Nomade

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Nach dem ›Sorry, aber …‹ aus Timiaouine hatten die Lausanner auf Vermittlung des Zollchefs von Tamanrasset mich kontaktiert. Und ich war jetzt den dritten Tag unterwegs. Die Sache ist die: In den mittlerweile vierzehn Tagen hätten es die beiden zur Not auch zu Fuß nach Timiaouine schaffen können. Durch schwieriges, weil felsiges Gelände, sicher, aber felsig heißt auch, zumindest teilweise, schattig. Dass sie es nicht getan oder nicht geschafft hatten, ließ schon vermuten, dass etwas Ernsteres vorlag, eine fatale Mixtur aus Kommunikationsabriss und Immobilität.

Gegen Abend stieg das Gelände leicht, aber stetig an, und Felsboden begann sich durch den Sand zu drücken. Überall in der Gegend standen, in höflichem Abstand zueinander, knorrige, blattlose Büsche. Die sinkende Sonne stach mir in die Augen und machte es nicht leichter, die Sträucher zu umfahren. Überflüssige Sorgfalt, könnte man meinen, denn sie sehen tot aus, komplett verdorrt, trocken wie Zunder, doch das täuscht. Ich bin mal für drei Tage mit einem Defekt an der Spritpumpe in einer ähnlichen Gegend gestrandet, hab am Abend des ersten Tages mein Wasch­wasser neben solch einem Strauch ausgeschüttet, am nächsten noch mal, und als ich tags drauf endlich fertig war mit der Reparatur, hatten sich an sämtlichen Zweigen Knospen gebildet, aus denen leuchtend grüne Blätter ans Licht drängten. Man glaubt nicht, wie viel pflanzliches Leben sich hier im Wartestand befindet. Wenn der Passat Regenwolken im Gepäck hat, bleiben die gern an den Bergen hängen, entladen sich in heftigen Güssen. Ohne Wald, ohne Boden, um es aufzunehmen, rauscht alles Wasser die felsigen Hänge hinab, schießt unten in die Ebene und folgt dabei meist schon vorhandenen, häufig tief ins Gelände gespülten trockenen Flussbetten, ›Wadis‹ oder auch ›Oueds‹ genannt. Kaum ist das Wasser durch, pressen sich Blumen und Wildkräuter nur so aus dem Boden, füllen das gesamte Tal in kürzester Zeit mit Farben und Leben, bis ein paar Wochen später alles wieder verblüht, verdorrt, trockenfällt, manchmal für Jahre, manchmal Jahrzehnte, für schlicht und einfach unbestimmte Zeit. Unvorstellbar. Alles, was wir gedanklich mit dem Begriff ›Geduld‹ verbinden, die Flora der Wüste kann darüber nur müde lächeln.

Wir fuhren bis in die Nacht hinein. Der Felsgrund neigte sich irgendwann wieder abwärts und wir legten noch ein paar gute, flotte Kilometer auf ebenem, festem Sand zurück, bis Bella unruhig wurde und ich den Truck auslaufen ließ.

Wir tippelten eine Runde unter den Sternen, dann füllte ich Bella den Napf und kochte Spaghetti. Goss das Wasser ab, teilte die Nudeln – eine Hälfte für Bellas Frühstück –, kippte die andere Hälfte in die Pfanne, mischte Olivenöl, Knoblauch, gehackte Chilischote und eine Handvoll kleingeschnippelter Trockenfrüchte darunter. Der Wind wehte mäßig, also baute ich Klapptisch und -stuhl draußen auf, nahm die Pfanne und ein Stück Fladenbrot mit hinaus und schaufelte mir mein Abendbrot rein. Ein schmaler Fingernagel-Mond zeigte sich am Horizont. Der Auspuff und andere heiß gewordene Teile des Trucks kühlten unter letzten, knackenden Geräuschen ab, danach herrschte Stille. Ich ging rein, wischte die Pfanne aus, verstaute sie in ihrer Lade, brühte mir einen Tee auf, kramte den kleinen Campinggas-Bunsenbrenner aus dem Schrank unter der Werkbank, riss einen Streifen Alufolie ab und schnappte mir ein Feuerzeug, einen gläsernen Strohhalm, ein kleines Küchenmesser und das Senfglas, packte alles draußen auf den Tisch. Windjacke, Jogginghose an, fläzte ich mich in meinen Campingstuhl, säbelte etwas bröckeliges Opium in die längsgefaltete Alufolie, brachte den Brenner zum Fauchen, hielt die Folie über die Flamme und saugte mir mit dem Trinkhalm den entstehenden Dampf in die Lunge. Bisschen heiß im Hals, bisschen bitter auf der Zunge, aber schon ein paar Minütchen später … aah. Jetzt der Tee. Perfekt.

