Rückkehr zu Gott

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III. „Spiritualität der Menschwerdung“ bei Johannes Tauler

Eine „Spiritualität der Menschwerdung“ begegnet uns auch in Johannes Taulers Predigten. Tauler spricht in diesem Zusammenhang von einem suchenden Gott, der „offen und ... gereit ... und enpfenglich und ... túrstende“62 („offen und ... bereit ... und empfänglich und ... dürstend“) ist und sich nach Gemeinschaft mit den Menschen sehnt, so dass er dem Menschen sogar „engegen loffende in eime ieglichen ogenblicke“63 („entgegenläuft in einem jeglichen Augenblick“) seines irdischen Lebens.

Dominikus geht es um das Heil der Menschen. Auch Tauler liegt das Heil der Menschen am Herzen. Seine Predigten wollen deshalb den Menschen motivieren, die Gemeinschaft mit Gott zu intensivieren, in einer „gantz wor abeker“64 („vollständigen Abkehr“) von allem, was nicht zu Gott führt und Gott ist, bzw. in einer „gantz wor zuokeren zuo dem luteren woren guote daz Got ist und heisset“65 („vollkommenen Hinkehr zu dem lautern Gut, das Gott ist und heißt“). Diese Hinkehr zu Gott geschieht in der Nachfolge Jesu Christi, denn am Beispiel des irdischen Jesus, wie es in den Evangelien verkündet wird, „vindent wir ... iemer lere genuog, wan er selber ist der weg und kein ander“66 („finden wir ... immer Lehre genug, denn er selbst ist der Weg und kein anderer“). Tauler hebt also wie Dominikus das Vorbild des irdischen Jesus Christus hervor. Meister Eckhart dagegen betont mehr, dass der göttliche Christus eine allgemeine Menschennatur angenommen habe. Eckhart interessiert dabei weniger das konkrete individuelle Menschsein Christi.67

Für Dominikus ist alles Tun Frucht des geistlichen Lebens, der lebendigen Beziehung mit Gott. Auch hier folgt Tauler seinem Ordensvater: Der Mensch wird nicht für sich allein erlöst, sondern immer auch für andere. Alles Tun und Beten dient dem Heil der Welt. Nächstenliebe soll also aus der Einheit mit Gott geschehen, d.h. aus der Kontemplation. Der Einzelne ist als Mitarbeiter an der Erlösung der gesamten Schöpfung beteiligt:

„Die edele creature [der Mensch]) die muos vil adellicher wirklich sin wan die unvernúnftigen creaturen, als der himel. Und dise súllent ime in einer gelicheit nach volgen an wúrkende und schoewende.“68

„Das edle Geschöpf (der Mensch) muss in viel vornehmerer Weise wirkend sein als die unvernünftigen Kreaturen, als der Himmel. Und diese sollen ihm (dem Menschen), was die Gleichheit betrifft, nachfolgen im Wirken und in der Beschauung.“

Auch hier nimmt bei Tauler die dominikanische Armut eine gewichtige Stellung ein.69 Unter dieser versteht Tauler wie Dominikus „ein frilidig, erhaben gemuete, das ungevangen ist von allen dingen“70 („ein freies, lediges, erhabenes Gemüt, das ungefangen ist von allen Dingen“), um ganz offen für Gottes Gnade zu sein.

