X-World

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Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sich um sein Handy handelte, das einen Anruf meldete. Hastig hob er die Hand und vollführte eine Doppelschleife in der Luft. Als das Display erschien, loggte er sich aus dem Spiel aus und riss sich den Helm vom Kopf. Jetzt konnte er auch den Klingelton hören – die Titelmusik der Uraltserie „Raumschiff Orion“, deren antikem Charme er vor langer Zeit verfallen war.

Er stellte die Verbindung her. Der Anrufer sprach mit asiatischem Akzent: „Guten Tag, Herr Schäfer, Kim hier von ‚Future Computing‘. Ich wollte mich nur bei Ihnen erkundigen, ob unser Paket Sie erreicht hat.“

„Oh ja, das hat es.“

„Und funktioniert alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Ja, bestens, vielen Dank, Herr Kim.“

„Sehr schön. Dann sind wir gespannt auf Ihre Präsentation. Mein Chef hat hohe Erwartungen an Sie.“

1. BIT AND BYTES

Die weiße Stadt leuchtete im Licht der Morgensonne. Einfache Hütten von Handwerkern und Fischern bildeten einen schimmernden Rand, weiter innen glänzten die herrschaftlichen Häuser der Kaufleute und Bürger. Doch das alles war nichts im Vergleich zu dem prunkvollen Palast aus weißem Marmor, der in der Mitte erstrahlte. Auf allen Türmen wehte die Fahne des Königs. Ein perfektes Motiv für einen Maler – doch müsste er sich mit seiner Kunst beeilen, denn so, wie die Dinge lagen, waren die Stunden dieses Ortes gezählt.

Unaufhaltsam rückten die schwarzen Heerscharen vor und zogen einen dunklen Ring um das leuchtende Juwel. Die Zahl der Angreifer war unermesslich. Die weiße Stadt glich bald einer Perle auf schwarzem Samt. Es war absehbar, dass sie sich binnen Kurzem erst zum feuerroten Rubin wandeln und schließlich als rauchende Kohle enden würde.

Die feindlichen Truppen brachten ihr Kriegsgerät in Stellung. Sie positionierten die Wurfmaschinen, schoben Rammböcke und Belagerungstürme heran. Die Lage war aussichtslos.

Aller Augen richteten sich auf Yannick, den jungen Befehlshaber der weißen Armee. Überraschenderweise war ihm keine Nervosität anzumerken – er vermittelte den wenig beruhigenden Eindruck, als wäre ihm das Schicksal seiner Stadt völlig gleichgültig.

Die Wachen auf den Stadtmauern patrouillierten auf und ab. Sie waren entschlossen, ihr Äußerstes zu geben. Munition und Löschmaterial gegen die Brandpfeile lagen bereit, doch den Steinwürfen der mächtigen Wurfmaschinen hatten sie außer der Dicke ihrer Mauern nichts entgegenzusetzen. Sie konnten nur hoffen, dass ihr Anführer einen genialen Plan hatte, denn sonst wäre ihr Untergang besiegelt.

Die Spannung wuchs ins Unerträgliche.

Schließlich begann der Angriff. Die Wurfmaschinen nahmen ratternd ihre Arbeit auf, riesige Felsbrocken sausten durch die Luft. Noch trafen die wenigsten – die Maschinen mussten sich erst einschießen.

Der junge Befehlshaber beugte sich vor. Er hatte den Ansturm erwartet, sogar erhofft. Sein Widersacher hatte alles in die Schlacht geworfen, was er an Material und Soldaten besaß. Nun war die schwarze Stadt schutzlos.

Yannick gab seine Befehle, und die weißen Truppen, die sich bis dahin verborgen gehalten hatten, stürmten gegen die wehrlose Heimat des Gegners vor. Deren Mauern waren nur schwach befestigt, denn ihr Kommandant hatte die vorhandenen Ressourcen fast vollständig in die Herstellung von Kriegsmaschinen gesteckt.

Im Handumdrehen fiel das Tor. Die Angreifer drängten in das Innere der Stadt. Die wenigen Wächter hatten keine Chance. Nach einigen kurzen Scharmützeln marschierten die weißen Soldaten in den Palast ein und nahmen den schwarzen König gefangen.

Die Zuschauer applaudierten. Das Spiel war zu Ende.

Yannick schob sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht und reckte beide Hände in Siegerpose empor. Er hatte gewonnen – und nicht nur dieses Spiel. Es war die letzte Partie der „eGames Berlin“. Er war der Champion.