Die Milchstraße beherrschte den Himmel, das Erstaunlichste immer wieder, dass so viel Masse, so viel unbändige Energie in solcher Geräuschlosigkeit vonstattengehen kann. Satelliten rasten kreuz und quer von Horizont zu Horizont und so dicht über meinen Kopf, dass ich meinte, sie mit der Hand einfangen zu können. Ja, genau. Haha. Mit der Hand. ›Like a voodoo chile‹. Ich dampfte noch ein bisschen was. Tee war alle. Wenn schon.

Bella leckte mir die Hand, schreckte mich auf. Zeit für den Abendspaziergang. Also denn. Vollkommen ebener Untergrund, vollkommener Frieden darüber. Absolutes Wohlbefinden.

Zurück am Truck holte ich mir zwei Decken raus, legte eine auf den Boden, streckte mich darauf aus und wickelte mir die andere um den Balg. Lag da, meinen Hund an meiner Seite, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, nur zu bereit, im warmen Schlick des Schlafs zu versinken. Alle Reiseführer warnen davor, doch mit genug Opiat im Blut verliert dieses ganze krabbelnde, schleichende, haarige oder hornige, beißende oder stechende, giftige Getier sehr, sehr, sehr, sehr viel von seinem Schrecken. Alle Reiseführer warnen ja auch davor, das Wasser zu trinken, und …

Die Sonne feuerte ihre ersten Strahlen hoch in den Himmel und quer über die Ebene, genau in mein Gesicht, voll auf die Zwölf. Ich kniepte ein Auge auf und nur eine Sekunde später füllte eine feuchte Hundezunge mein rechtes Ohr, gefolgt von freudigem Ge­hechel. Ich richtete mich auf, ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr. Das Opium summte noch ein wenig in meinen Adern, doch nicht genug, um mich zu hindern, den neuen Tag mit einigem Elan anzugehen. Bella rannte vor, ich mit dem Spaten auf der Schulter hinterher, weit raus in die Ebene, wo ich mir völlig außer Atem ein Loch in den Boden stach, mich drüberhockte und … haarscharf daran vorbeischrappte, glubsch­äugig zu werden. Opium stopft, ich sag's euch.

Ein hastiges Frühstück, Sachen zusammengepackt, und schon saßen wir auf unseren Sitzen, ich glühte den Diesel vor, startete, wartete, dass der Druck im System die Bremsen freigab, und wir waren unterwegs. Fenster offen, Nase oder Ellbogen raus, gerader, fester Grund, die Sonne in den Spiegeln, rechte Hand in Bellas Fell, zwölfter Gang bei Halbgas und Rückenwind, müheloses, einfaches Rollenlassen. Kein Mensch, und nichts von Menschenhand Gemachtes weit und breit, allein unterwegs auf einem fernen, wilden Planeten.

Schon gegen Mittag kamen die ersten Gipfel des Adrar-­des-Ifoghas-Gebirges in Sicht. Wir legten eine Pause ein, ich checkte mein SatPhone – keine neue Nachricht – und stellte die Navi-Funktion meines GPS-­Geräts ein. Mit ein bisschen Glück würden wir den letzten bekannten Aufenthaltsort der Züricher noch heute Abend erreichen.

Keine neue Nachricht bedeutete auch keine Lösegeldforderung, oder noch keine. Sollte eine eingehen, würde ich sofort kehrtmachen und das Weite suchen. Wenn mich die letzten Jahre eines gelehrt haben, dann, mich nicht in die Geschäftspraktiken von Terror­milizen oder der Organisierten Kriminalität einzumischen. Staaten – ich meine: Staaten – haben ihre Schwierigkeiten damit, und die können sie behalten, was mich angeht. Nein, danke. War da, hab’s gesehen, hab’s getan, und hab mehr mit nach Hause gebracht als nur das bedruckte T-Shirt.

Bella und ich dösten ein bisschen, doch schon nach kurzer Zeit wurde ich zappelig, wollte weiter. Vielleicht, nur vielleicht, aber, verdammt, warum nicht?, vielleicht warteten die Züricher ja wirklich auf Hilfe, hatten sich entschlossen, den Schutz und die Vorräte ihres wie auch immer liegengebliebenen Fahrzeugs nicht zu verlassen und würden sich wie verrückt freuen, mich zu sehen. Ja. Ein kurzer, wärmender Gedanke, der nur allzu bald schon wieder der nüchternen Kühle erfahrungsgestützter Skepsis weichen musste.

