Die Welten des Jörg Weigand

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3

Die Welt des Doo, so nannten die Pelzigen ihre Heimat untereinander, war auch für irdische Begriffe riesenhaft, doch sie besaß nur einige tausend Bewohner. Ausgeklügelte Selbstversorgungsanlagen verhinderten, dass irgendjemand Not leiden musste. Auf mehreren Decks übereinander befanden sich Plantagen, in denen die verschiedensten Gewächse kultiviert wurden. Tiere sah Valentin Fisher keine. Und Fleischgenuss galt, das ergab eine vorsichtige Frage, als heiliges Tabu.

Im Verlauf langer Gespräche kam Fisher dahinter, dass das Volk weniger eine soziale als eine religiöse Ordnung kannte. Es gab keine Vorgesetzten und keine Bestrebungen Einzelner, sich gegenüber den anderen hervorzutun. Wo etwas zu entscheiden war, geschah dies einvernehmlich – oft ohne sichtbare Abstimmung. Dem Menschen schien es manchmal, als sei hier eine Gemeinschaft so ineinander verwachsen, dass das verbale Einholen der Zustimmung Einzelner gar nicht mehr vonnöten war.

Alles bestimmte das Doo, ein Begriff, unter dem sich Fisher lange Zeit überhaupt nichts vorstellen konnte. Manchmal erschien es ihm als abstrakter Begriff, doch fast ebenso oft wiederum hatte er den Eindruck einer Personifizierung. So, wenn Lilisan etwa in einer Diskussion einwarf: »Das Doo sagt, dass …« Meist folgten dann Äußerungen, die auf Geduld und Verständnis anderen gegenüber abzielten.

Erst allmählich merkte Valentin Fisher, dass jedes Gespräch, das er mit einem Vertreter des Volkes führte, gleichzeitig ein Test war.

Seine Gesprächspartner wechselten rasch, als wollte man ihn durch verschiedene Spezialisten prüfen lassen. Ihm freilich kam es so vor, als ginge es immer nur um das gleiche Thema: die meditierende Haltung des Einzelnen gegenüber dem Universum und die Einpassung des Individuums in die religiöse Gemeinschaft des Doo.

Zu Anfang hielt er sich bei den ausgedehnten Diskussionen zurück. War es zuerst mehr Unsicherheit darüber, worum es eigentlich ging, so merkte er rasch, dass es da Dinge gab, auf die das Volk großen Wert legte, die ihm jedoch ziemlich fremd waren. Doch merkte er mit Fortschreiten der Zeit, dass ihn eine geheime Ungeduld befiel, die anwuchs und durch nichts zu stoppen war.

Zum ersten Mal ging Fisher aus sich heraus, als sein neuer Gesprächspartner ihm eine Vorlesung zu halten begann über die Tugenden des Doo:

»Wer im Doo lebt, weiß, ohne zu wissen. Er ist ehrlich und weiß doch nicht, was Wahrheit ist. Er hilft aus eigenem Antrieb anderen, ohne Hilfe zu kennen. Er liebt das Volk über alles, und doch ist ihm Liebe unbekannt. Er tut seine Arbeit, doch was ist für ihn Pflicht? Er praktiziert Treue zum Doo und …«

Da riss der Geduldsfaden.

»Was soll das eigentlich?«, unterbrach er in scharfem Ton den vortragenden Tansetung.

»Was soll dieses Salbadern? Warum muss ich mir das immer wieder anhören? Einmal ist genug!«

Tansetung, aus seinem meditierenden Sprechen brutal in die Gegenwart gerissen, schaute ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Fisher ließ sich nicht beirren:

»Wie lange muss ich eigentlich noch warten, ehe man mehr auf das eingeht, was ich will? Wann kann ich endlich nach Hause? Habe ich es hier nur mit lauter Verrückten zu tun?«

Er hatte sich bei diesem Gefühlsausbruch erhoben und schaute Tansetung wütend an. Doch nicht lange – dann war der Pelzige geflohen.