Wildfremde Menschen klopften ihm auf die Schulter, gratulierten zum Sieg. Irgendjemand reichte ihm ein Glas Sekt, ein Pressefotograf schoss Fotos und wollte seinen Namen und ein paar Einzelheiten zu seiner Person wissen. Yannick Adams. 19 Jahre. Geboren und aufgewachsen in Berlin. Stammgast im Bit & Bytes.

Er kostete den Augenblick aus. Hinter ihm lagen fast vierzehn Stunden am Computer, aber er fühlte keine Müdigkeit. Stattdessen schwamm er auf einer Woge von Glücksgefühlen. Endlich. Endlich war er auch mal dran. Endlich hatte er auch mal etwas zustande gebracht. Endlich jubelten die Menschen auch ihm mal zu. Solche Momente gab es in seinem Leben sonst eher selten.

Erfolgreich verdrängte Yannick den Gedanken daran, dass er bloß einen kleinen Computerspielwettbewerb gewonnen hatte, der von einer Hackerkneipe ausgerichtet worden war und sich mit einem größenwahnsinnigen Titel schmückte. Schon bald würde sich niemand mehr an diesen Sieg erinnern. Doch das spielte keine Rolle. Jetzt wollte er einfach nur die Gegenwart genießen.

Er holte Tabak und Blättchen heraus und drehte sich eine Zigarette. Vielleicht war dies ja der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Vielleicht bot sich ihm nun die Chance, auf die er gewartet hatte. Bislang sah es nämlich nicht so toll aus bei ihm. Er verfügte über einen mittelmäßigen Schulabschluss und drei Jahre Erfahrung in verschiedenen Aushilfsjobs, mit denen er sich gerade so über Wasser halten konnte. Zu einer Berufsausbildung hatte er sich noch nicht durchringen können.

Seine Mutter hatte längst aufgegeben, ihn nach seiner Lebensplanung zu befragen, und wenn sie das Thema doch mal wieder zur Sprache brachte, gab er die übliche Antwort: Er warte auf die richtige Gelegenheit. Wie in dem Spiel eben. Man muss einfach nur den richtigen Moment abwarten, und dann klappt es.

Für Außenstehende mochte es beim Blick auf sein Leben vielleicht so aussehen, als würde er verlieren, aber wenn sich die Gelegenheit bot, würde er schon allen zeigen, was in ihm steckte. Dumm war er jedenfalls nicht, das hatte er soeben bewiesen. Er verfügte über Durchhaltevermögen, konnte logisch und strategisch denken und verstand sich auf Computer, besonders auf die angesagten Spiele. Hier machte ihm so schnell keiner was vor.

Profi-Gamer, das wäre der perfekte Job für ihn! Den ganzen Tag zocken und dafür auch noch bezahlt werden, zu Turnieren fahren, jubelnden Fans begegnen …

Der Pressefotograf riss ihn aus seinen Träumen. Er wollte ein weiteres Foto gemeinsam mit dem Ladenbesitzer. Yannick musste sich nicht anstrengen, um für die Kamera zu lächeln. Er war rundum glücklich. Er war der Champion. Er hatte gesiegt. Er war der Größte. Dieser Moment hätte gern ewig dauern können.

Aber leider zerstreute sich die Menge schon bald. Die meisten waren müde.

Der Held des Tages suchte seine Sachen zusammen, verstaute sie in seinem Rucksack und machte sich auf den Weg. Müdigkeit konnte er sich nicht leisten. In den nächsten Stunden hatte er eine Tankstelle zu betreuen.

An der Kneipentür hielt er kurz inne, zündete sich seine Selbstgedrehte an.

„Ciao Lutz!“, sagte er zu dem leicht übergewichtigen Gastwirt mit dem dunkelbraunen Pferdeschwanz, der damit beschäftigt war, die letzten Spuren der Veranstaltung zu beseitigen. Mit seiner Lederweste und den schwarzen Lederhosen schien er eher in eine Motorradgang zu passen als hinter den Tresen einer Nerdkneipe.

„Mach’s gut, Yannick. Du warst echt spitze heute Abend!“, gab der Angesprochene zurück.

Er wollte sein Alter nicht verraten, aber Yannick schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Trotz des Altersunterschieds kam er ihm vor wie ein großer Bruder. Lutz war definitiv mehr als ein einfacher Kneipenwirt, so viel stand fest. Von Computern hatte er jedenfalls richtig Ahnung – und vom Leben auch.