Egal, wir fuhren.

Das Tageslicht schwand wie von energischer Hand abgedimmt und ich musste sämtliche Scheinwerfer einschalten, um den beständig unebener werdenden Boden auszuleuchten. Das Lenkrad war jetzt in ständiger Bewegung, der Schaltknüppel erst recht. Der Truck hat ein Sechs-über-Sechs-Klauengetriebe, bei dem jeder Gangwechsel durch den Leerlauf muss, mit Doppelkuppeln rauf, Doppelkuppeln plus Zwischengas runter. Braucht eine gewisse Eingewöhnung, doch anschließend wird man mit der Zufriedenheit belohnt, die die Handhabung einer anspruchsvollen, dafür aber wohlgeölt und höchst präzise arbeitenden Mechanik mit sich bringt.

Das Gelände wurde ruppiger, das Vorwärtskommen langsamer und schwieriger, doch ich hatte meinen Spaß. Das GPS gab jetzt kleine, piepende Geräusche von sich, in immer kürzer werdender Taktung, und mein Herz klopfte, weil wir uns unserem Ziel näherten und keiner sagen konnte, was uns da erwartete.

Nun ja. Ich fuhr bis zum Dauerton, stoppte und knipste das GPS aus. Was uns erwartet hatte, war – Überraschung – ein Stück Wüste, mit teils felsigem, vom Wind geschmirgeltem, teils sandigem Grund, und das, soweit das Licht der Scheinwerfer reichte. Ich schaltete sie aus, dann den Motor. Das Herzklopfen der Erwartung gab sich recht bald. Wir waren da, am Ziel, doch viel los war hier nicht. Na, mal sehen, was der Morgen brachte. Es ist immer ein kleines Ereignis, ein mildes Gefühl von Abenteuer, wenn du beim Aufwachen nur vage Vorstellungen davon hast, wo, in welcher Landschaft von welcher Farbe und Kontur du am Vorabend gelandet bist.

Bella verließ mich, trieb sich allein herum, das Luder, wie sie es schon mal gerne tut, ich kochte inzwischen Reis für uns beide. Rührte gekörnte Brühe mit hinein, und einen ordentlichen Schuss Olivenöl. Probierte. Schmeckte irgendwie … bäh. Mir war eh nicht so sehr nach essen. Wir waren da, angekommen am Ausgangspunkt unserer Suche, und das rieb mich auf. Okay, ich aß ein paar Löffel, fürs Gewissen, dann noch ein paar für die Konstitution, ließ den Rest bei geöffnetem Deckel auskühlen.

Holte den Klapptisch raus, den Stuhl, den Bunsenbrenner und was es sonst noch so braucht, um einen Tag am Steuer harmonisch ausklingen zu lassen und erzwungene Untätigkeit erträglich zu gestalten. Morgen war ein neuer Tag, und bis dahin …

 

Bella kam aus dem Dunkel angetrottet, rieb ihren Kopf an meinem Bein und gab dieses tiefe Grummeln von sich, das sich wie auf die Stimmbänder übertragenes Magenknurren anhört.

»Na«, sagte ich, »wolln wir mal sehen, was der Maes­tro so hingezaubert bekommt.« Ich mischte Trockenfutter mit dem Reis und stellte ihr den Napf vor die Nase. Mit wohligem Grunzen machte sie sich drüber her. Sie ist ein großes Mädchen mit gehörigem Appetit, und sie mag alles, was ich ihr vorsetze. Lerne kochen, sage ich immer, wenn du sie an dich binden willst. Aussehen, Einkommen, Sex, Status – alles völlig überschätzt. Lerne kochen, lerne zu kochen, was sie mögen, und sie fressen dir aus der, tja, Hand.

Ich sackte wieder auf meinen Klappstuhl, qualmte ein bisschen was weg. Doch die große, die richtige Ruhe wollte sich nicht recht einstellen. Morgen früh, im ersten Licht, würden wir uns auf die Suche machen, und noch hatte ich keinen Plan, keine Vorstellung, wo anfangen und wohin von da aus.