4

Zwar bereute Valentin Fisher im Nachhinein, dass er sich so hatte gehen lassen, doch beruhigte er sich schnell wieder bei der Überlegung, dass es eben einmal hätte sein müssen. Er hatte es doch gar nicht nötig, sich auf diese Weise schikanieren zu lassen! In seinem irdischen Beruf als Repräsentant von Großmaschinen galt auch nur das forsche Drauflosgehen; Rücksichten konnte sich bei dem Job keiner erlauben.

Im Übrigen ließ das Volk ihn nun in Ruhe. Er seinerseits hatte auch keine große Lust, auf die Pelzigen zu treffen; daher verließ er kaum noch sein Zimmer. Ein verschüchtertes Jüngelchen brachte ihm jeden Tag seine Mahlzeiten, ein nicht minder verängstigtes Mädchen machte seinen Schlafraum sauber und sorgte auch sonst für Ordnung. Er, Valentin Fisher, hatte endlich Ruhe vor diesem Geschwätz, das nur den Nerv tötete und zu nichts gut war.

Nun allerdings, den ganzen Tag auf sich allein gestellt, begann er den Whisky schmerzlich zu vermissen. Nicht, dass er in seinem normalen Leben unter die Säufer zu rechnen gewesen wäre. Wenn er auch keinen Tag ohne ein gutes Dutzend Schnäpse hatte verstreichen lassen, so hielt sich Fisher doch nicht für einen Trinker. Dass er freilich bis jetzt ohne Alkohol ausgekommen war, schien ihm nicht ganz begreiflich.

Dazu kam noch, dass ihm allmählich das Essen über wurde. Jeden Tag, morgens – mittags – abends, gab es Pflanzenkost. Zwar wurden die verschiedensten Gewächse meist sehr schmackhaft zubereitet, doch Fisher bekam immer mehr einen Heißhunger auf Fleisch. Die Gier nach tierischem Eiweiß wühlte in seinen Eingeweiden und konnte auch durch die köstlichen Salate und Gemüse nicht gestillt werden.

Eines Tages stand unverhofft Lilisan in der Tür. Fisher, der sich gerade einem Tagtraum hingab, in dem ein riesiges Steak auf einem Teller dampfte, schrak zusammen.

»Darf ich mich setzen?«, fragte Lilisan mit der allen Pelzigen eigenen sanften Stimme.

»Aber sicher, nimm nur Platz. Es ist schließlich eure eigene Welt, auf der ich mich befinde!«

Lilisan beachtete die Spitze nicht, die in den Worten des Menschen zu spüren war.

»Wir sind über dich zurate gegangen«, sagte er und richtete seine dunkelbraunen Augen auf Fisher, »und sind zu dem Schluss gekommen, dir noch eine Chance zu geben, ehe wir endgültig entscheiden.«

Valentin Fisher fühlte die Wut in sich aufsteigen. Sollte er sich etwa wieder dieses dumme Geschwätz anhören?

»Muss das denn ewig so weitergehen?«, fragte er böse. »Warum habt ihr nicht Interessen wie andere auch, zum Beispiel: Wann gibt es endlich etwas Richtiges zu essen? Fleisch beispielsweise.«

Lilisan erstarrte.

»Ich bitte dich, einen solchen Frevel nicht mehr auszusprechen!«, stieß er hervor, sichtlich aufgebracht.

»So ist das also! Hier darf man nicht einmal sagen, was man denkt.« Fisher dachte nicht mehr über seine Worte nach. Sie sprudelten über seine Lippen wie eigenständige Wesen.

»Hast du mich verstanden: Ich habe Hunger auf Fleisch!« Lilisan wich vor dem wütenden Menschen bis an die Tür zurück.

»Dann fürchte ich, dass hiermit das Urteil gefällt ist«, sagte er mit trauriger Stimme.

Fisher beachtete die Worte Lilisans überhaupt nicht. Er gab sich ganz seinem Zorn hin.

»Euer betuliches Geschwätz könnt ihr euch sparen. Damit werdet ihr auch nichts erreichen, wenn es einmal hart auf hart geht. Auf der Erde ist noch nie eine Auseinandersetzung oder ein Krieg entschieden worden, weil jemand klug dahergeredet hat!«

»Krieg!«

Man sah förmlich, wie der Pelzige sich versteifte. Er warf Fisher noch einen entsetzten – ja verstörten – Blick zu und stürzte dann hinaus.