„Ich freue mich, dass du gewonnen hast“, sagte Lutz, „aber nun schlaf dich erstmal aus!“

„Von wegen, ich muss zur Arbeit!“

„Na dann, viel Spaß. Mir reicht’s für heute.“

Der Wirt öffnete die Tür für seinen letzten Gast und blickte hinaus. Ein schmutzig-grauer Sonntagmorgen dämmerte über der Stadt.

Zufrieden schloss Lutz ab und schaltete die LED-Anzeige im Fenster auf „closed“. Fast 24 Stunden war er jetzt auf den Beinen, aber es hatte sich gelohnt. Nicht nur, weil heute so viele Gäste hier gewesen waren, sondern vor allem, weil die Presse über ihn und das Event berichten würde.

Das Bit & Bytes war auf dem besten Weg, ein angesagtes Szenelokal zu werden. Natürlich für eine sehr spezielle Szene. Hier trafen sich diejenigen, die ihre Nächte normalerweise vor dem Bildschirm verbrachten. Gamer, Hacker und Computernerds. Manchmal war es gut, sich von Angesicht zu Angesicht zu sehen; Informationen nicht online weiterzugeben, keine Spuren im Internet zu hinterlassen. Ein Treffen im RL hatte unbestreitbare Vorteile.

Lutz grinste bei seinem letzten Gedanken. Ein normaler Mensch würde mit dieser Abkürzung nicht viel anfangen können, mit dem die Spieler das wahre Leben, das „Real Life“, bezeichneten. Auch sonst hätte der Durchschnittsbürger wohl Mühe, den Gesprächen im Lokal zu folgen, die sich meist um aktuelle Computerspiele, die neueste und schnellste Hardware und ähnliche Dinge drehten.

Das war auch nicht weiter schlimm, denn man blieb gerne unter sich – nicht zuletzt, weil hier vieles besprochen wurde, was eindeutig jenseits der Legalitätsgrenze lag. Cracks und Raubkopien gehörten da noch zu den harmloseren Dingen, richtig spannend wurde es erst, wenn die Hacker zu später Stunde über selbstverfasste Viren oder Einbrüche in geschützte Computersysteme diskutierten.

Der Angriff auf die deutsche Börse, der im vergangenen Jahr für Schlagzeilen gesorgt und beinahe eine Wirtschaftskrise hervorgerufen hatte, war in diesem Lokal vorbereitet worden.

 

An diesem Tresen waren die ersten Skizzen für „triple6death“ entstanden, einem der gefährlichsten Trojaner, der je sein Unwesen im Internet getrieben hat – und Lutz war maßgeblich daran beteiligt gewesen. Er verstand eine Menge von diesen Dingen.

Aber allein von einer Handvoll Hackern, die hier gelegentlich ein Bier tranken, konnte der Laden nicht existieren. Darum war Lutz auf die Idee mit den „eGames-Berlin“ gekommen, und er hegte die Hoffnung, dass sich die neu gewonnene Popularität seiner Kneipe recht bald in deutlich höheren Umsätzen niederschlagen würde.

Obwohl er schon so lange auf den Beinen war, fühlte er sich erstaunlich fit, was wohl auf die Auswirkungen illegaler Substanzen zurückzuführen war, die er gelegentlich zum Einsatz brachte. Er zapfte sich ein Bier – wenn Gäste in seinem Lokal waren, trank er grundsätzlich keinen Alkohol – und schaltete sein Notebook ein.

Von der Funkausstellung hatte er diesmal nicht viel mitbekommen. Allerdings interessierte ihn die offizielle Berichterstattung eher wenig. Stattdessen verfolgte er die Blogs einiger Bekannter, die ähnlich dachten wie er. Besondere Sensationen schien es in diesem Jahr nicht zu geben, und er wollte gerade abschalten, als sein Interesse plötzlich von einer kleinen Meldung geweckt wurde:

Ron Schäfer gesichtet! Der Star der Onlinewelten, der nach dem Skandal um „Wargames“ von der Bildfläche verschwunden ist, wurde am Samstag auf der IFA gesehen. Angeblich hat „Future Computing“ ihn zu einem Meeting eingeladen. Ob man für Rons nächste Welt einen Cyberhelm braucht? Wir sind gespannt.

Lutz’ Gesichtszüge verfinsterten sich.

Mit diesem Mann hatte er noch eine Rechnung offen.