1 Vgl. u.a. Eck 2006, 17: „Wie lässt sich diese geistige und literarische Nähe dieser beiden Prediger (Tauler und Eckhart) genauer erklären, sind sie doch zeitlich immerhin vierzig Jahre auseinander? Natürlich konnte Tauler Eckharts Vorlesungen und Predigten gehört haben, und sicher besaß er davon Abschriften. Doch ich meine, sie sind vor allem beide in der dominikanischen Tradition groß geworden, die noch relativ jung war, und es erstaunt, wie wenig in den Studien zur Deutschen Mystik darauf hingewiesen wird; bei beiden finden wir sehr lebendige Erinnerungen an Aussagen und Haltungen des heiligen Dominikus. Das Angesicht Gottes ist das gleiche: ein freundschaftlicher Gott, ganz nahe, trotz oder gerade wegen seiner Transzendenz, ein Gott, der die Menschen liebt und der sie unbedingt zu seinen Freunden machen und ihnen seine Geheimnisse mitteilen will. Ein treuer Gott, der die Fehler seines Freundes nicht aufrechnet, sondern durch geheimnisvolles Vergeben aufhebt, und diese Vergebung erzeugt gleichzeitig eine neue Nähe zu ihm. Die beiden Predigerbrüder (Tauler und Eckhart, Anm) wollen wie ihr Gründer Dominikus ‚das Heil bewirken‘.“

2 Lohrum 2000, 41. Zitate: Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum XVI, 155; Thomas, Sth IIa-IIae q. 188 a6: „Das Beschaute anderen vermitteln.“ Vgl. Hauschild I 1995, 324 – 327; Hertz 1981

3 Vgl. Älteste Konstitutionen des Ordens (abgeschlossen unter dem Generalat des Sel. Jordan von Sachsen [1222 – 1237]), Vorwort, b, 246; in Hoyer 2002: „Besonders für die Predigt oder das Seelenheil gegründet.“

4 Müller 2000, 154.

5 Müller 2000, 154.

6 Bedouelle 2000, 81.

7 Jordan von Sachsen, Anfänge, 2002, 37f.

8 V 47, 209, 13-16 (H 61): „Die obersten súllent die nidersten gutlichen leren und stroffen minneklichen, als unser vatter S. Dominicus, des senftmutikeit was als gros, doch mit einem heiligen ernste, wie verkert sin underton woren, sie wurden bekert von sinem stroffende“ („Die Oberen sollen ihre Untergebenen gütig belehren und liebevoll tadeln, wie unser Vater Sankt Dominikus tat, dessen Sanftmut bei allem heiligen Ernste so groß war, dass, wie verkehrt seine Untergebenen gehandelt haben mochten, sie von der Art seines Tadels bekehrt wurden“).

9 Wolter 1999, 22. Nicht verschweigen dürfen wir allerdings, dass ab 1232 Dominikaner der Inquisition dienten, die mit großem Eifer die Rechtsverfahren immer mehr ausbauten und – im Widerspruch zum Willen des hl. Dominikus – das gewaltsame Vorgehen gegen Häretiker und Ketzer förderten (Vgl. Wolter 1999, 272).

10 Schillebeeckx 2000, 57.

11 Vgl. Betto 2000, 174f. (mit Bezug auf Meister Eckhart).

12 Diéz 2000, 153.

13 Vgl. Koudelka 1989, 176.

14 Tugwell 2000. 123f.

15 Vgl. Lohrum 2000, 38.

16 Älteste Konstitutionen, Vorwort b, Hoyer (Hg) 2002, 246.

17 Vgl. Lohrum 2000, 39.

18 Vgl. Lohrum 2000, 24f.

19 Vgl. Lohrum 2000, 25.

20 Vgl. Schillebeeckx 2000, 59.

21 Schillebeeckx 2000, 56.

22 Vgl. Älteste Konstitutionen, Über den Studentenmeister, 29b., Hoyer (Hg) 2002, 290: „In den Büchern der Heiden und Philosophen sollen sie (die Studenten, Anm.) nicht studieren, wenn sie sie auch im Einzelfall anschauen dürften; weltliche Wissenschaften sollen sie sich nicht aneignen, auch nicht die sogenannten ´freien Künste´, außer wenn einmal der Ordensmeister oder das Generalkapitel einen dispensieren möchte, sondern sie, die jungen wie die anderen, sollen nur die Bücher der Theologen lesen.“

