Rückkehr zu Gott

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Viertes Kapitel
„Sektenbildung“ seit dem 12. Jahrhundert181

Seit Beginn des 12. Jahrhunderts traten in Westeuropa neue, oft antikirchlich eingestellte Bewegungen in Erscheinung. Diese wirklichen oder Pseudosekten wirkten zwar unabhängig voneinander, und es gab auch keine gemeinsame Organisation, doch das Neue an ihnen war, dass sie zu einer „religiösen Bewegung“ geworden waren, deren Leitgedanken ebenfalls die apostolische Wanderpredigt und die evangelische Armut wurden.“182 Die Wirksamkeit dieser Bewegungen beschränkte sich nun nicht mehr nur auf eine Stadt oder Burg, sondern erfasste ganze Landstriche.183 Von einem möglichen Gründer oder Stifter ist nichts bekannt. Die Anhänger dieser Bewegungen wollten zuallererst ein religiöses Leben in Armut und auf Wanderschaft führen und beriefen sich dabei auf die Evangelien und die Schriften der Apostel. Sie sprachen besonders die nach einer religiösen Lebensform suchenden Laien an, denen der Weg in ein Kloster verwehrt blieb. Neuartige Bewegungen konnten ohnehin nur dann auf Erfolg hoffen, wenn sie „dem erwachenden Drang nach geistigem und religiösem Aufschwung im Abendland entgegenkamen.“184 Dogmatische und weltanschauliche Fragen waren da von geringerer Bedeutung. Viele dieser von der Kirche so genannten Sektierer machten darüber hinaus auf die Menschen einen glaubwürdigeren Eindruck als die offizielle Kirche. Die von der Kirche als Ketzer verfolgten waren davon beseelt, das christliche Leben zu erneuern und die hierarchische Kirche und den Klerus überall dort als nicht wahrhaft christlich zu entlarven, wo er nicht nach dem Beispiel des Evangeliums und der Apostel lebte.185 Die so heftig Angegriffenen Kleriker standen dieser neuen Art der religiösen Bewegung zunächst ratlos und unschlüssig gegenüber.186 Denn es fehlten klar Richtlinien dafür, welche Erscheinungen konkret als Ketzerei zu gelten hatten. Weder der jeweilige Papst noch die Bischöfe trafen bis Ende des 12. Jahrhunderts irgendeine eindeutige Entscheidung.187 Alle bisherigen Beschlüsse von Konzilien und Synoden bezogen sich vorzugsweise auf die Situation in Südfrankreich (die Gascogne, das Gebiet um Toulouse und die Provence), wo Ketzerbewegungen zu einem Politikum wurden, da sich dort der Adel mit ihr verband und die kirchliche Autorität immer mehr an Bedeutung verlor.

Die Situation in den deutschsprachigen Gebieten war jedoch eine ganz andere. Aus Flandern, von wo die Beginenbewegung ausging, kamen beispielsweise im Jahre 1162 Bürger aus verschiedenen Städten an die päpstliche Kurie nach Tours, um Papst Alexander III. um Hilfe zu bitten, da sie vom Reimser Erzbischof und sogar von König Ludwig VII. von Frankreich als manichäische Ketzer beschuldigt worden waren. Die Beschuldigten beteuerten vor dem Papst, nichts mit dieser Ketzerei gemein zu haben. Der Papst aber blieb unentschieden. Immerhin warnte er vor strengen und unbedachten Maßnahmen:

„Es sei weniger schlimm, Schuldige freizusprechen, als Unschuldige zu verurteilen, und Männern der Kirche stehe ohnehin übergroße Nachsicht besser an als übergroße Strenge.“188

Erst Papst Innozenz III. (1198 – 1216) versuchte – auch mit Hilfe der Dominikaner und Franziskaner – die religiösen Kräfte, die in den als häretischen verurteilten Bewegungen zur Entfaltung kamen, für die Kirche zurückzugewinnen. Dieser Papst erkannte endlich die Bedeutung und Chance aller religiösen Bewegungen für das Leben der Kirche.

