Schattenkrieg der Patrioten

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Das Biwak

„Ich kann nicht mehr“, jammerte Stefan vor sich hin. Sein Blick war dabei auf den Boden gesenkt, seine Stimme richtete sich halb an Johann, der neben ihm marschierte, und halb zu sich selbst.

„Jetzt hör endlich mit dem Gejammer auf. Du wirst schon nicht sterben“, erwiderte Johann. Ihm ging Stefans ständiges Selbstmitleid mittlerweile tierisch auf die Nerven. Es war Freitag, und das Wochenende war gestrichen worden. Sie hatten erst heute Morgen diese Hiobsbotschaft erhalten. Um Punkt 4:00 Uhr, eine Stunde vor dem regulären Aufstehen, hatte die Ausbilderin sie unsanft geweckt. Um 4:10 Uhr hatte der gesamte Zug in voller Montur und rasiert vor der Waffenkammer gestanden. Um 4:15 Uhr hatten sie vor dem Kompaniegebäude wieder mal den obligatorischen Anschiss von Unteroffizier Neuwirt erhalten, dass sie alle zu langsam seien.

Danach hatte ihnen Oberleutnant Bergmann die Lage erklärt: „Rotland hat uns heute Nacht angegriffen. Es finden gerade massive Luftkämpfe an der deutsch-deutschen und der deutsch-tschechischen Grenze statt. Erste feindliche Bodentruppen sind in Deutschland eingedrungen. Feinde sind an der roten Armbinde und Feindfahrzeuge an der roten Flagge zu erkennen. Soldaten mit weißer Binde sind Übungsleiter. Wochenende fällt aus. Noch Fragen? Nein? Gut, dann Gruppenführer übernehmen, in Vollzugsraum einrücken und Gelände sichern. Ausführen.“

Seit dieser Ansprache marschierten sie mit Sturmgepäck und kompletter Biwakausrüstung durch die bayrische Gebirgslandschaft. Nicht nur, dass Johann für dieses Wochenende andere Pläne gehabt hatte, diese Geländeübung versaute ihm auch ein Date, auf das er schon eine ganze Weile hingearbeitet hatte. Und zu allem Überfluss musste er sich jetzt auch noch das belanglose Gejammere von Stefan anhören.

„Schnauze halten, Schütze Imler! Solange Sie jammern können, können Sie auch marschieren!“, tobte Unteroffizier Neuwirt los, der plötzlich neben Stefan auftauchte. Dies war einer der wenigen Augenblicke, in denen Johann völlig einer Meinung mit Unteroffizier Neuwirt war.

Stefan, ohnehin schon blass, wurde kreidebleich. „Ich kann nicht mehr. Ich hab Herzprobleme“, japste er und ließ sich auf den Boden fallen.

Johann rechnete damit, dass Stefan jetzt einen Stiefeltritt kassieren würde, aber Unteroffizier Neuwirt blieb unerwartet ruhig und sprach förmlich mit Engelszungen zu ihm: „Schütze Imler, bleiben Sie am Boden sitzen und nehmen Sie erst mal den schweren Rucksack ab.“ Er griff in eine kleine Tasche an seinem Koppel, holte einen Schokoriegel heraus und reichte ihn Stefan. „Hier, essen Sie den und trinken Sie einen Schluck aus Ihrer Feldflasche. Das beruhigt den Kreislauf.“ Dann drehte er sich zu dem restlichen Zug hin und erklärte in seiner gewohnten sadistischen Manier: „Männer, wir lassen keinen Kameraden zurück. Schütze von Falk, Schütze Reimund – organisieren Sie mir zwei gerade, stabile Stöcke, circa zwei Meter lang. Was den Rest von Ihnen angeht – ich benötige zwei Feldjacken. Ich zeig Ihnen jetzt, wie man eine Behelfstrage baut.“