23 Schillebeeckx 2000, 59.

24 Lohrum 2000, 26.

25 Koudelka 1989, 177.

26 Vgl. Gnädinger 1993, 21f.: „Die auf dem Generalkapitel von 1305 für alle Konventsmitglieder als Beschluss gefasste Verpflichtung, über die eigene Studienzeit hinaus, an hausinternen Hauptvorlesungen, der lectio ordinaria, und an den für Studenten übungshalber durchgeführten Repetitionen und Disputationen teilzunehmen, hielt wohl auch Taulers theologische Interessen wach und sein Wissen auf einem aktuellen Stand. Eindeutig zeigt sich indes im nachgelassenen Predigtwerk, dass Taulers Aufmerksamkeit denjenigen Fragen und Lehrpunkten gelten musste, welche die ihm eigene Lebenslehre fundierten.“

27 Koudelka 1989, 103.

28 Koudelka 1989, 103.

29 LCO 1, IV (Liber Constitutionum et Ordinationum Ordinis Fratrum Praedicatorum, Rom 1969), Vgl. Lohrum 27f.: „In der gegenwärtigen Konstitution heißt es, dass ‚Predigt und Lehrtätigkeit aus der Fülle der Kontemplation fließen sollen.‘ ... Nun ist in den ältesten Konstitutionen des Ordens der Begriff Kontemplation nicht zu finden. Es heißt dort, sie sollen ‚mit Gott über Gott sprechen‘. – In den Konstitutionen von 1505 taucht zum erstenmal gleich mehrmals der Begriff Kontemplation auf: ‚Der Orden der Predigerbrüder ist gemäß seinen Konstitutionen darauf hingeordnet, sich der Kontemplation zu widmen und den andern die Frucht der Kontemplation darzubieten‘. Der Einfluss des hl. Thomas von Aquin ist sehr deutlich; denn die Konstitutionen übernehmen die Terminologie aus der Summa theologica.“ – In Sth. IIa-IIae q. 188 a. 6 stellt Thomas die Frage, ob ein Orden, der sich dem kontemplativen Leben widmet, wichtiger ist als ein Orden, der sich dem tätigen Leben hingibt. Dabei stellt er fest, dass es ein tätiges Werk gibt, das ‚aus der Fülle der Beschauung fließt‘, nämlich das Lehren und das Predigen.

30 Lohrum 2000, 27.

31 Vgl. Lohrum 2000, 29.

32 Thomas, Sth.IIa-IIae q. 180 a.1, a.3, a.4.

33 Vgl. Sudbrack 1999, 118: „In der klassischen Mystik-Lehre unterscheidet man die ‚erworbene‘ (acquista), die durch Übung erlangte Anfangsstufe der Kontemplation, von der ´eingegossenen´ (infusa), die als Geschenk den Höhepunkt darstellt.“

34 Vgl. Thomas, Sth. IIa-IIae q.180 a.3; Lohrum 2000, 29f.

35 Vgl. Thomas, Sth. IIa-IIae q.180 a.4.

36 Thomas, Sth. IIa-IIae q. 188 a.6.

37 Lohrum 2000, 31.

38 Weitere sog. „Mittel“ zur Erreichung des Ordenszieles sind für Dominikus das gemeinschaftliche und klösterliche Leben, das sich an der Jerusalemer Urgemeinde orientiert; sodann die evangelischen Räte (durch den Gehorsam werden die Brüder zum Wort bestellt, durch die Ehelosigkeit werden sie frei zur völligen Hingabe an Gottes Wort, die Armut macht sie frei von allen irdischen Anhänglichkeiten, um Gott zur Verfügung stehen zu können); die Feier der Liturgie, vor allem der Heiligen Messe, wobei das Chorgebet dem Ordensziel untergeordnet ist. Um des Studiums und der Predigt willen, kann der Prediger von der Teilnahme dispensiert werden (vgl. Lohrum 2000, 32 – 40).