Die uneinheitliche Beurteilung neuer religiöser Strömungen und die Unfähigkeit, deren Kräfte zu gewinnen, führten tragischer Weise auch dazu, dass kirchlich gesinnte religiöse Gruppen in eine sog. Ketzerei und damit in den Ungehorsam gegenüber der Kirche getrieben wurden. Menschen, die ein religiöses Leben nach der Botschaft des Evangeliums führen wollten, wurden der Ketzerei beschuldigt, obwohl sie sich nicht nur nicht zur Ketzerei bekannten, sondern sogar an der Kurie die Anerkennung ihrer Rechtgläubigkeit zu finden hofften.189 Am Beispiel der Waldenser wird dies deutlich.

I. Die Waldenser 190

Um 1175 gab der reiche Kaufmann Petrus Waldes (+ vor 1218) seinen Reichtum und seine gesellschaftliche Stellung auf, um in apostolischer Armut nach den Weisungen des Evangeliums zu leben. Waldes schloss sich jedoch nicht den sog. Ketzerpredigern an, sondern er suchte Rat bei Priestern und Theologen der Kirche. Er ließ sich von ihnen die heilige Schrift ins Provenzalische übersetzen, um sich aus eigener Kenntnis heraus von ihr leiten und führen zu lassen. Mit gleichgesinnten Frauen und Männern begann er in apostolischer Armut als Wanderprediger gegen die Sünden in der Welt zu predigen. Allerdings lebten sie nun genauso wie viele verurteilte Ketzer. Als ihnen schließlich der Erzbischof von Lyon das Predigen verbieten wollte, gehorchten sie nicht, da dies der Weisung des Evangeliums nicht entspräche, allen Geschöpfen die frohe Botschaft zu verkünden (vgl. Mk 16,15). Sie argumentierten: Man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen (gemäß Apg 5,29). Doch keinesfalls wollten sie sich von der Kirche trennen. Deshalb gingen sie nach Rom, wo gerade das 3. Laterankonzil stattfand, um von Papst Alexander III. (1159-1181) die Anerkennung ihrer Lebensweise und die Erlaubnis zur apostolischen Wanderpredigt zu erhalten. Zudem reichte Waldes auch seine Bibelübersetzung zur Prüfung ein. Durch Waldes wurde die Kirche offiziell zu einer Stellungnahme zu freiwilliger apostolischer Armut und Wanderpredigt gezwungen, da man Waldes und seinen Gefährten keinesfalls zur Last legen konnte, wie die Ketzer gegen die Lehren und Sakramente der Kirche zu sein. Im Gegenteil: Waldes wollte sich in die Ordnung der Kirche einfügen. Doch der Papst und das Konzil versagten völlig. In einer theologischen Prüfung wurde das Anliegen der Waldenser in keiner Weise ernst genommen. Der Leiter dieser Kommission, Walter Map, ein Gesandter des englischen Königs, machte sich über Waldes und seine Gefährten lustig und hielt die ganze Prüfung für lächerlich. Am Ende lobte der Papst zwar die freiwillige Armut des Petrus Waldes, doch die Predigt wurde ihnen verboten; nur wenn sie von ihren Bischöfen oder Priestern dazu aufgefordert würden, sei dies möglich. Da die Waldenser jedoch gerade von ihren Bischöfen und Priestern beargwöhnt wurden, bestand faktisch ein generelles Verbot. Aber nicht nur das Versagen Einzelner führte zur Abweisung der Waldenser, sondern auch die Vorstellung vom hierarchischen Ordo gemäß der gregorianischen Reform, nämlich dass ausschließlich