2. JONTES WÜNSCHE

Ron arbeitete voller Energie an seiner neuen Welt. Mittlerweile war der anfängliche Schöpfungsrausch verflogen und hatte einer konzentrierten Stetigkeit Platz gemacht. Das war nichts Neues für ihn und lief häufig so. Bei den meisten Projekten kam schon nach wenigen Tagen ein vorzeigbares Ergebnis heraus, während die Arbeit an den Details oft Wochen in Anspruch nahm. Aber gerade diese Details waren es, die eine mittelmäßige Software von einer wirklich guten unterschieden.

Es klingelte an der Tür, und er erhob sich, um zu öffnen. Vor ihm standen Lisa und Jonte. Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er seine attraktive Exfrau vor sich sah. Er liebte sie nach wie vor, aber er hatte einsehen müssen, dass sie mit keinem Mann zusammen sein wollte, der mehr Nächte an seinem Computer als in ihren Armen verbrachte.

„Hallo Lisa“, sagte er freundlich, „ist denn heute schon Freitag?“

Sie funkelte ihn an und warf ihre dunkelblonden Locken mit einer energischen Kopfbewegung in den Nacken. „Allerdings“, schnaubte sie. „Sag nicht …“ Sie ließ den Satz unvollendet, doch ihre Körperhaltung sprach Bände.

„Nein, nein, alles gut, ich freue mich!“, sagte Ron schnell und streckte die Arme nach seinem kleinen Sohn aus. „Wir werden bestimmt viel Spaß haben, was, Jonte?“

Der Junge strahlte. „Klar, Papa! Ist die Welt fertig, die du mir versprochen hast?“

„Noch nicht ganz, aber du kannst sie schon ausprobieren. Du wirst staunen!“

„Und lass das Kind nicht wieder das ganze Wochenende vor dem Computer sitzen, hörst du?!“, sagte Lisa. „Draußen ist schönes Wetter, geht in den Park oder unternehmt etwas zusammen!“

„Ja, Mama!“, sagte Jonte ungeduldig. „Papa soll mir ja nur die Welt zeigen, die er für mich programmiert hat!“

„Mach dir keine Sorge, Lisa“, sagte Ron. „Ich achte schon darauf, dass er nicht zu viel am Bildschirm sitzt …“

„Davon bin ich überzeugt“, fauchte Lisa und drückte ihm einen kleinen Koffer in die Hand. „Ich hole ihn am Sonntag wieder ab.“

Sie drehte sich um und rauschte davon, ohne Ron Zeit für eine Erwiderung zu lassen.

Er grinste in sich hinein. Sein Sohn würde an diesem Wochenende wirklich nicht viel vor dem Bildschirm sitzen. Schließlich hatte er ja jetzt einen Cyberhelm.

Ron war gespannt, wie Jonte die Demo-Welt gefallen würde. Er schloss die Haustür, stellte den Koffer in den Flur und ging in sein Arbeitszimmer, das der Kleine bereits zielsicher angesteuert hatte.

„Na, wie ist es, willst du nicht erst mal was essen? Ich habe unser Super-Spezial-Gericht eingekauft!“ Aber sein Sohn war nicht bereit, noch länger zu warten.

„Nein Papa“, sagte er energisch. „Du musst mir jetzt das neue Spiel zeigen. Ich habe schon so lange darauf gewartet!“

„Na gut“, sagte Ron. Der Eifer seines Sohnes amüsierte ihn.

„Vorher muss ich dir aber noch ein paar Dinge erklären. Du bekommst gleich diesen Helm auf. Ich hoffe, er passt einigermaßen …“

Jonte blickte mit großen Augen auf den geheimnisvollen schwarzen Gegenstand, den sein Vater in den Händen hielt. „Cool“, sagte er beeindruckt.

„Sei vorsichtig damit, das ist ein Prototyp“, mahnte ihn sein Vater.

„Ja, ganz bestimmt“, flüsterte der Kleine ehrfürchtig.

„Außerdem bekommst du Cyber-Handschuhe und diese Gamaschen an. Damit steuerst du das Spiel. Jede Bewegung, die du machst, wird vom Computer direkt umgesetzt.“

Jonte nickte stumm. Er war fasziniert und konnte es kaum erwarten, die Sachen auszuprobieren.