Ich räumte den Tisch leer, ging rein und holte meine Kartentasche raus. Erst als ich die topographische Karte Südalgeriens auf der Tischplatte ausbreitete und sie liegenblieb, ohne dass ich beide Unterarme und mindestens einen Oberschenkel aufbieten musste, um sie am Davonflattern zu hindern, wurde mir mit einem dankbaren Seufzer klar, dass der seit Wochen unablässig blasende Wind plötzlich eingeschlafen war.

In der Schublade des Schreibtisches neben der Werkbank fand ich ein Lineal, einen Bleistift, einen Spitzer. Ich habe den Truck samt Einrichtung übernommen und brauchte bisher eigentlich immer nur Vorräte aufzustocken – Wasser, Diesel, Gas, Lebensmittel. Alles andere, von Schreib- und Küchenutensilien über Werkzeug bis hin zu bestimmten Ersatzteilen, ist zu meiner anhaltenden Verblüffung irgendwie vorhanden. Die defekte Spritpumpe zu reparieren hat damals auch deshalb drei Tage in Anspruch genommen, weil ich zweieinhalb Tage lang versuchte, die fehlerhafte Dichtung selber zu schnitzen, bis ich am dritten Tag in einer Schublade der Werkbank eine ganze Tüte voll Dichtringe gefunden habe, von denen gleich mehrere exakt passten.

Mithilfe des Lineals übertrug ich im Schein meines Stirnlichts die GPS-Daten auf die Karte, markierte unseren Standort mit einem präzisen Kreuz. Stand dann eine Weile da und sah es mir zufrieden an, bevor ich mir einen Ruck gab.

Die südlichen Ausläufer des Adrar des Ifoghas liegen wie die Finger einer gespreizten Hand auf der Ebene, die Finger dabei felsig, die Zwischenräume sandig. Wir befanden uns an einer Stelle ähnlich der Spitze eines rechten Zeigefingers, mit einer großen, halbrunden Ausbuchtung zur östlichen Seite und einem schmaleren, sich beständig verengenden Tal auf der westlichen. Beides zusammen war viel zu weitläufig, um es an einem Tag erkunden zu wollen, deshalb würde ich mich für eine Seite entscheiden müssen. Und selbst dann musste ich meine Suche räumlich eingrenzen.

Ich knipste mein Stirnlicht aus, fachte den Brenner an, inhalierte Dampf und ordnete meine Gedanken.

Legte man die Durchschnittsgeschwindigkeit, mit der wir uns herbewegt hatten, zugrunde, befand sich Timiaouine etwa anderthalb bis zwei Tagesreisen entfernt. Das bedeutete, die von dort gestartete viertägige Suchaktion war aller Wahrscheinlichkeit nach so vonstattengegangen: Der Suchtrupp war hier rausgefahren, hatte sich ein paar Stunden lang umgesehen und dann wieder auf den Heimweg gemacht. Die unmittelbare Umgebung sollte damit abgegrast sein.

Die Schweizer wollten Felszeichnungen suchen. Diese Bilder stammen aus der Eiszeit, als in der Sahara ein mediterranes Klima geherrscht hatte, mit entsprechender Vegetation und, wenn auch dünner, Besiedlung. Die riesige Zeitspanne seitdem konnten nur Zeichnungen an besonders geschützten Orten überstehen, unter überhängenden Felswänden etwa, oder in Höhlen, auf alle Fälle aber: im Gebirge.

Die Schweizer würden kraxeln müssen, wollten dabei aber ganz bestimmt ihr Mobilheim möglichst nahe zur Hand haben. Über den felsigen Zeigefinger zu fahren dürfte unmöglich sein, selbst mit einem Unimog. Blieben die sandigen Täler. Von hier aus in die Berge, möglichst kommod und so nah wie nur eben machbar ran.

Ich knipste das Stirnlicht an, ging rein, suchte und fand einen Zirkel, knöpfte mir die Karte noch mal vor und zeichnete einen Halbkreis um unseren Standort, der grob der halben Entfernung zu Timiaouine und somit ungefähr einer möglichen Tagesreise entsprach. Einen Halbkreis in Richtung der Berge. Irgendwo zwischen hier und da musste etwas passiert sein.