den von Gott dazu berufenen Bischöfen und Priestern das Recht zu Predigt und Seelsorge vorbehalten sei: „Von Gott dazu berufen sind aber nur die 12 Apostel und ihre Nachfolger, die Bischöfe, und die 72 Schüler des Herrn und ihre Nachfolger, die Priester, dazu noch deren Stellvertreter, die Archidiakone und Vikare, sonst aber niemand, weder Mönche noch Laien; und niemand, selbst der Papst nicht, kann irgend jemanden zur Predigt und zur Seelsorge berechtigen außer diejenigen, die nach dieser unveränderlichen Ordnung von Gott dazu berufen sind, - es sei denn, diese von Gott Berufenen selbst forderten jemanden zur Predigt in ihrem Amtsbezirk auf. Aber gerade davor hatte man andererseits die Bischöfe und Priester immer wieder gewarnt, fremde Prediger zuzulassen.“191 Die Waldenser hielten sich indes nicht an die Anordnungen des Konzils. Sie predigten weiter und entfernten sich immer mehr von der Kirche. Sie begannen auch gegen die Sünden des Klerus zu predigen. 1184 wurden sie auf der Synode von Verona mit dem Kirchenbann belegt und gemeinsam mit den Katharern als Ketzer bezeichnet. Begründet wurde dies – an erster Stelle – mit der unbefugten Predigt. Die unbefugte Predigt, selbst wenn sie den Lehren der Kirche entsprach, galt somit als ein wesentliches Merkmal für Ketzerei. Nach ihrer Verurteilung 1184 gerieten die Waldenser immer mehr unter den Einfluss der Katharer und deren manichäischen Gedankenguts. Anfangs hatten die Waldenser diese Sekte noch heftig bekämpft. Jetzt erst, unter dem Einfluss der Katharer, wurden sie zu einer teilweise gefährlichen Sekten. Sie lehnten jegliche kirchliche Autorität und Lehre ab. Katholische Traditionen wie die Sakramente, die Heiligen-, Bilder- und Reliquienverehrung verwarfen sie. Sie waren gegen den Ablass, den Eid, den Zehnt, den Kriegsdienst und die Todesstrafe. Je nachdem, wie intensiv sie dem Katharismus verfallen waren, leugneten sie die Sünde und die Hölle. Durch ein Consolamentum (Handauflegung) auf dem Sterbebett versprachen sie den einfachen Gläubigen eine leichte Erlösung. Doch ihr strenges Leben nach dem Evangelium führte ihnen viele Anhänger zu. Die Waldenser gliederten sich – wie die Katharer – in zwei Klassen: die Vollkommenen (Prediger, Vorsteher, Seelsorger) und die einfachen Gläubigen (Freunde, Förderer, Sympathisanten, gewöhnliche Anhänger). Waldes weihte auch eigenmächtig Bischöfe und Priester. Noch im 12. Jahrhundert verbanden sich die Waldenser in Oberitalien mit den „Armen der Lombarden“. Dort wurden sie in ihrer antikirchlichen Haltung noch radikaler als anderswo. In Metz und in Straßburg tauchten sie ebenfalls auf. Im 13. Jahrhundert breiteten sie sich in Flandern, im Rheintal, entlang der Donau, in der Gascogne, in Burgund und in der Champagne aus. Die Bevölkerung im Rheinland und in Nordfrankreich setzte sich jedoch, im Gegensatz zum französischen Süden, teilweise mit Gewalt zur Wehr. Ab 1199 erfolgte unter Papst Innozenz III. (1198 – 1216) eine Versöhnung mit den Teilen der Waldenser, die nicht völlig von der Lehre des Manichäismus erfüllt waren.192