„Sobald du den Helm aufsetzt, kannst du mich nicht mehr hören und ich dich auch nicht mehr. Wenn du zu mir sprechen willst, tust du Folgendes …“

Ron legte seine Handflächen vor der Brust zusammen und bewegte sie dann in einem Halbkreis nach außen, wo er sie in einer Position hielt, als würde er etwas willkommen heißen, das von oben kam.

„Wenn du das tust, erkennt der Computer die Geste und schaltet dich auf meinen Lautsprecher; dann können wir miteinander reden – alles klar?“

Jonte nickte.

Ron setzte seinen Sohn auf einen Sessel, legte ihm die Gamaschen an und zog ihm die Handschuhe über. Sie bestanden aus einem ungewöhnlichen Material, das ein wenig an einen Taucheranzug erinnerte. Es zog sich im unbenutzten Zustand erstaunlich weit zusammen und ließ sich mühelos wieder dehnen, gerade so, als würde es mit dem Körper mitwachsen.

An Jontes kleinen Händen schlackerten die Handschuhe ein wenig, aber es würde schon gehen. Mehr Bedenken hatte Ron bei dem Helm. Vorsichtig setzte er ihn dem Kind auf den Kopf. Er saß sehr lose, aber doch besser als gedacht. Solange Jonte sich nicht zu ruckartig bewegte, bestand keine Gefahr.

Ron drückte eine Taste auf seiner Tastatur und sprach in ein Mikrofon. „Kannst du mich hören?“, fragte er.

„Ja Papa“, kam es prompt aus dem Lautsprecher.

„Und was siehst du?“

„Ich weiß nicht genau, es sieht ein bisschen aus wie ein Vorhang!“

„Das ist gut. Mach es dir auf deinem Sessel bequem – und jetzt Vorhang auf für X-World!“

Seine Hände flogen über die Tastatur. Das Bild auf dem Monitor teilte sich – auf der linken Seite erschienen verschiedene Zahlenreihen, während die rechte Hälfte wiedergab, was an den Cyberhelm übertragen wurde.

Ron seufzte. Früher war diese Bildschirmteilerei nicht nötig gewesen. Da hatte er drei Monitore besessen. Aber die letzten Monate hatten ihre finanziellen Spuren hinterlassen. Doch nun bestand endlich wieder Hoffnung für ihn. Wenn der Deal mit den Koreanern klappte, wäre er aufs Neue im Geschäft.

Er startete den Trailer. Von einer altmodischen Theatermusik untermalt, schob sich der Vorhang auf und gab den Blick frei auf einen Screenshot von X-World.

„Willkommen in X-World!“, sagte eine sonore Männerstimme. Ron hatte den Text selbst gesprochen und die Aufnahme so lange elektronisch verfremdet, bis der Klang seinen Vorstellungen entsprochen hatte.

Es folgte eine kurze Einführung in den Umgang mit dem Cyberequipment, verbunden mit ein paar kleinen Übungen. Ron lächelte, als er seinen Sohn dabei beobachtete, wie er vor sich in die Luft griff, um ein paar virtuelle Äpfel zu pflücken, und wie er mit den Beinen strampelte, als er seine ersten Gehversuche machte. Wenn man die entsprechenden Bilder dazu nicht sah, wirkte es urkomisch.

Schließlich war die Einführung zu Ende, und Jonte betrat das kleine Paradies, welches sein Vater geschaffen hatte. Fürs Erste ließ Ron den Ton mitlaufen. Er wollte live dabei sein, wenn der erste Mensch seine Welt betrat.

„Cool“, sagte Jonte verzückt. Er blickte sich um, wobei er brav seinen Kopf gerade hielt, um den Helm nicht ins Rutschen zu bringen. Vorsichtig ging er einige Schritte auf dem herrlichen Sandstrand. Er bückte sich und versuchte, den Sand zu einem Berg zusammenzuschieben.

„Das geht ja gar nicht!“, sagte er enttäuscht.

Ron machte sich eine Notiz. Er war stolz darauf gewesen, dass das Wandern über den Strand richtige Spuren hinterließ, aber so weit hatte er noch nicht gedacht.

Jonte schlenderte weiter und wandte sich dem Wald zu. Plötzlich erstarrte er. Ein etwa gleichaltriger Junge kam auf ihn zugelaufen und blieb vor ihm stehen. Neugierig musterte er Jonte von oben bis unten. „Was machst du auf meiner Insel?“, fragte er schließlich.