Als die Tür hinter ihm zufiel, hörte Fisher zum ersten Mal ein Klicken, als ob ein Riegel einrastete. Er stürzte nach vorn, rüttelte an der Tür. Sie war fest verschlossen.

Er war eingesperrt.

Wie ein wildes Tier.

5

Er kauerte im Schalensitz vor der Steuerkonsole und kam langsam wieder zu Bewusstsein. Es war ihm, als rüttelte er immer noch an der verschlossenen Tür.

Ja, er erinnerte sich. Dann war es auf einmal dunkel um ihn geworden.

Und jetzt … Wo war er?

Sein Blick fiel auf den Sichtschirm. Dort war schwarze Leere. Ein verwaschener Fleck deutete eine Galaxis an, Millionen von Lichtjahren entfernt. Und von rechts schob sich nun ein riesenhaftes, eiförmiges Gebilde gegen die Bildmitte vor.

»Die Welt des Doo.« Nun sah er sie auch einmal von außen.

Da! Es kam ihm voll zu Bewusstsein, dass er ausgesetzt war. Das Volk hatte ihn wieder dorthin zurückgebracht, wo sie ihn aufgelesen hatten.

Und wie damals war seine Lage hoffnungslos. Ohne Aussicht auf Hilfe trieb er zwischen den Milchstraßensystemen in der drohenden, lebensfeindlichen Leere. Und konnte nur warten. Und draufgehen.

Aus dem Lautsprecher kam ein Kratzen. Fisher fuhr zusammen.

»Hörst du mich, Mensch?«

Das war Lilisans Stimme.

»Ja, verdammt. Warum habt ihr mich wieder in diesen Kasten gesetzt?«

»Es musste sein.« Aus der Stimme des Pelzigen sprach kein Mitleid.

»Aber ich werde sterben müssen. Hier hilft mir doch keiner!«

»Das ist richtig. Dir soll auch keiner helfen können. Denn du bist eine Gefahr für alle.«

»Ihr könnt mich doch nicht einfach zum Tode verurteilen!«

Fisher merkte, wie die Wut ihn übermannte.

»Ihr verdammten Heuchler!«, schrie er mit überschnappender Stimme. »Ihr redet von Liebe und Demut und lasst doch andere jämmerlich krepieren.«

»Wir wissen, dass du uns nicht verstehst«, sagte Lilisan, und: diesmal klang Mitgefühl aus seinen Worten. »Und du tust uns leid. Doch auch wir müssen uns treu bleiben. Wir helfen allen Lebewesen im Universum am meisten dadurch, dass wir dich dir selbst überlassen.«

Fisher schlug in ohnmächtigem Zorn um sich, fegte den Lautsprecher von der Wand, trampelte auf ihm herum. Ehe das Gerät zerbrach, hörte der Mensch noch die letzten Worte des Pelzigen:

»Wer im Doo lebt, hat die anderen vor Übel zu bewahren. Und du, du bist das schlimmste Übel, das wir kennen!«

 

Auf dem Bildschirm zog die Welt des Doo vorüber und entfernte sich in das schwarze Niemandsland zwischen den Galaxien.

Valentin Fisher war allein mit sich selbst.

Eigentor (1979)

An: Ministerium für Kultus und Erziehungswesen

Referat IX b —

Terra-City

Verbund Besiedelter Welten

Von: Kommission für die Reform des Erziehungswesens

Der Sekretär für historische Studien –

Betr.: Vorschlag zur Textgestaltung des programmierten »Lehrbuchs zur Historie der Menschheit«.

Terra-City,

12. Tag im 9. Monat d. J. 1075

(neue Datierung)

In Ergänzung unseres Projektentwurfs zur Textgestaltung des programmierten »Lehrbuchs zur Historie der Menschheit« schlagen wir vor, den in Anlage als Kopie beigefügten Textauszug aus dem Tagebuch des cygnianischen Geschichtsschreibers Bythamele Ty Mnomeno in das o. a. Lehrbuch aufzunehmen.