Ich machte die Lampe wieder aus, setzte mich, griff noch mal zu Brenner und Stanniol. Inhalierte, exhalierte, lehnte mich im Stuhl zurück. Möglichst kommod …

Der Gebirgsausläufer, an dessen Spitze wir campierten, erstreckte sich in Nord-Süd-Richtung, lag also quer zum Passatwind, der drüber hinwegrollt und an der Leeseite den Sand zu einem Chaos von Dünen verwirbelt. Auf der Luvseite bläst er dagegen nur gleichmäßig den Hang hinauf … Wollte ich möglichst kommod so nah es nur ging an die Berge heran, ich würde es durch das weite, halbrunde Becken auf der Vorderseite des Felsausläufers versuchen und nicht durch das sich immer weiter verjüngende Tal auf seiner Rückseite. Und je länger ich darüber nachdachte, je gründlicher ich das Für und Wider abwog, desto sicherer wurde ich mir, dass die Schweizer ganz ähnlich entschieden hatten. Also. Alles klar, alles ganz einfach. Die Fahrtrichtung für morgen früh stand fest. Wunderbar. Es geht doch nichts über einen Zustand entspannter Inspiration.

Die Sonne krallte sich mit gleißender Hitze in meine Lider und ich stöhnte auf, erwachte zu einem grausam verrenkten Hals in dem nicht wirklich zum Übernachten konstruierten Campingklappstuhl.

Noch nicht ganz wach schmiss ich schon alle am Vorabend gezogenen Schlüsse und darauf fundierenden Pläne über den Haufen. Drogen waren immer schon beschissene Ratgeber.

Möglichst kommod, mein Arsch. Die Schweizer mochten nur Hobby-Archäologen sein, aber sie hatten ihre Erfahrungen und ich schätzte, sie wussten, dass das, was sie suchten, sich in einem schroffen, engen Tal wesentlich eher finden lassen würde als in einem exponierten, halbrunden Becken.

Begleitet von Bella joggte ich mir die Steifheit aus den Extremitäten und möglichst auch das Opiat aus den Blutbahnen. Wir hoppelten in Richtung des westlich gelegenen Tals, wo ich mir schon mal einen ersten Blick im frühen Morgenlicht verschaffte, und ja, es war das vermutete Chaos aus kreuz und quer geblasenen Dünen, hellgelb und weich im Kontrast zu den kantigen dunkelbraunen Felsen des Ausläufers und der fernen Berge. Ich hielt an, Puls bis hoch in die Ohren, Atemzüge wie Messerstiche ins Zwerchfell, und besah mir die vor uns liegende Strecke mit einer nicht unfreundlichen und doch grimmigen Entschlossenheit. Hier zu fahren würde nicht einfach werden, doch wer will es schon einfach? Mann, ich konnte es kaum erwarten, in die nächste Oase einzufallen und den Leuten da von meinen neuesten Abenteuern zu erzählen.

Wir gingen zurück, aßen was, tranken was, ich ließ etwas Druck aus den Reifen für eine breitere Auflage, dann schwangen wir uns in die Fahrerkabine.

Bella wurde es bald zu schaukelig, sie glitt vom Beifahrersitz und rollte sich im Fußraum zusammen, mit Hintern und Schultern gegen die Wände links und rechts abgestützt. Ich aktivierte das kurz übersetzte Vorgelege des Getriebes, schaltete die Differentialsperren dazu und hielt das Lenkrad mit leichter Hand, ließ den Truck sich seinen Weg durch die Sandberge wühlen. Auf jedem Kamm orientierte ich mich neu und wurde mir immer sicherer, dass die Dünen zur Mitte des Tals hin abflachten, deshalb schwenkte ich in diese Richtung ein. Es gibt bei fast jeder Suche einen Moment, wo du dich einklinkst, wo deine Fühler Kontakt melden, wo du spürst, du liegst richtig, du kommst nah und näher. Mein Puls pumpte Adrenalin in meine Adern, schwemmte alles andere raus. Meine Augen waren weit, sahen alles, meine Sinne wach, sämtliche Antennen ausgefahren.

Nach Reifenspuren Ausschau zu halten war sinnlos, vierzehn Tage Passatwind hätten die Kettenschneisen einer Panzerarmee ins Nichts geblasen. Ich ließ einfach den Blick schweifen, vielleicht hörte uns ja jemand, vielleicht sah uns jemand, vielleicht winkte uns jemand, folgte ansonsten meinem Instinkt, der mich weiter und weiter nach Norden, aber auch Richtung Talmitte zog, bis wir eine weitere Düne hinabglitten, wie meist mehr rutschend als fahrend, und ich ruckartig auf die Bremse trat, nur einen Meter oder so vor einer scharfen Abbruchkante im Sandboden.