Ein bissiges Murmeln ging durch den Zug. Stefan war mittlerweile bekannt dafür, dass er sich bei körperlicher Anstrengung immer auf seinen desolaten Gesundheitszustand berief. Allerdings nahm ihm diese Ausrede keiner mehr ab. Oberleutnant Bergmann hatte sich bei Stefans letzter Krankmeldung persönlich dafür eingesetzt, dass der Truppenarzt ihn mit besonderer Sorgfalt untersuchte. Bei seinem letzten Arztbesuch wurde er nicht wie jeder andere Soldat außerhalb akuter Lebensgefahr innerhalb von neunzig Sekunden untersucht, diagnostiziert, behandelt und wieder aus der Praxis geschmissen, sondern bei dieser Untersuchung ging der Truppenarzt richtig ins Detail, mit EKG, Blutbild und so weiter. Danach kam er zu der offiziellen Diagnose, dass Stefan ein Simulant oder Hypochonder sei. Seitdem gab es für Stefan keine Gnade mehr, weder bei den Ausbildern noch bei seinen Kameraden. Nachdem Johann und Dennis Reimund mit ihren Klappspaten die bestellten Äste organisiert hatten, bauten sie unter Unteroffizier Neuwirts Anleitung die Trage. Sie krempelten die Ärmel in das Innere der beiden Jacken und zogen anschließend die beiden Stöcke durch die Ärmel. So entstand eine erstaunlich funktionstüchtige Trage.

„Schütze Neumann, Sie tragen den Rucksack von Kamerad Imler! Waffe und ABC-Ausrüstung kommen mit auf die Trage! Schützen Meier, Jäger, Schulz und von Falk, Sie tragen Ihren Kameraden!“

Na wart nur ab, du Drecksau, dachte sich Johann, als Stefan ihn mit einem Grinsen anschaute und sich mit überzogen zur Schau gestellter Erschöpfung auf die Trage legte. Die vier Kameraden positionierten sich um ihn herum. Johann gab das Kommando: „Eins, zwei, drei, hebt Trage“, und sie hoben die Trage mit Stefan und seinem Sturmgepäck. Anton stöhnte unter der Last laut auf. Johann hätte kotzen können. Selbst ihm als Boxer und Basketballspieler machte das Gewicht schon zu schaffen, aber wie musste es erst Anton gehen! Dieses kleine dickliche Muttersöhnchen, das gegen jeden gesunden Menschenverstand eingezogen worden war und das bei dem heutigen Gewaltmarsch nur pure Tapferkeit gezeigt hatte, sollte jetzt die faule Simulantensau tragen? Nee, das kann’s doch nicht sein! Wäre er Unteroffizier, dann würde er Stefan zum Biwakplatz prügeln. Sie gingen ein paar Schritte, dann ließ Johann die Trage ohne jegliche Vorwarnung los. Stefan knallte erst mit den Füßen, dann mit dem Arsch auf den Boden.

„So, das hast du davon, du Kameradenschwein“, murmelte Johann so leise, dass es nur Stefan und seine drei Mitträger hören konnten. Unteroffizier Neuwirt warf schmunzelnd einen Blick auf das Geschehen. Johann zuckte die Achseln und grinste ihm schelmisch zu: „Sorry, ist mir ausgekommen. Vielleicht klappt es besser, wenn ich die Trage am Kopfende anstatt am Fußende nehme.“

„Ja, und vielleicht geht’s noch besser, wenn wir ihn nicht auf Hüfthöhe, sondern auf Schulterhöhe tragen“, legte Schütze Schulz nach.

„Wenn Sie meinen. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert“, willigte der Unteroffizier ein.

Nun bekam es Stefan mit der Angst zu tun. „Herr Unteroffizier, vielleicht wäre es besser, wenn ich selber gehe und nur jemand meinen Rucksack trägt.“

Da platzte Neuwirt der Kragen. „Ich hab langsam die Schnauze voll von Ihnen! Wegen Ihnen haben wir bereits zehn Minuten verloren, und der Feind wartet nicht auf uns. Also, ich frage Sie nur einmal – können Sie den restlichen Tag weitermarschieren, wenn einer Ihrer Kameraden Ihren Rucksack trägt? Und wehe, Sie sagen jetzt Ja und klappen noch mal zusammen. Verdammte Axt!“

Eine halbe Stunde später, in der erst die zierliche Anita und anschließend Johann zusätzlich zu ihrem eigenen Rucksack noch den von Stefan getragen hatten, erreichten sie den Biwakplatz. Vor ihnen baute sich Feldwebel Müller auf.