 

39 Müller 2000, 76.

40 Vgl. Müller 2000, 76. Diese Vorstellung können wir auch bei Eckhart und Tauler wiederfinden.

41 Díez 2000, 155f.

42 Zur Geschichte des Modells „vita activa“ und „vita contemplativa“: Siehe Mieth 1969, 29 – 117.

43 Vgl. Thomas, Sth. IIa-IIae q. 188 a.6: “Wie nämlich das Erleuchten größer ist als das bloße Leuchten, so ist es etwas Größeres, das Beschaute anderen zu vermitteln als bloß zu beschauen.“

44 Vgl. Mieth 1969, 112: „Erst der Dominikanerorden verlegt den Schwerpunkt seiner Existenz auf das Apostolat in Predigt und Lehre, die nach Thomas die höchste Form des aktiven Lebens darstellen. Danach bedeutet nun auch im Ordensleben die ‚vita activa‘ mehr als eine bloße Präparation der Kontemplation; in ihren höchsten Akten wird sie zum eigentlichen Ziel der kontemplativen Lebensführung. Aktion und Kontemplation begegnen sich in der ‚vita contemplativa‘.“ - Meister Eckhart und Johannes Tauler konnten als „Söhne“ des hl. Dominikus erst durch dessen Spiritualität eine „geschichtliche Grundlage“ (Mieth 1969, 26) schaffen für „die Spiritualität des tätigen Lebens“ (Mieth 1969, 26).

45 Vgl. Díez 2000, 143 – 164.

46 Díez 2000, 143 merkt dazu an: „Es birgt schwerwiegende Risiken in sich, diese grundlegenden Prinzipien zu vergessen und beispielsweise in einen sterilen Kongregations-Narzissmus zu verfallen beziehungsweise den Bezug zur einzigen Norm jeglicher christlicher Spiritualität zu verlieren, nämlich zum Geist und zur Praxis Jesu. Diese Risiken bestehen häufig, wenn die Konstitutionen einen absoluten Wert erhalten und sogar dem Evangelium vorgeordnet werden.“

47 Díez 2000, 143.

48 Vgl. Díez 2000, 145f.

49 Tauler spricht von den „frijen geisten, die in valscher friheit glorieren“ („freien Geistern, die sich einer falschen Freiheit rühmen“) (V 48, 219, 1 [H 78, 604]). Und weiter merkt Tauler an (V 48, 11-18 [H 78]): „In etlichen landen vint man lúte die einer valscher lidikeit phlegent und tunt sich aller wúrklicheit ab, und inwendig hutent si sich vor guten gedenken, und sprechent si sin ze friden komen, und enwellent sich och nút uben an den werken der tugende und si sin dar úber komen. Sie hant ein túfellin bi sin sitzent, das verbút allem dem das si von innan und von ussen entfriden mag gedenken und in allen wisen, umbe das si in dem friden bliben, umbe das er si denne her nach mit imme fúre in einen ewigen unfriden, in sin helle; dar umbe behút er in iren valschen friden“ („In manchen Ländern findet man Leute, die eine falsche Ledigkeit pflegen und alle Tätigkeiten abweisen; sie hüten sich sogar vor guten Gedanken und sagen, dass sie in Frieden seien; und auch Übungen der Tugend wollen sie nicht vornehmen, [da] sie darüber hinausgekommen seien. Sie haben einen kleinen Teufel bei sich wohnen, der alles unterbindet, was sie von innen und außen aus ihrem [falschen] Frieden vertreiben könnte, in ihrem Denken oder sonst wie; er erhält sie in diesem Frieden, damit er sie später [in ihrer Todesstunde] mit sich führen könne in ewigen Unfrieden, in seine Hölle; aus diesem Grund bewahrt er ihnen ihren falschen Frieden“). Vgl. auch V 54, 250,4 – 34 (H 52, 401).