Begründung:

Der vor ca. 200 Jahren verstorbene Cygnianer Mnomeno war der bislang bedeutendste Historiker seines Planeten. Sein Tagebuch galt lange Zeit als verschollen. Ein glücklicher Umstand ließ das auf einer Autografenauktion angebotene Dokument in den Besitz der »Kommission für die Reform des Erziehungswesens, Abteilung Historische Studien« gelangen.

Mnomenos Tagebuchauszug, der hiermit zur Aufnahme in das o. a. Lehrbuch vorgeschlagen wird, ist ein Dokument aus erster Hand und für einen gewissen Zeitraum unserer Geschichte von nicht unerheblicher Bedeutung. Der Text belegt das Schicksal unserer Expedition, die im Jahre 851 (neue Datierung) Cygni II befrieden und für menschliche Besiedlung öffnen sollte. Da damals die Gefahr bestand, dass das Capella-Reich ebenfalls Interesse an einer Kolonisierung des durch von Echsen abstammenden Intelligenzen nur spärlich besiedelten Planeten haben könnte, erfolgte das Unternehmen ohne große vorherige Erkundungsaktion. Man hielt die (recht spärlichen) Daten einer automatischen, unbemannten Sonde, die Cygni II mehrmals umkreist hatte, für ausreichend.

Die Expedition kehrte nie zurück. Spätere Untersuchungen (erst vor 100 Jahren gelang es, eine weitere Sonde auf dem Planeten zu landen und Messungen durchzuführen) ergaben einen erhöhten radioaktiven Strahlenbefall des ganzen Planeten. Man führte dies auf den Beschuss durch unsere Expeditionsflotte zurück. Die Wirren, die in den Jahren 859 bis 866 (nD) den Verbund Besiedelter Welten erschütterten und schließlich zur Eroberung des Capella-Reiches führten, ließen das Geschehen um Cygni II in Vergessenheit geraten. Neuerdings scheint der Planet wegen der erhöhten Strahlung sowieso nicht mehr zur Besiedlung geeignet zu sein.

Mnomenos Tagebuch erhellt das Schicksal jener Expedition. Wir halten den vorgelegten Auszug für geradezu beispielhaft und überaus geeignet, das historische Denken unserer Kinder zu formen, und bitten daher um Aufnahme in das o. a. Lehrbuch.

Dieser Antrag wurde von den Kommissionsmitgliedern gemeinsam formuliert und einstimmig gebilligt.

Kommission für die Reform des Erziehungswesens

Der Sekretär für historische Studien –

gez. S. R. Hoggins

(o. ö. Professor der Historie)

Erste Terranische Zentraluniversität

Anlage: Auszug aus dem Tagebuch des cygnianischen Historikers B. Ty Mnomeno.

ÜBERTRAGUNG DER HANDSCHRIFTLICHEN TAGEBUCHEINTRAGUNGEN VON BYTHAMELE TY MNOMENO (KOPIE DES COMPUTERS):

»Ganz plötzlich waren sie da.

Wenn auch mein Erinnerungsvermögen im Verlauf vieler Jahre nachgelassen hat, dieser Tag wird mir immer gegenwärtig bleiben. Es war strahlend schönes Wetter; die Zeit der Ernte stand vor der Tür. Wie gewöhnlich um diese Tageszeit – das Licht der Zweiten Periode begann am Horizont zu glühen – ging ich am nahegelegenen See spazieren. Ich begegnete niemandem, denn auch damals – wie heute – waren wir ein dünn besiedelter Planet, der dem Einzelnen genügend Raum zur persönlichen Entfaltung gewährt. Durch ein ungewöhnlich durchdringendes Aufblitzen im Gegenlicht wurde ich auf das Geschehen aufmerksam. SIE kamen. Nach einem Augenblick des Wartens sah ich eine ganze Flotte silberner Schiffe am Himmel über mir. Über der nahen Hauptstadt, in der ich damals noch meine Pflichtarbeitsstunden pro Dekade ableisten musste, verhielten die Schiffe – unbeweglich, drohend. Dann ging es los.