 

II. Die Katharer 193

Wie viele Waldenser verstanden sich auch die Katharer als die „echten Nachfolger der Apostel.“194 Katharer (wörtlich: die „Reinen“) werden die Anhänger einer über Kreuzfahrer und Tuchhändler vom Balkan nach Europa eingedrungenen gnostisch-christlichen Bewegung genannt, die in Anlehnung an die bulgarischen Bogomilen eine manichäisch-dualistische Lehre entwickelte.195 „Ihr Name stand Pate für das deutsche Wort Ketzer.“196 „Als Lehre vertraten die Katharer (der Name kommt seit 1163 auf) einen manichäisch getönten Dualismus in der zweifachen Richtung einer absoluten und einer gemäßigten Form. Der gute Gott als Schöpfer der Geister, der böse Gott als Schöpfer der sichtbaren Welt vertreten Ordnungen, die durch das Wirken Satans ineinander verschlungen werden. Das Wirken St. Michaels und Christi, welche den Dämon besiegen und dadurch die Geister aus der Herrschaft des Satans erlösen, wird die alte (dualistische, in der Trennung existierende) Ordnung wiederhergestellt. So lehrt der absolute Katharismus. Der gemäßigte kennt einen Schöpfergott, dessen Ordnung durch die Revolte Satans, der die Engel verführt und sie als Seelen den Leibern der Menschen einfügt, gestört wird. Erlöst aus diesem Gefängnis des Fleisches werden sie durch Christus, der nicht Sohn Gottes ist, sondern ein Engel, der in Maria scheinbar Mensch wird. In einem Scheinleib lebt, leidet, stirbt dieser Christus. Der Geist nimmt bei der Taufe im Jordan in ihm Wohnung und bleibt dort bis zur Verherrlichung Christi, kommt dann auf die Apostel herab, teilt sich den Gläubigen durch die Taufe mit, die bei den Katharern keine Wassertaufe ist, sondern ein Exorzismus, Berührung mit den Evangelientext und eine Handauflegung: das Consolamentum. Den Vollkommenen (der führenden Elite) verleiht das Consolamentum Unsündlichkeit, während die einfachen Gläubigen von ihren Sünden jeweils durch das Apparellamentum, eine Art Buße, befreit werden können. Der Tod befreit die Engel für das Paradies, doch scheint auch eine Art Seelenwanderung nicht ausgeschlossen. Dämonen und Verdammte werden beim Weltende vernichtet, eine leibliche Auferstehung gibt es nicht. Gottes Sieg erscheint damit allumfassend. Die Trinität wird geleugnet, eine gottmenschliche Inkarnation nicht angenommen, viele altchristliche Häresien (Gnosis, Monarchianismus, Doketismus, Manichäismus u.a.) scheinen erneuert.“197 Der hohe Anspruch, in wirklicher Armut Christus nachzufolgen, so wie die Apostel dies taten, machte großen Eindruck auf die Menschen.198 Doch glaubten die Anhänger der Ketzerbewegung die einzig „wahren Apostel“, die einzig „guten Christen“ oder die „guten Menschen“ schlechthin zu sein. Dieser Absolutheitsanspruch aber führte zwangsläufig zum Bruch mit der Kirche.199 Aus drei Gründen ging die Kirche mit aller Härte gegen derartige Gruppen vor: „Erstens entwickelte sich aus der Idee, dass die Weisungen der Evangelien und der Apostelschriften der einzige für die Kirche und für Christen gleichmäßig verbindliche Maßstab des religiösen Lebens sei, eine entschiedene Kritik an den Lehren und Bräuchen der Kirche, die zur Ablehnung der meisten Sakramente in ihrer katholischen Form, ebenso der Heiligenverehrung, der Fürbitte, der Fegefeuerlehre usw. führte. Zweitens erkannten die Ketzer, die in der Armut das Leben der Apostel zu führen behaupteten, den Ordo der hierarchischen Kirche nicht an, sondern stellten die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Ordinierung in Frage und bildeten auf Grund ihres Bewusstseins, zur wahren Vollstreckung des Evangeliums berufen zu sein, geradezu eine Konkurrenz-Kirche der ‚guten Christen‘, die in genauer Analogie zur katholischen Kirche in den ‚Vollkommenen‘ oder ‚Erwählten‘ ihren Klerus, in den ‚Gläubigen‘ ihre Gemeinden hatten und sich sogar in einer Art Bistumsverfassung ausgestaltete. Drittens endlich hat sich die Armutsidee und die apostolische Wanderpredigt im Laufe des 12. Jahrhunderts in manchen Kreisen, besonders in Südfrankreich und in der Lombardei, mit dualistischen Weltlehren verbunden und ist, ohne Zweifel vom griechischen Osten her, immer mehr von spekulativen Ideen durchdrungen worden, in denen ein großer Teil der manichäischen Kosmogonie und Mythologie seltsam wieder auflebte.“200