50 Vgl. Dinzelbacher 1998, 16f. („Amalrikaner“) 179ff. („freie Geister).

51 Díez 2000, 145.

52 Díez 2000, 146.

53 Díez 2000, 146.

54 Díez 2000, 147.

55 Díez 2000, 153.

56 Díez 2000, 154.

57 Gemäß Phil 2,6-11: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ´Jesus Christus ist der Herr´ zur Ehre Gottes, des Vaters.“

58 Díez 2000, 155.

59 Díez 2000, 162.

60 Díez 2000, 163.

61 LCO 1, IV.

62 V 27, 111,12f.

63 V 27, 111,13f.

64 V 12, 59,31f.

65 V 12, 59,32f.

66 V 20, 81,20f. Das ganze Zitat lautet in V 20, 81, 19ff.: „Obe alle meister tot werent und alle buch verbrant werent, so vindent wir an sime heilige lebende iemer lere genug, wan er selber ist der weg und kein ander“ („Und wenn alle Meister tot wären und alle Bücher verbrannt wären, so fänden wir in seinem heiligen Leben immer Lehre genug, denn er selber ist der Weg und kein anderer“).

67 Vgl. Eckhart, Predigt 46, Largier Bd. 1, 490,21 – 25: „Das êwige wort ennam niht an sich disen menschen noch dén menschen, sunder ez nam an sich eine vrîe, ungeteilte menschlîche nattûre, diu dâ blôz was sunder bilde; wan diu einfaltige forme der menscheit diu ist sunder bilde“ („Das ewige Wort nahm nicht diesen oder jenen Menschen an, sondern es nahm eine freie, ungeteilte menschliche Natur an, die da rein war, ohne Individualzüge; denn die einfaltige Form der Menschheit ist ohne Individualzüge“).

68 V 39,157,5ff. (H 40).

69 Eckhart hat den Gedanken der Armut weiterentwickelt durch die Begriffe Abgeschiedenheit, Gelassenheit und Armut des Geistes. Alle drei Begriffe meinen dasselbe: Frei-sein für das ungehinderte Wirken Gottes im Menschen. Siehe auch den zweiten Teil, drittes Kapitel, IV.

70 V 8, 37,3f.

Zweites Kapitel
Die „deutsche Albertschule“ und die Lehre des Intellekt

Eine wichtige geistige Grundlage für die gesamte „deutsche Mystik“ und für Johannes Tauler ist die „deutsche Albertschule“ und deren Lehre vom menschlichen Intellekt.71 Dieses spezifisch aus der albertinischen Philosophie ausgehende, gegen die Intellektlehre des Thomas gerichtete deutsche Denken ist der Schlüssel zum Verständnis von Eckharts und damit auch zu Taulers Seelengrundspekulation.72

Albert der Grosse (Albertus Magnus) (ca. 1193 – 1280) kommentierte die Lehre des Aristoteles, vermittelt durch den arabischen Philosophen Averroes (1126 – 1198), da dessen Kompendium aristotelischen Denkens ins Lateinische übersetzt worden war.73 Auf die averroistische Deutung des Aristoteles aufbauend, entwickelte Albert eine Seelenlehre, die auf der einen Seite von Thomas von Aquin und auf der anderen Seite – allerdings in direkter Opposition zu Thomas und der von ihm vertretenen Scholastik – von Dietrich von Freiberg (1250 – 1318/20) und Berthold von Moosburg weitergedacht wurde.74 Dietrich von Freiberg beeinflusste mit seiner Intellektlehre Meister Eckhart75 und (über Eckhart und Berthold von Moosburg) auch Johannes Tauler. Nicht zu Unrecht lässt sich deshalb eine Linie von Albert über Dietrich zu Eckhart ziehen.76 Eckhart übernahm jedoch nicht nur einfach die Lehre Dietrichs. Gerade in der Deutung des intellectus geht Eckhart eigene Wege, die wiederum Tauler beeinflussten.