Tausende glitzernder Punkte lösten sich aus den Schiffsleibern und taumelten herab. Unübersehbare Mengen atomarer Sprengkörper, dazu bestimmt, unseren schönen Planeten zu versengen. In immer neuen Trauben sank die Vernichtung vom Himmel. Schon zischten die ersten Bomben in den See und ließen heiße, helle Dampfschwaden aufsteigen. Ich stand wie gelähmt. Das Unheil um mich her hatte mich handlungsunfähig gemacht. Ich beobachtete. An meinen eigenen Schutz dachte ich nicht. Durch eine glückliche Fügung kam ich unbeschadet davon – so kann ich als Chronist meiner Pflicht genügen.

Dann schaltete sich unsere Abwehr ein.

Die weitreichenden Geschütze und Energiebatterien holten sogleich Dutzende der silbernen Schiffe herunter. Die Formation geriet in Unordnung. Im Bestreben, dem konzentrierten Beschuss auszuweichen, wurden die Manöver der feindlichen Armada immer unkontrollierter. Schiffe stießen zusammen und stürzten trudelnd in dichten Knäueln ab. Schließlich wandte sich der Rest zur Flucht. Doch kein Schiff entkam. Unsere Abwehr leistete ganze Arbeit.

Aus den Trümmern der abgestürzten Maschinen aber, die zum Teil in unwegsamem Gelände niedergegangen waren, krochen die Überlebenden und flüchteten sich in die Wälder. Und wurden ihre eigenen Opfer.

Denn uns macht radioaktive Strahlung nichts aus. Im Gegenteil: Im Verlauf unserer sieben Entwicklungsphasen sind wir dringend auf sie angewiesen. So dringend, dass unsere Wissenschaftler bereits vor langen Jahren einen Schutzschirm errichtet haben, der das Entweichen der Strahlung in den Weltraum verhindert. Dieser Schutzschirm liegt weit heruntergezogen in der Atmosphäre, um eine Mindestkonzentration der Strahlung zu gewährleisten. Schade eigentlich, dass die feindlichen Schiffe nur Sprengkörper mit extrem kurzer Zerfallszeit einsetzten. Nun müssen wir wieder Mangel leiden.

Für die Angreifer aber wurde die Strahlung zum Verhängnis. Ihre Körper deformierten sich. Ihre Nachkommen glichen kaum noch den Eltern. Sie wurden zu Tieren. Heute noch ist eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen unserer Jugend in der zweiten Entwicklungsphase die Jagd auf die wilden Bestien, die sich einst ›Menschen‹ nannten.«

Kommission für die Reform des Erziehungswesens

An: Kommission für die Reform des Erziehungswesens

Der Sekretär für historische Studien –

Terra-City/BW

Von: Ministerium für Kultur und Erziehungswesen

Referat IX c –

Betr.: Vorschlag zur Textgestaltung des programmierten »Lehrbuchs zur Historie der Menschheit«

Ihr Schreiben vom 12. Tag im 9. Monat d. J. 1075 (nD)

Terra-City,

3. Tag im 11. Monat d. J. 1075 (nD)

Zuständigkeitshalber wurde uns das o. a. Schreiben von Referat IX b im Hause übergeben. Wir bitten, in Zukunft die Zuständigkeiten der Fachressorts besser zu beachten.

Der Antrag auf Aufnahme des Tagebuchauszugs des Cygnianers Mnomeno in das o. a. Lehrbuch für die Schulen im Bereich des VBW wird abgelehnt.