Ron beobachtete seinen Sohn aufmerksam. Lisa hatte sich schon des Öfteren Sorgen um ihn gemacht, weil es ihm schwerfiel, Kontakte zu knüpfen. In Bezug auf andere Kinder war er meist schüchtern und zurückhaltend. Ron konnte das gut verstehen, er hatte sich als Kind mit Gleichaltrigen auch immer schwergetan. Nur dass er seine Schüchternheit meist hinter Aggressionen versteckt hatte, was häufig in Raufereien ausgeartet war. Es gab so einige Freundschaften in seinem Leben, die mit blauen Flecken begonnen hatten. Er war gespannt, wie sein Sohn auf den virtuellen Spielkameraden reagieren würde – im Gegensatz zu seiner Frau hatte Ron ja nur wenig Gelegenheit, Jonte im Alltag zu erleben.

„Papa?“, fragte Jonte leise. Ron zögerte kurz. Schließlich beschloss er, nicht zu reagieren – der Junge hatte die vereinbarte Geste nicht gemacht, er musste also davon ausgehen, dass sein Vater ihn nicht hören konnte. Dann sah Ron, wie sich der Körper seines Sohnes straffte.

„Was heißt hier ‚deine Insel‘?“, sagte Jonte selbstbewusst. „Das ist meine Insel! Mein Papa hat sie extra für mich gemacht!“

„Echt? Du bist der Sohn des Schöpfers?“, gab der Junge beeindruckt zurück.

„Ja, das kannst du glauben. Und ich heiße Jonte. Jonte Schäfer!“

„Ich heiße Alf“, sagte der andere. „Wollen wir Freunde sein?“

„Ich weiß noch nicht“, sagte Jonte vorsichtig. Sein Gegenüber nickte ernsthaft.

„Komm, ich zeige dir alles!“, rief er fröhlich und sprang davon. Jonte folgte ihm, so schnell ihn seine virtuellen Füße trugen.

Zufrieden schaltete Ron den Ton aus und konzentrierte sich auf die Logdateien. Es war sehr hilfreich für ihn, das Spiel einmal in Aktion beobachten zu können. Seine To-do-Liste wuchs weiter an, aber im Grunde war er zufrieden – mit sich, mit X-World und mit Jonte. Er fand, sein Sprössling hatte die Begegnung mit dem fremden Kind hervorragend gemeistert.

Stunden später saßen Vater und Sohn bei ihrem Super-Spezial-Essen: Fischstäbchen mit Backofenpommes und einer mächtigen Portion Ketchup dazu. Dieses Gericht hatte Tradition bei den beiden, und Ron hortete große Vorräte davon in seiner Tiefkühltruhe. So war er immer gut gerüstet für die Besuche, die für ihn meist überraschend kamen, weil Zeitmanagement eindeutig nicht zu seinen Stärken gehörte. Als freischaffender Programmierer lebte er seinen eigenen Rhythmus, er arbeitete, bis er müde war und schlief, wann es gerade passte – so kam es häufig vor, dass er sich in einem anderen Zeitgefüge befand als die Menschen um ihn herum. Besonders wenn er an einem neuen Projekt arbeitete.

„Du Papa, das Spiel ist wirklich klasse“, sagte Jonte mit vollem Mund. „Und Alf ist total nett.“

Kein Wunder, dass er dir gefällt, dachte Ron, ich habe ihn schließlich an dein Psychoprofil angepasst. Er könnte dein Zwillingsbruder sein.

Laut sagte er: „Das freut mich wirklich, Jonte. Schließlich habe ich diese Welt extra für dich gemacht!“ Das stimmte nicht ganz und war doch die Wahrheit.

„Dann darf ich mir doch bestimmt noch was wünschen, oder?“

„Klar“, sagte Ron.

„Machst du mir einen Berg mit einer richtigen Höhle drin? Das wäre toll!“

„Okay …“, sagte Ron nachdenklich. Das dürfte eigentlich kein Problem sein. Vor Urzeiten hatte er mal ein Adventure programmiert, das zum größten Teil in einer Höhlenwelt spielte. Er könnte die alten Daten etwas modifizieren und …

 

Eher zufällig blickte er auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht.

„Au weia, es ist schon spät, du musst ins Bett!“, sagte er. Jonte verzog sein Gesicht.

„Ich will aber nochmal zu Alf“, murrte er.