Sehr lange wurde der Einfluss Alberts des Grossen auf die Geistesgeschichte sehr einseitig gedeutet. Im europäischen Zusammenhang galt er vor allem als der Lehrer des Thomas von Aquin.77 Dabei wurde übersehen, dass Albert in seiner deutschen Heimat Schüler hatte, die, auf ein durch Albert vermitteltes neuplatonisches Fundament aufbauend, eigene Denkwege gingen und mit diesen der Scholastik des Thomas von Aquin Widerstand leisteten.78 Diese Denker – Meister Eckhart vielleicht ausgenommen – blieben lange Zeit gänzlich unbekannt.79 Dabei sind diese deutschen Albertschüler – vor allem Dietrich von Freiberg (1250 – 1318/20) – der Schlüssel zum Verständnis Meister Eckharts (und über diesen auch Taulers).80 Bis zu deren „Wiederentdeckung“ durch die Herausgeber des „Corpus Philosophorum Teutonicum Medii Aevi“ vermochte man das Denken Eckharts nicht immer nachzuvollziehen, da man dessen geistige Grundlage nicht richtig kannte: Der Dominikaner Heinrich S. Denifle (+1905) nannte Eckhart 1886 zwar einen Scholastiker, zuvor wurde er u.a. vom evangelischen Theologen Carl Wilhelm Schmidt als Antischolastiker bezeichnet81, allerdings glaubte Denifle „auf Grund seines thomistischen Vorverständnisses, das sich als Vorurteil erweisen sollte, Eckehart als undisziplinierten Scholastiker bezeichnen zu dürfen und sprach ihm jede höhere philosophische Begabung ab.“82 Doch in Wahrheit hat Denifle „Eckhart in seinem Grundanliegen nicht verstanden.“83

Dieses Grundanliegen hätte Denifle verstehen können, wenn er sich von der Scholastik des Thomas als Vorverständnis für Meister Eckhart hätte lösen können und stattdessen einen Blick auf die deutschen Vertreter der albertinischen Richtung geworfen hätte.84 Denn gerade zwischen 1250 und 1350 entstand eine autonome deutsche philosophische Kultur, die mit der Blüte der sog. „deutschen Mystik“ zusammenfiel.85 Dies war kein bloßer Zufall, sondern hängt – wie Sturlese zeigt – eng mit Albert dem Grossen zusammen.86 In der Geschichte der Philosophie ist Albertus Magnus „Ausgangspunkt und Beweger einer deutschen Sonderentwicklung, die das philosophische Denken in Deutschland für ein Jahrhundert ... der Provinzialität entriss und auf eine Höhe führte, die es erst mit Leibniz wieder gewann.“87

Bevor wir konkreter auf das (für diese Arbeit notwendige) Denken Alberts zu sprechen kommen, wollen wir kurz auf die zwei Albert-Richtungen in Deutschland blicken. Vertreter der einen Richtung, die Tauler maßgeblich beeinflusste, sind Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart; an der Spitze der anderen Richtung steht Johannes Picardi von Lichtenberg – „drei Persönlichkeiten von Format, alle drei Dominikaner-provinziale, Magistri der Theologie, Pariser Professoren.“88

„In Paris lehrte Dietrich 1296, Eckhart 1302 und 1311, Picardi 1310. Alle drei trugen dort quaestiones und quodlibeta vor, lasen über die Sentenzen und die Heilige Schrift, hielten Universitätspredigten. Aber es gibt keine Spur davon, dass diese Tätigkeit bei ihrem Pariser Publikum mehr als eine gewisse Neugier weckte. Pariser Quodlibeta von Eckhart, Dietrich, Picardi kennen wir nicht. ... In Deutschland hingegen wurden die Werke dieser Meister gesammelt, benutzt, diskutiert und in einigen Fällen sogar in die Volkssprache übertragen.“89

Für Sturlese zeigt sich in der unterschiedlichen Aufnahme der Werke dieser deutschen Dominikaner, dass es zu jener Zeit bereits eine eigenständige deutsche philosophische Kultur gegeben haben könnte. In dieser wiederum sieht er die philosophischen Ursprünge für die sog. „deutsche Mystik“.90