Die katholische Polemik richtete sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts vor allem gegen die manichäische Weltsicht. Der Name „Manichäer“ wurde zum Synonym für den Ketzer schlechthin, obwohl nicht alle Ketzerbewegungen diese dualistische Weltanschauung vertraten, diese sogar teilweise scharf bekämpften.201 Dennoch übte der manichäische Dualismus auf manche Teile der Bevölkerung202 eine große Anziehung aus: „Der Dualismus sagt dem Menschen eindeutiger, was zu tun sei... . Für Menschen, die aus religiösem und ethischen Drang zum Nachdenken über das Wesen der Welt erwachten, war die katholische Weltlehre unendlich viel schwerer zugänglich und begreiflich als die manichäische.“203

III. Die „freien Geister“204

Johannes Tauler und auch andere Mystiker des 14. Jahrhunderts, wie z.B. Taulers Ordensmitbrüder Meister Eckhart (1260 – 1328) und Heinrich Seuse (1295 – 1266) sowie Jan Ruusbroec (1293 – 1381) mussten sich mit einem Gedankengut auseinandersetzen, das einer Gruppierung unter dem Namen „freie Geister“ zugeschieben wurde.205 Der Verdacht, der freigeistigen Häresie anzugehören, richtete sich oftmals gegen Beginen und Begarden.206 Darüber hinaus gerieten Eckhart, Seuse und Tauler durch ihre Lehre vom Zunichtewerden des Menschen, um ganz mit Gott eins zu sein, selbst in eine gefährliche Nähe zum freigeistigen Gedankengut.207

Bei den „freien Geistern“ handelt es sich allerdings nicht um eine organisierte Sekte mit einer einheitlichen Lehre, sondern „allenfalls um eine Häresie“208. Eine Sekte

„ ‚entstand‘ nur deshalb, weil die Verdächtigen [von der Inquisition] immer wieder nach dem gleichen Fragekatalog abgefragt wurden, einem Fragekatalog, der von der Aufzählung der Irrtümer der ´Sekte´ im Dekret Ad nostrum des Konzils von Vienne abgeleitet worden war.“209

Die „freien Geister“ sind deshalb eine „imaginäre Sekte“210, eher eine religiöse Unterströmung, die man jedoch in den verschiedenen religiösen Gruppen oder bei Einzelpersonen fand.211 Weil man diese Häresie aber gerade deswegen nicht konkret bekämpfen konnte, unterstellte man den Anhängern der Freigeisterei häufig auch ein amoralisches Verhalten, wie z.B. unerlaubte Sexualpraktiken.212 Es zeigt sich, dass die Quellen über die „freien Geister“ nicht unproblematisch sind, da die meisten Aussagen aus den Protokollen der Inquisition stammen. Dass diese Aussagen deshalb kritisch gelesen werden müssen, liegt auf der Hand.213 Aus diesem Grund können wir nicht wirklich sagen, wer die „freien Geister“ eigentlich sind.

1. Möglicher historischer Ursprung und Verbreitung

Das Gedankengut der „freien Geister“ hat vermutlich seinen Ursprung in der Ketzerei der „Amalrikaner“ in Paris.214