Wir kamen zum Stehen, ich nahm den Gang raus, machte den Motor aus und mein Magen gab ein Geräusch von sich wie ein Korken, den man zurück in den Flaschenhals drückt, ein leises, feuchtes, protestierendes Reibungsquietschen. Vor mir erstreckte sich ein von Nord nach Süd verlaufendes Wadi, mehrere Meter tief, an dieser Stelle gut und gern hundert Meter breit, die steilen Wände gewellt wie Vorhänge, der Boden einladend eben und fest und gut befahrbar. Und in breiten Streifen entlang beider Ränder dicht bedeckt mit jungen, frischen Blüten.

Das sah nicht gut aus. Okay, es war ein schöner Anblick, nur leider überschattet von bösen Vorahnungen. Ich startete den Motor wieder, bugsierte den Truck ein Stück rückwärts, nahm wieder Kurs Richtung Norden, durch die Dünen, folgte dem Rand des Wadis bis zu einer Biegung, in der es das Ufer so weit ausgewaschen hatte, dass ich wie über eine Rampe ins Flussbett hinabfahren konnte.

Die ganzen mechanischen Kletterhilfen waren nun nicht länger nötig, also schaltete ich alles zurück auf normalen Fahrbetrieb. Bella nahm ihren Platz auf dem Beifahrersitz wieder ein, ich wählte einen tiefen Gang und wir krochen langsam das Wadi bergan, mein Magen eine Kakophonie von Quietschtönen. Die Felswände des Tals wuchsen links und rechts in die Höhe und rückten enger zusammen. Auch das Wadi wurde beständig schmaler, dabei steiler. Felsbrocken, die das Wasser aus den Bergen mitgebracht hatte, lagen verstreut herum, manche so groß wie ein Pkw. Ich umkurvte ein paar davon und stoppte dann abrupt. Ich hatte den Unimog gefunden. Oder besser, das Chassis. Oder noch präziser, seine vier Räder, denn mehr ragte nicht aus dem glattgewaschenen Sand her­aus, nur zwei Paar Halbkreise mit Stollenreifen. Der Rest des Fahrzeugs war kopfunter im Sand verschwunden. Ich machte den Motor aus, kletterte aus der Kabine, ging nach hinten und ließ auch Bella raus. Sie sah sich um, folgte meinem Blick, ging zu den Reifen, schnüffelte eine Weile herum und verlor das Inter­esse. Keine Leichen unter dem Sand, hieß das. Nicht hier, zumindest.

Wir liefen ein Stück, weiter hoch. Selbst ohne Blüten sind die von den Wassermassen in Wände aus Fels und Sand gefrästen Schluchten oft von bizarrer Schönheit, laden zum Verweilen, zum Erforschen ihrer Nischen und Ecken, die Schatten bieten und Schutz vor dem unermüdlichen Wind.

Irgendwann wurde mir klar, dass wir in der falschen Richtung unterwegs waren. Das Wadi wurde eng und enger, seine Wände höher und höher. Was immer sich hier vor der Flut befunden hatte, es war weg, fortgerissen.

Zurück im Truck wendete ich, legte den Zweiten ein und wir rollten mit Standgas talabwärts. Nach ungefähr einer Stunde fand ich den Campingaufbau des Unimogs, zusammenfaltet wie ein plattgetretener Karton und halb unter Schwemmsand begraben. Ich hielt an, ließ Bella raus, packte eine Flasche Wasser, das GPS-Gerät und die Nikon in einen kleinen Rucksack, griff mir den Spaten. Wir besahen uns den Aufbau, der mit einer Fensterseite nach oben dalag. Ich brach das Fenster raus, Bella und ich steckten unsere Köpfe in die Öffnung. Das Innere war halbvoll Wasser und Sand gelaufen, ein Durcheinander aus Textilien, Utensilien, Flaschen, Dosen, zerschmetterter Einrichtung, roch aber unverdächtig, einfach nur nass.

Spaten auf der Schulter, Bella dicht bei mir, setzte ich meinen Weg zu Fuß fort. Noch hatten wir zwei Stunden Tageslicht zu erwarten. Nach rund einer Stunde schreckte mich Bella mit einem kurzen Aufheulen aus meinen Gedanken. Nase dicht über dem Boden lief sie in enger werdenden Kreisen um eine bestimmte Stelle herum, bevor sie mit den Vorderpfoten zu scharren begann. Ich sagte: »Lass mich mal«, sie machte Platz und ich stieß den Spaten in den kompakten Sand. Nur ein paar Minuten später gab ich auf. Das Loch lief unaufhaltbar voll Wasser, das Wasser brachte neuen Sand, ein Weitergraben war sinnlos. Ich holte das GPS-Gerät hervor, speicherte die Position und wir gingen weiter.