„Nein, heute nicht mehr“, sagte Ron entschieden. „Jetzt ist Feierabend. Und morgen bekommst du deinen Berg.“

„Na gut“, gähnte Jonte, „aber vergiss die Höhle nicht!“

„Warte nur ab“, schmunzelte Ron, „jetzt wird erstmal geschlafen!“

Er brachte den Jungen ins Bett und machte sich gleich an die Umsetzung seiner Ideen. Er freute sich, seinem Sohn diese Wünsche erfüllen zu können. Ihm war schmerzlich bewusst, dass er seiner Frau und seinem Kind viel schuldig geblieben war. Immer wieder hatte die Familie hinter seiner Arbeit zurückstehen müssen. Es hatte kaum ein Wochenende gegeben, an dem er nicht noch dieses oder jenes erledigen musste. Ständig war er gedanklich abwesend gewesen, im Geist mit irgendeinem Projekt beschäftigt, während seine Frau versucht hatte, ein Familienleben zu führen, das diesen Namen wirklich verdiente. Irgendwann hatte sie aufgegeben und war mit Jonte zu ihren Eltern gezogen.

Für Ron war das eine Katastrophe, auf die er nicht gefasst gewesen war. Als hätte sich alles gegen ihn verschworen, war kurz darauf auch noch sein berufliches Fiasko gefolgt. Es hatte sich angefühlt, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Noch keine dreißig und schon am Ende. Er hatte Monate gebraucht, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen.

Aber nun schien es allmählich aufwärtszugehen. Und jetzt bot sich ihm auch noch die Gelegenheit, seinem Sohn durch seine Programmierkunst mal etwas zu geben, nachdem er ihm zuvor so viel genommen hatte.

Ron griff nach seinen Collegeblock und kritzelte eine Skizze auf das Papier. Er wollte den Berg in die Mitte seiner Insel einfügen. Am einfachsten schien es ihm, die Grundfläche der Insel entsprechend zu vergrößern. Also berechnete er grob die Ausmaße der geplanten Anhöhe und gab die Daten in sein Programm ein. Prompt entstand in der Mitte des Dschungels ein grauer Fleck. Einige Tastenanschläge später erhob sich an dieser Stelle ein mächtiger Berg. Ron ließ ihn fürs Erste kahl – die Eigendynamik der virtuellen Pflanzenwelt würde ihn schon bald begrünt haben. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Innere des Berges. Er suchte auf seinem Rechner nach dem alten Adventure. Natürlich konnte er es nicht einfach in den Programmcode kopieren, weil er seinerzeit mit anderen Grafikstandards auskommen musste, aber zumindest brauchte er das Rad nicht neu zu erfinden, sondern konnte sich an seinen alten Entwürfen orientieren. Nach und nach entstand ein Höhlenlabyrinth, in dem es für Jonte jede Menge zu entdecken gab.

Als Ron den Rechner endlich herunterfuhr, graute draußen bereits der Morgen. Müde erhob er sich von seinem Bürostuhl und schlurfte ins Badezimmer. Dieser Tag war ziemlich lang gewesen. Bevor er selbst ins Bett ging, warf er noch einen zärtlichen Blick auf seinen friedlich schlafenden Sohn. Es war schön, ihn bei sich zu haben, und er freute sich schon jetzt darauf, Jonte die neuen Erweiterungen der Spielwelt entdecken zu lassen.

Er ging in sein Schlafzimmer, legte sich ins Bett und wartete auf den Schlaf. Es dauerte eine Weile, bis seine überreizten Nerven zur Ruhe kamen und plötzlich fiel ihm ein, dass Jonte Angst im Dunkeln hatte. Wäre eine Höhle wirklich der geeignete Spielplatz für ihn, selbst wenn sie nur virtuell war? Aber ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, hatte der Schlaf ihn übermannt.

Kurz darauf, wie es ihm schien, wurde er unsanft von Jonte geweckt, der energisch an seiner Bettdecke zog. „Aufstehen, Papa! Ich will Alf besuchen!“

Ron schielte auf die Uhr. Er hatte gerade mal vier Stunden geschlafen. Aber Jonte kannte keine Gnade. Mit aller Kraft zog er an der Decke, und als sie nicht nachgab, kletterte er kurzerhand auf den Bauch seines Vaters.

„Au-uf-ste-he-hen“, kommandierte er, während er rhythmisch auf und nieder wippte. Ron stöhnte und spannte die Bauchmuskeln an. Unauffällig griff er nach seinem Kopfkissen, riss es mit Schwung unter seinem Kopf hervor und traf seinen Sohn damit an der Schulter. Prompt verlor dieser das Gleichgewicht und kegelte ins weiche Bett. Mit lautem Kriegsgeheul stürzte er sich auf seinen Vater und versuchte, ihm das Kissen abzunehmen. Eine wilde Toberei entbrannte, bis schließlich beide schnaufend und lachend nebeneinander lagen.

