffen wirst, dann bedeutest du für die Fernsehgesellschaft ein ungeheures Kapital, mit dem gearbeitet werden muss. Nun ist es ja möglich, dass du mitten in einer wichtigen, dazu noch terminlich engen Produktion krank wirst. Du brichst dir ein Bein oder kriegst die Gelbsucht, auf jeden Fall ist es etwas Ernstes, das dich daran hindert, weiterzuspielen. Du fällst also aus, die Gesellschaft müsste das Projekt aufgeben, da sie unmöglich termingerecht fertig werden kann. Das wären ungeheure Verluste, denn schließlich hat man ja bereits ein Jahr lang in dich investiert und in die laufende Produktion auch noch eine ganze Menge Geld gesteckt. Dann greifen wir von der Computertechnik auf das Gesamtfeldprogramm mit deinen Bits zurück und simulieren die Szenen, die du wegen deiner Krankheit nicht spielen kannst. Die von uns aus Tausenden von Bits zusammengesetzten Bewegungsabläufe der Bellinda werden dann über Bildmischpult in die jeweilige Bildsituation eingestanzt. Das ist eine kniffelige Arbeit, sicherlich, aber es geht, vorausgesetzt wir verfügen über viele Hunderttausende, ja Millionen von Bits, die es uns ermöglichen, jede nur denkbare Situation aufzubauen.«

 

Bellinda hörte aufmerksam zu, an dieser Stelle hatte sie eine Frage:

»Du sagst, mein Bild wird in die jeweilige Szene eingestanzt. Wie geht das denn, ich habe doch in den Spielszenen, in den zukünftigen Spielhandlungen sicherlich nicht immer dasselbe Kleid an.«

»Das ist ein Problem, an dem haben die Leute von der MAZ und vom Mischpult lange geknabbert. Seit etwa zwei Jahren gibt es auch dafür eine Lösung. In der Tat können sie dir – das heißt, der Bellinda in der simulierten Szene – jedes beliebige Kleidungsstück anpassen. Das verlangt eine sehr genaue Adaptation, doch kannst du danach keinen Unterschied zwischen den Originalszenen und den simulierten Passagen erkennen.«

»Es muss also sein, meinst du?«, fragte sie.

»Aber natürlich. Alle sagen das bei uns.«

»Aber wenn nun das gesamte Programm steht, wenn alle Bits eingespeichert sind, brauchen die mich dann überhaupt noch?«

Eine Überlegung, an der etwas dran war. Allerdings hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. In der Tat, was war, wenn die Programmierung stand? Eine Frage, die unangenehme, ja schreckliche Konsequenzen andeutete. Alles Unsinn, sagte ich mir, es handelt sich hier schließlich nicht um irgendeine Hintertreppenfirma. Das sagte ich auch zu Bellinda und fügte hinzu:

»Sie werden dich immer brauchen, denn schließlich will dich das Publikum auch einmal in natura sehen.«

Doch in mir nagte nun der Zweifel, denn es gab genügend Fernsehstars, die nie auf der Bühne zu sehen waren. Es gab Gesangsgruppen, die überhaupt nicht singen konnten und deren angeblicher Gesang vom Computer kam, die Künstler sangen nichts als Playback.

Doch ich hielt den Mund, ich wollte Bellinda nicht noch mehr verunsichern.

»Ich danke dir, Mark«, sagte sie, nun schon wieder mit einem Lächeln auf dem schönen Gesicht. »Auch ich mag dich gern.«

Also hatte sie vorhin doch gut zugehört. Ich war glücklich.