Begründung:

Nach sorgfältiger Prüfung des übersandten Tagebuchteils erscheint ein wünschenswerter Einfluss auf das Denken unserer Schulkinder nicht möglich. Unsere historische Wissenschaft hat als wichtigste Aufgabe und oberstes Ziel, eine positive Einstellung der Bevölkerung zur Geschichte der Menschheit und ihrer verschiedenen Entwicklungsphasen zu erreichen. Der vorgelegte Tagebuchauszug enthält jedoch eine Schilderung, die diesem Ziel entgegensteht. Unwesentliche Fehler politischer und militärischer Führung der VBW sind nicht geeignet, dadurch aufgebauscht zu werden, dass sie in Schulbüchern behandelt werden. Falls notwendig, erscheint eine Darstellung durch einen kompetenten Fachhistoriker möglich, der das Ereignis der Aufnahmefähigkeit der Schüler entsprechend aufarbeitet. Keinesfalls aber kann das Abhandeln solcher Ereignisse durch wörtliche Zitate aus – vermutlich verzerrten – Darstellungen Fremdrassiger erfolgen.

Gemäß § 135, Abs. 3, Unterzeile c, der »Verordnung zur Erneuerung des Gedankenguts an Schulen« wird der Antrag daher als unzumutbar zurückgewiesen und gleichzeitig der Kommission für die Reform des Erziehungswesens ein förmlicher Tadel ausgesprochen. Wir bitten, weitere dergl. Anträge zuvor genauer auf Eignung zu überprüfen.

Weiterhin wird gemäß § 18, Ziffer 7, Abs. 5, »Gesetz zum Schutz der Bürger im VBW« das diskriminierende Dokument beschlagnahmt. Das Tagebuch des Cygnianers Mnomeno ist unverzüglich der im Wohnbezirk zuständigen Unterstelle des Sicherheitsdienstes auszuliefern. Gemäß § 18, Ziffer 8, Abs. 3, steht auf Zuwiderhandeln die Todesstrafe.

Ministerium für Kultus und Erziehungswesen

Referat IX c

gez. Smitt

(Oberverwaltungssekretär)

Durchschlag an: SD, Wohnbezirk E. T. Zentraluniversität.

Der Vogel (1980)

Der kleine Vogel hüpfte immer um den Pfeiler der Turbobahn herum und pickte im Staub. Das Getöse der Bahn über ihm wie auch die vielfältigen Straßengeräusche schienen ihn nicht zu stören. An dem graubraunen Gefieder erkannte der alte Mann auf der anderen Straßenseite, dass es sich um einen Spatz handelte. Nun war er zweiundneunzig Jahre alt, der Greis, und hatte seit Jahren keinen Spatzen mehr gesehen. Er hatte sich freilich noch nie viele Gedanken darüber gemacht, weswegen es immer weniger Vögel gab. Seit einigen Jahren ging er nicht mehr oft auf die Straße; der Lärm und das Gequirle der Menschenmassen stießen ihn ab. Nur manchmal, wenn er es in seinem Zimmerchen gar nicht mehr aushielt, traute er sich für einige Minuten außer Haus – um danach schleunigst wieder in die Geborgenheit seiner vier Wände zu fliehen.

Heute hatte er gerade die Hektik der Durchgangsstraße verlassen wollen, um auf seinem Zimmer die Nachmittagsnachrichten anzusehen, da erblickte er den Vogel.

Der Spatz schien im Straßendreck eine Menge Pickenswertes zu entdecken; denn er kam gar nicht zur Ruhe. Das Köpfchen ging auf und ab, stocherte den Schnabel in den Untergrund; dann ein Hüpfen seitwärts oder nach vorn, und wieder geriet das Köpfchen in Bewegung.

Diese stete Bewegung war es wohl auch, die einige Jugendliche auf den Vogel aufmerksam machte. Die etwa Vierzehnjährigen schlenderten langsam näher und hielten sich dabei im Sichtschatten des mächtigen Pfeilers der Turbobahn. Dabei sprachen sie miteinander, doch das Brausen des Straßenverkehrs war so intensiv, dass der alte Mann auf der anderen Seite der Straße nichts verstehen konnte. Plötzlich bückte sich der eine Jugendliche, für sein Alter hochgewachsen und von Mutter Natur mit einem wirren schwarzen Haarschopf bedacht, griff in den Staub und warf – eine Bewegung ging in die andere über – einen Steinbrocken auf den Vogel, der arglos herumpickte. Die vier Kumpane des Schwarzhaarigen taten es ihm nach, und im Nu prasselte ein Steinhagel auf das kleine Tier nieder.