 

Dreißig Minuten später ragte vor uns ein Fuß aus dem Flussbett. Ein menschlicher Fuß, oder besser gesagt das, was davon noch übrig war, abgenagt und jetzt schon UV-gebleicht. Die Sonne sank, also machte ich mich zügig ans Graben, immer rings um das senkrecht im Sand steckende, nackte Bein. Verwesungsgeruch stieg auf und wurde mit jedem Spatenstich schlimmer, bis auch hier in einer Tiefe von gerade mal einem halben Meter Wasser von allen Seiten einbrach, wofür ich, ganz ehrlich, mehr als nur ein bisschen dankbar war. Spätestens im Frühjahr sollte der Boden weit genug durchgetrocknet sein, um die beiden zu bergen, doch bis dahin war das praktisch unmöglich. Position gespeichert, machten wir uns in rasch fallender Dunkelheit und unter einem theatralisch heraufziehenden Sternenhimmel auf den Rückweg. Bella war vergnügt, all die Blumen, die Feuchtigkeit im Boden, das frische Grün waren Musik für ihre Nase, doch ich fühlte mich leer, enttäuscht, irgendwie mitgenommen. Die beiden Schweizer hatten keinen großen Fehler gemacht, keine Idiotie begangen, nichts, wofür man sich an den Kopf packen müsste. Sie waren einfach nur einem trockenen Flussbett gefolgt, das möglicherweise seit Jahren kein Wasser gesehen hatte und so wirkte, als ob es auch Jahrhunderte gewesen sein könnten. Was also sollte schon passieren? Ja, genau.

Es gab Spaghetti, mal wieder, gefolgt von Opiumdampf und Pfefferminztee. Die Mondsichel wanderte den Himmel hoch, tauchte das Wadi in fahles Licht, und ohne Wind war die Stille vollkommen. Ich holte mein SatPhone raus und schickte die traurigen Neuigkeiten zusammen mit den Geo-Koordinaten nach Lausanne. Ein halbe Stunde später kam die bange Frage, ob ich mir sicher sei, was ich mit einem bedauernden Ja beantwortete. Danach kam nichts mehr außer bestürztem Schweigen. Kristof ›Hiob‹ Kryszinski, auch ›Bad News‹ genannt. Fünf Tage unterwegs und vier gefundene Leichen waren ein neuer persönlicher Rekord, wenn auch kein richtiger Grund zum Feiern. Sitzen und Grübeln half allerdings gar nichts, deshalb rief ich Bella und wir wanderten noch mal ein Stück das Wadi hoch, durch eine von reißenden Fluten surreal geformte Landschaft in vergänglicher Blüte, monochrom im Mondschein, bis es irgendwann Zeit wurde für die Koje.

Die Sonne weckte mich, wie üblich, zu Bellas uneingeschränkter Begeisterung, und während unserer Morgenrunde zog ich Bilanz, versuchte meine gedrückte Stimmung zu verscheuchen. Ich hatte niemanden auf dem Gewissen, ich hatte nur gesucht, gefunden, Meldung gemacht. Haken dahinter. Mehr war von mir nicht zu erwarten, mehr gab es nicht zu tun, nichts weiter dazu zu sagen. Die kommenden Tage konnte ich mich treiben lassen, musste nur den Spritverbrauch im Auge behalten, alles andere war in beruhigendem Maße vorhanden. Also. Rückkehr zur Normalität.

Nach dem Frühstück blickte ich dem Truck unter die linke, dann die rechte Seite der schmalen Schnauze, füllte Öl und Kühlwasser nach, holte den Luftfilter aus seinem Gehäuse, blies ihn aus und setzte ihn wieder ein, warf einen kritischen Blick auf die Keilriemen und den generellen Zustand aller Kabel und Leitungen, fand nichts, was mein Eingreifen nötig gemacht hätte, und verriegelte die Klappen wieder. Zog den spiralförmigen Druckschlauch in die Länge, einmal ums Auto, und brachte die Reifen wieder auf ihren normalen Luftdruck. So.

Brenner und Senfglas standen noch auf dem Klapptisch, und die Versuchung, den Rest des Tages im Tran zu verdödeln, kam und ging. Ich räumte alles rein, machte den Truck startklar. Der Gedanke, den zerstörten Aufbau des Unimogs noch kurz nach Wertsachen zu durchsuchen, kam, und verging ebenfalls. Irgendwas entdeckt man fast immer, doch ich war nicht in der Stimmung, hatte nicht das Gefühl, etwas finden zu können, an dem ich anschließend echtes Vergnügen haben würde.