Als Ron wieder zu Atem kam, sagte er: „Was hältst du davon: Du holst die Brötchen, und ich decke den Tisch?“

„Okay Papa, dann brauche ich aber Geld. Darf ich mir auch einen Comic kaufen?“

„Meinetwegen.“ Ron angelte nach seiner Jeans und zog das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. „Hier, fünf Euro sollten reichen.“

„Danke Papa!“

„Aber erst ziehst du dich mal an! Und Zähneputzen nicht vergessen!“

„Habe ich schon! Guck!“ Jonte bleckte sein Gebiss.

„Ist gut, ist gut, ich glaub dir ja!“

Ron stemmte sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Die Dusche vertrieb den Rest seiner Müdigkeit. Er drehte das Wasser heißer und genoss die Wärme, die durch seinen Körper strömte. Dann schob er den Hebel auf kalt. Erfrischt trocknete er sich ab, zog Hemd und Jeans an und deckte den Frühstückstisch.

Er spürte, wie gut ihm die Gegenwart seines Sohnes tat. Ein lebendiger Mensch war doch etwas anderes als ein Computer – auch wenn die virtuellen Welten noch so gut programmiert waren.

Es rappelte an der Tür. Jonte kam mit den Brötchen zurück. Während des Frühstücks sprudelte er wie ein Wasserfall. Haarklein erzählte er, was er auf der Insel gesehen hatte und wie gut er sich mit Alf verstand.

Ron war beeindruckt. Diese Erzählung klang ganz und gar nicht nach einem Computerspiel, eher nach einem Ferienabenteuer. X-World war offensichtlich überzeugend – zumindest für Fünfjährige. Er hoffte zutiefst, dass die koreanischen Geschäftsleute es ähnlich empfanden, denn davon hing seine Zukunft ab.

Jonte konnte es kaum erwarten, endlich das Cyberzeug anzulegen und die neue Welt zu betreten, die sein Papa extra für ihn erschaffen hatte – und zwar nach seinen Vorschlägen, wie er mehrere Male stolz bemerkte. Diesmal ließ Ron den Ton ausgeschaltet. Er war überzeugt, dass es Jonte gut ging, und machte sich daran, die bevorstehende Präsentation bei Future Computing vorzubereiten. Dazu war es notwendig, einen Mehrspielermodus einzurichten. Er vertiefte sich in seine Arbeit.

Derweil wanderte Jonte durch einen wunderschönen tropischen Regenwald. Er lauschte auf die Schreie von Affen und Papageien und staunte über die Farbenpracht exotischer Blumen, die um ihn herum wuchsen. Er war auf der Suche nach Alf. Zu dumm, dass sie keinen Treffpunkt vereinbart hatten!

Doch selbst dann wäre es schwierig geworden, denn die Geographie der Insel hatte sich seit seinem letzten Besuch entscheidend verändert. Mitten im üppig grünen Wald erhob sich nun ein Berg. Staunend sah Jonte die mächtigen Steilhänge hinauf. Ob da oben wohl Schnee lag? Bestimmt gab es hier Höhlen. Das hatte sein Vater ihm versprochen.

Wo sein Freund bloß steckte? Er rief ihn, so laut er konnte, aber statt einer Antwort hörte er nur das Echo, das von den Felswänden zurückgeworfen wurde.

Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Vielleicht wollte Alf spielen und versuchte, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen. Aber daraus würde nichts werden! Jonte versteckte sich schnell hinter einem Felsbrocken und beobachtete den Schatten, der sich zwischen den Pflanzen bewegte. Dann stutzte er. Das, was er da sah, war eindeutig zu groß für Alf.

Ein mächtiger Tiger trat aus dem Gebüsch heraus und strebte dem bewaldeten Berghang entgegen. Jonte zuckte zusammen. Fieberhaft überlegte er, was er tun könnte. Weglaufen ging nicht, das Gelände bot keine Deckung, außerdem schätzte er, dass der Tiger mindestens dreimal so schnell laufen konnte wie er. Was hatte sein Vater sich nur dabei gedacht? Fürs Erste schien er in seinem Versteck sicher zu sein, aber wenn die Raubkatze näher kam …