Die von Johannes Picardi vertretene Richtung sieht in Albert vornehmlich den Aristoteles-Kommentator und Naturwissenschaftler. In Picardis Quaestiones von 1303 wird Albert fünfmal ausdrücklich erwähnt:

„Zwei Zitate betreffen die Auslegung von sehr spezifischen Aristoteles-Stellen, die übrigen beziehen sich auf zwei große naturwissenschaftliche Fragen, nämlich die Mischung der Elemente und die Natur des Lichts.“91

Thomas von Aquin wird dagegen bei allen wichtigen theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Fragen genannt – nicht weniger als 15-mal. Picardi hat Albert „ausschließlich als Aristoteles-Kommentator oder als ‚Wissenschaftler‘ benutzt.“92 Die Interpretation Picardis wurde von vielen deutschen Dominikanern übernommen.93 Picardis Richtung entsprach dem Denken der europäischen Scholastik.94 Im deutschen Sprachraum existierte jedoch noch eine Alternative zu dieser Deutung: Für Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart, den Dietrich-Schüler Berthold von Moosburg und Johannes Tauler ist Albertus Magnus nicht nur der Aristoles-Kommentator und Naturwissenschaftler, sondern darüber hinaus ein Neuplatoniker.95 Bereits einer der ersten Schüler Alberts, Ulrich Engelbert von Straßburg96 (ca. 1225 – 1277) hat in seinem „Summum Bonum“ (von 1270), der ersten „Summe des Albertinismus“97, eindeutig bezeugt:

 

„Im Denken Alberts koexistieren aristotelische Lösungen mit einer neuplatonischen Metaphysik, die Wissenschaft Alberts ist durchsetzt von magischen, hermetischen Elementen.“98

Ulrich hat in seinem Werk „De summo bono“ sechzehn verschiedene Kapitel aus Alberts „De causis et processu universitatis“ wörtlich abgeschrieben – einer der am stärksten neuplatonisch orientierten Schriften Alberts, wie Sturlese hervorhebt99:

„Alle aus De causis exzerpierten Stellen drehen sich um neuplatonische Thesen, und zwar: Die Lehre von Gott als ´allgemein tätigem Intellekt´ (intellectus universaliter agens); ferner die intellektuelle Emanation der Welt aus Gott, ‚fluxus‘, die Theoreme der ‚causa essentialis‘ und der vierfachen Einteilung der ‚causae primariae‘, der Weltgründe: Gott, Intelligenzen, Himmelsseelen, Natur; endlich, die ‚anima nobilis‘-Lehre und die damit verbundenen Fragen nach den Intelligenzen und der Himmelsbewegungen.“100

Bemerkenswert sei auch, dass Ulrich die Thesen Alberts ganz bewusst in den theologischen Kontext seiner Summe aufnahm und ihnen dadurch eine theologische Autorität verlieh: „Er hat damit den Weg zur Würdigung des neuplatonischen Aspektes im Denken Alberts geebnet.“101 Wenn Ulrich in seiner Summe deshalb Platon den Vorrang einräumt102, bedeutet das keineswegs die vollkommene Ablehnung des Aristoteles. Ulrich glaubte wie Albert an das „komplementäre Verhältnis zwischen Plato und Aristoteles.“103 Die deutsche Albert-Schule um Dietrich von Freiberg vertrat die gleiche Sicht, was schließlich dazu führte, dass insbesondere der Neuplatoniker Proklos gerade in Deutschland großen Anklang fand104:

„Das Ansehen, das Proklos in Deutschland genoss – die Elementatio theologica bei Dietrich von Freiberg und Eckhart, die 1280 übersetzten Opuscula bei Berthold von Moosburg und Tauler – hatte im ganzen Mittelalter anderswo nicht seinesgleichen.“105

Ulrich bezeichnet in seinem Werk Albert als einen „expertus in magicis“, als einen, der Erfahrung in den „magischen Künsten“ habe.106 Dazu bemerkt Sturlese:

„Expertus in magicis ist weder ein Hinweis auf die ‚angewandten Wissenschaften‘ ..., noch ein naives Missverständnis ... . Es ist eine Redewendung, welche Ulrich aus Alberts De anima entnahm und mit der beide, der Meister und der Schüler, auf die hermetische Nekromantie Bezug nahmen.“107

Albertus Magnus hat in seinem Gesamtwerk mehr als 109-mal Gedanken des Hermes Trismegistos108 ausdrücklich übernommen und nur fünfmal kritisiert. Ob ihm an einer Versöhnung des Hermes und des Hermetismus mit Platon und Aristoteles lag, wie Sturlese fragt, lässt sich jedoch nicht beantworten.109 Wie dem auch sei, Albert fand in den hermetischen Schriften Anknüpfungspunkte für seine Intellektlehre. Ruh zeigt, dass Albert den Satz „Homo nexus est dei et mundi“ („Der Mensch ist das Band, das Gott und Welt verbindet“) dem Hermes zuweist.110 Sodann zitiert Ruh einen Abschnitt aus Alberts Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles:

„Im Buch ‚Vom Gott der Götter‘, das [seinem Schüler] Asklepius gewidmet ist, sagt Hermes Trismegistus in erhabener Weise, der Mensch sei das Band zwischen Gott und Welt, indem er nämlich über der Welt steht mit einer doppelten Erkenntnisweise (indagatio), einer sinnlichen (physica) und einer abstrakten (doctrinalis), durch die der menschliche Verstand seine Vollendung erreicht: in dieser Hinsicht kann er zutreffend ‚Lenker der Welt‘ genannt werden. Insofern der Mensch jedoch unter Gott mit diesem verbunden ist (subnexus deo), empfängt er die göttlichen Herrlichkeiten, die nicht der Welt und mit ihr Raum und Zeit angehören, empfängt sie dank seiner in ihm angelegten Ähnlichkeit mit Gott durch das Licht des einfachen Intellekts, der am Gott der Götter teilhat.“111

Was Albert hier mittels des Hermes beschreibt, ist die Erleuchtung des menschlichen Intellekts durch den göttlichen Intellekt, was den Menschen gottähnlich und die Vereinigung mit Gott erst möglich macht.112 Das sind Gedanken, die von Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart aufgenommen und weitergeführt worden sind. Halten wir mit Sturlese fest:

„Kein Zweifel, dass Albert die deutsche philosophische Kultur am tiefsten prägte. ... Die Stilisierung Alberts zum Wissenschaftler wurde von den Thomisten verfolgt und hatte im Wesentlichen den Zweck, seine Autorität im allgemeinen philosophisch-theologischen Bereich einzuschränken. Andere versuchten, Albert zum Schutzherrn einer neuplatonisch-hermetisch orientierten philosophischen Richtung zu erheben. Dies entsprach einer Interpretation, die schon zu Alberts Lebzeiten entstanden war, eine bedeutende Entwicklung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts erlebt hatte und die konkurrierende thomistische Richtung zu einer stetigen Auseinandersetzung zwang. ... Alle Persönlichkeiten, die an dieser Debatte teilnahmen, waren Dominikaner. Von der Gründung des Kölner Studium Generale (1248) bis zur Gründung der ersten deutschen Universität (Prag, 1348) kontrollierte der Predigerorden alle deutschen Bildungsanstalten von Bedeutung. Dies alles wirft ein neues Licht auf die Frage, warum Albert auf die deutsche philosophische Kultur des 14. Jahrhunderts so stark wirkte. Es bestimmt auch das, was man ‚deutsche spekulative Mystik‘ nennt. Deren Konturen decken sich mit denen der neuplatonisch-hermetischen Strömung – einer philosophischen Strömung, die ihre Autoren, Texte, Bildungsstrukturen, Träume hatte, und an deren Spitze Albert der Große stand.“113