Weg hier. Nur raus aus dem Wadi. Selbstverständlich wirkt es höchst unwahrscheinlich, dass ein Wüstenflusstal, das nur alle Jubeljahre mal für kurze Zeit Wasser führt, in zwei Wochen gleich zweimal hintereinander durchflutet wird, doch ist die Risikobewertung in dieser Hinsicht eine Bitch: Ist eine Flut durch, ist die Chance, von einer erneuten Welle überrascht zu werden, wieder genauso hoch oder niedrig wie vorher. Es ist, unter umgekehrten Vorzeichen, wie beim Lotto: Niemand hält es für möglich, dass zweimal hintereinander dieselben Zahlen gezogen werden, und doch kannst du jede Woche hingehen und die Zahlen der letzten Ziehung ankreuzen, ohne dass es deine Chancen auf einen Hauptgewinn auch nur um ein Jota schmälert.

Also, weg hier. Nur eins, eins musste noch sein: Ich holte den Zinkeimer raus, scharrte mir damit eine schöne, große, tiefe Mulde in den Boden, sah zu, wie sie voll Wasser lief, zog mich aus, hockte mich nackt in die sandige Brühe und gönnte mir eine gründliche Wäsche, etwas, das bei Wüstenreisen nur allzu leicht zu kurz kommt. Und, einmal dabei, noch eine Rasur. Bisschen wie vor einem Date. Eau de Toilette? Wo hab ich’s nur …?

Jetzt aber. Frische Plörren an, der Mann wie neu, weg hier. Fehlte nur … Bella. In der Mulde, auf dem Rücken, in leichter Wälzbewegung, Zunge halb aus dem Maul, alle Viere hoch in die Luft gestreckt, wohlig grunzend wie eine dicke, glückliche, graue Sau.

Ich geb’s dran, dachte ich. Soll sich doch jemand anders um die Verschwundenen kümmern, sich mit ihren Leichen belasten. Ich will nur noch meine Ruhe, meinen Frieden, meine Freiheit. Und ab und zu mal eine schöne Suhle.

Die Fahrerkabine durchweht vom Duftstoff ›Chien Mouillé‹, rollten wir das Wadi abwärts, bis es in der Ebene in die Breite ging und verschwand. Nur ein paar angeschwemmte Kakteen markierten noch den äußersten Rand der Flut, bis hierhin war sie gekommen, um dann endgültig im Boden zu versickern.

Meine generelle Richtung war zurück nach Tamanrasset, von da vielleicht ins Hoggar-Gebirge oder in die Ténéré, ich war noch unentschlossen, hatte aber auch keine Eile. Ich passierte unseren vorgestrigen Übernachtungsplatz, umrundete die Spitze des Gebirgsausläufers, besah mir die Gegend östlich davon. Eine milde gewellte, durchgehend hell ockerfarbene Dünenlandschaft bedeckte das halbrunde Becken mit seiner fernen Peripherie aus dunkelbraunem Gestein. Neigung und Höhe der Dünen machten einen durchaus befahrbaren Eindruck, doch ich wusste nicht recht, was ich wollte, oder wohin. Gleichzeitig stand die Sonne im Zenit, knallte nur so aufs Dach, da bot es sich an, eine Pause einzulegen und die Entscheidung zu verschieben. Nichts trieb mich, nichts konnte mich zwingen. Ich parkte den Truck zwischen Felsen, kochte mir einen Tee, suchte und fand einen gangbaren Weg hinauf auf das zerklüftete Gestein, setzte mich oben in den Schatten eines großen Brockens, schlürfte Tee und ließ den Blick schweifen. Die Mittagshitze sog Sandwirbel in die Höhe, die für kurze Zeit über die Ebene taumelten, bevor sie wieder in sich zusammenfielen. Bella gesellte sich zu mir, gähnte ansteckend, streckte sich aus und schloss die Augen. Ansteckend, wie gesagt.

Ich hörte Stimmen. Im ersten Moment war ich mir sicher, dass ich träumte, im zweiten, alarmiert, dass nicht. Ich war wach, und jemand rief irgendwas Fragendes. Ich stand auf. Blickte runter zum Truck. Ein weißer Toyota Pick-up parkte dahinter. Er parkte so, dass er meinen Truck zwischen den Felsen fest­nagelte. Jemand sah mich, jemand winkte mir. Mit einem Sturmgewehr. Ja, Scheiße.