Die 1210 durch eine Pariser Synode verurteilten Ketzer, Kleriker und Magister der Theologie215, waren Schüler des Theologen und Philosophen Amalrich von Bena (+ 1206). Schon Amalrich wurde gezwungen, seine Lehre zu widerrufen. Grund für seine Verurteilung war nicht sein Hauptgedanke, dass jeder Christ ein Glied Christi sei („Membra sumus corporis Christi“216), sondern die Hintergründe seines Denkens, der Einfluss des Neuplatonismus durch Johannes Scotus Eriugena sowie der Schriften des Aristoteles mit seinen arabischen Kommentatoren. Wahrscheinlich versuchte Amalrich, wie seine Schüler, „die neuplatonische Identitätsphilosophie mit Hilfe der Schriftexegese, vor allem der Deutung paulinischer Sätze zugleich als die wahre Theologie zu erweisen. Denn gerade diese Überzeugung, dass die richtige Philosophie zugleich die wahre Religion sein müsse, ist auch in Eriugenas Denken das treibende Motiv.“217 Das neuplatonische Gedankengut in Verbindung mit der paulinischen Theologie Amalrichs wurde zum Ausgangspunkt der Ketzerei der sog. Amalrikaner. Aber erst durch Amalrichs Schüler, die seine Theologie und Philosophie mit anderen Lehren verbanden und in die Seelsorge einfließen ließen, wurde daraus eine in den Augen vieler in der Kirche gefährliche Irrlehre.218 Amalrichs Schüler lehrten nämlich ein Geschichtsverständnis, „die jenen Gedanken erst ihre ketzerisch-revolutionäre Wendung gab.“219 Ihr Verständnis von Geschichte, das mit dem Denken des Abtes Joachim von Fiore (+ 1202) „auffallend übereinstimmt“220, nämlich der Anbruch vom dritten Zeitalter des Heiligen Geistes nach dem des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament). Diese für sie epochale Wende „entwerte“ und wandele alles Bisherige221: Im neuen Zeitalter des heiligen Geistes beanspruchten sie als die „Spiritualen“ der neuen Epoche, selbst „inkarnierter Gott zu sein wie einst Christus.“222 Der „Spirituale“ in besonders hervorgehobener Weise, aber auch die übrige Welt ist von Gott erfüllt. Aus diesem Grund verlieren die kirchlichen Sakramente ihre Gültigkeit.223 In jedem beliebigen Stück Brot finde man Gott. Also sei die Eucharistie überflüssig.224 Genauso leugneten die Amalrikaner die Sünde: Denn wenn alle Welt von Gott erfüllt ist, muss auch alles Böse von Gott sein. Deshalb kann der Mensch auch kein Sünder mehr sein.225 Daraus schlossen sie, auch das Bußsakrament sei überflüssig.226 Die neue Epoche des Heiligen Geistes verstanden sie als das Zeitalter einer grundlegenden Erkenntnis: „Diese Erkenntnis ist die Auferstehung und eine andere Auferstehung gibt es nicht.“227 Wissen und Erkenntnis sei das Paradies – Nicht-Wissen dagegen die Hölle.228 „Die Ketzer von Paris setzen die wahre Philosophie, die Erkenntnis der ´Spiritualen´ im Zeitalter des Geistes an die Stelle der sakramentalen Formen der Kirche, die der vorhandenen Epoche angehören.“229

Die Lehren der Amalrikaner begegnen uns im freigeistigen Denken wieder: Der „Freigeistige“ sieht sich mit Christus, d.h. mit Gott identisch, wenn sein menschlicher Geist vollkommen frei für Gottes Geist ist, so dass dieser ihn ganz erfüllt. In dieser vollkommenen Einheit und Identität kann der Mensch kein Sünder mehr sein. Hieraus wiederum leiten die Freigeistigen die Lehre von der ledigen, ungebundenen Freiheit230 ab: Der freie Geist kann theoretisch tun, was immer er will, da er eins mit Gottes Geist ist.

Obwohl die Ketzerei der Amalrikaner 1210 verurteilt und Vertreter ähnlicher Lehren, z.B. der Magister Godinus (+ 1212 in Amiens), verurteilt und verbrannt worden waren, tauchten bereits wenige Jahre später, 1220, deren Gedanken, vermutlich verbreitet von männlichen Wanderpredigern, in den religiösen Bewegungen auf, unter anderem auch in nichtsesshaften, umherwandernden Frauengemeinschaften. Darin ist auch ein Grund zu sehen, warum Beginen, ihr männliches Pendant, die Begarden, sowie Vaganten oftmals mit der Ketzerei der Amalrikaner bzw. Godianer gleichgesetzt wurden.231

Um die Mitte des 13. Jahrhunderts – 1261 erstmals historisch überliefert232 – traten in Süddeutschland die ersten freigeistigen Prediger auf und verkündeten, man könne Gott besser „in der Freiheit des Geistes“233 dienen, ohne eine feste (ordensähnliche) Regel zu befolgen.234 Viele Zeitgenossen235, die den religiösen Bewegungen und auch der Frauenfrömmigkeit wohlwollend zugewandt waren, warnten vor dem Einfluss dieses Denkens. Sie kritisierten in diesem Zusammenhang vor allem aber die Maßlosigkeit im geistlichen Leben, die Sucht nach Ekstasen und Visionen.236 Gerade hierin und in dieser Form des freigeistigen Denkens lagen die größten Gefahren für die religiösen Bewegungen im Mittelalter.237