Der erste Brocken musste bereits getroffen haben, denn als der alte Mann, von den vorbeifahrenden Wagen immer wieder irritiert, genauer hinschaute, lag der Spatz bewegungslos am Boden. Der Alte erkannte in der jugendlichen Gruppe nun auch ein Mädchen, das sich bückte und den Vogel aufhob. Unter der Berührung der menschlichen Hand bewegte der Spatz schwach seine Flügel.

»Lasst den Vogel in Ruhe!«, schrie der Greis mit zitternder, vor Erregung heiserer Stimme, konnte aber den Straßenlärm nicht übertönen. Doch drüben, unter der Turbobahn, bemerkte einer aus dem Augenwinkel das Gestikulieren des alten Mannes und machte die anderen darauf aufmerksam. Ein fast verachtungsvoller Blick herüber, dann wandten die fünf ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tier in der Mädchenhand zu.

Ehe sich der Alte versah, befand er sich mitten auf der Fahrbahn des in dieser Fahrtrichtung dreispurigen Boulevards, getrieben von einer jäh aufschießenden Erregung. Er verursachte Notbremsungen und musste Verwünschungen anhören, doch er kam unbeschadet auf den Mittelstreifen unter der Turbobahn.

Die Jugendlichen gingen ihm nun langsam entgegen, das Mädchen hielt immer noch den Vogel.

 

»Na, Opa, was ist denn los?«, fragte der Schwarzhaarige grinsend.

Von dem waghalsigen Abenteuer der Fahrbahnüberquerung war der Alte außer Atem geraten.

»Lasst … den … Vogel … in Ruhe!«, stieß er hervor. Und dann, nachdem er tief Luft geholt hatte: »Ihr solltet euch schämen, mit Steinen nach dem armen Tier zu werfen und es zu verletzen!«

»Ach, reg dich ab!«, sagte ein anderer Bursche. »Was ist schon an so einem Ding dran!«

Dem Alten schossen wirre Erinnerungen durch den Kopf: an Nachmittage auf sonnenhellen Wiesen, während er den trillernden Lerchen lauschte; an Winternachmittage, wo er den Meisen an den Futterringen zugesehen hatte; an die zeternde und sich balgende Spatzenschar im Hinterhof seines Wohnblocks, wie er sie noch vor Jahren von seinem Fenster aus beobachten konnte. Nun gab es nichts mehr dergleichen.

Aber – wie sollte er diesen halben Kindern mit dem Blick von Erwachsenen dies alles deutlich machen, ihnen das Besondere an diesem einen Spatzen erklären? Sie kannten nur eine Welt voller Autos und Turbobahnen. Was bedeutete ihnen eine Wiese, ein Wald? Und was so ein Spatz?

Der Alte streckte die Hand nach dem Vogel aus, der ihn mit großen Augen ansah. Flehend ansah, so war sein Eindruck.

»Gebt ihn mir«, bat der Greis. »Ich werde ihn gesund pflegen.«

»Bah, so ein Quatsch!«, lachte da der Schwarzhaarige hellauf, die beiden bisher Stummen grienten.

»Aus welchem Jahrhundert stammst du denn, Opa?«

Er nahm dem Mädchen den Vogel aus der Hand. Seine Finger schlossen sich so fest um das Gefieder, dass der Greis selbst den Druck zu spüren glaubte.

Mit einer heftigen Bewegung schleuderte der Schwarzhaarige den Vogel vor sich auf den Boden. Das geschah so schnell, dass der alte Mann keine Zeit zur Reaktion hatte. Der Fuß des Jugendlichen schnellte vor und trat auf den Vogel, drehte sich auf dem Absatz: vor und zurück.

»Da siehst du, was von deinem Vogel übrigbleibt!«

Der alte Mann war zu Boden gesunken; er kniete vor den Überresten des Spatzes. Seine tränenverschleierten Augen nahmen nur undeutlich die Drähte, Schrauben und Blechteile wahr, die aus dem aufgeplatzten Tierkörper quollen.

Hinter ihm entfernten sich lachend die Jugendlichen.