„Zweiter Zug sammeln! Vier Mann Rundumsicherung auslegen, der Rest zu mir und ducken. Wir sind nah am Feind, also verhalten Sie sich auch so! Als Erstes Gefechtsbereitschaft herstellen, jeder überprüft seine Waffe! Männer, wir haben Frontabschnitt Romeo erreicht. Hier werden wir den heranrückenden Feind aufhalten!“

Seine Stimme war genauso laut wie die von Unteroffizier Neuwirt, aber ohne einen Anflug von dessen cholerischen Anfällen zu zeigen, was seine Autorität unterstrich. Feldwebel Müller verkörperte das, was sich die Allgemeinheit unter einem Soldaten vorstellte. Er war groß, circa 1,90 m, hatte breite Schultern, war gut durchtrainiert und sprach sehr deutlich mit dieser lauten, dunklen Stimme. Seine Nase war leicht eingedrückt, was jeder, bewusst oder unbewusst, sofort mit einem wilden Boxkampf oder einer brutalen Kneipenschlägerei assoziierte. Dieses Bild wurde durch seinen Blick abgerundet, den er langsam über den gesamten Zug schweifen ließ. Es war ein Blick, dem sich keiner entziehen konnte. In seinen Augen war nichts Sadistisches oder Bösartiges, nur ein Ausdruck von absoluter Kampfbereitschaft und Entschlossenheit, von Ehre und Pflichtgefühl. Sein Blick zog jeden in seinen Bann und gab einem das Gefühl, klein und ausgeliefert zu sein. In den ersten Tagen der Grundausbildung hatte Müller es sogar – wenn auch unbeabsichtigt – durch einfaches Anstarren geschafft, dass Anton sich aus Nervosität übergeben musste.

Er setzte seinen Befehl fort: „Gruppe 1 übernimmt Abschnitt Romeo 1, Gruppe 2 übernimmt Abschnitt Romeo 2, und Gruppe 3 übernimmt Abschnitt Romeo 3. Stellungen ausheben und Alarmposten einrichten. Anschließend Alarmposten mit zwei Mann, sorry, Soldaten, männlich oder weiblich …“, mit Blick auf Sabine hielt er kurz inne, wobei er sichtlich bemüht war, nicht auf ihren überdimensionalen Busen zu starren, und fuhr fort: „… also Alarmposten besetzen, und der Rest – Zelte aufbauen. Ausführung!“

Die Biwakübung war hart, aber dafür sehr ausbildungsintensiv. Die Temperaturen fielen bis zum Gefrierpunkt. Schnee und Regen wechselten sich ab. Keiner der Rekruten bekam mehr als drei Stunden Schlaf pro Nacht. Schlief ein Soldat während seiner Wache ein, wurden zur Strafe alle geweckt und in ihre Stellungen geschickt. Ihre Lebensmittelrationen wurden gekürzt. Zweimal wurde ihr Frontabschnitt von Angreifern in ausländischen Tarnanzügen überfallen. Die Ausbilder verlangten ihnen alles ab. Sie mussten trotz Schlafentzugs, Eiseskälte, Hungers und körperlicher Anstrengung geistig aufnahmefähig bleiben. Sie wurden nacheinander in kleinen Gruppen aus der Gefechtsübung herausgelöst und bekamen Unterrichtseinheiten im Feld oder Verhaltensregeln während der Gefechtsübung vermittelt. Sie lernten verschiedene Tricks, um im Wald Geräusche zu vermeiden. Sie tarnten Stellungen, Zelte, Fahrzeuge und schließlich sich selbst mit grün-braunen Netzen, Tannenzweigen und dunkler Farbe, bis sie oder die Ausrüstung im Wald unsichtbar wurden. Sie lernten, bei Minengefahr hintereinander in den Spuren des Vordermanns zu gehen. Man drillte sie, sich bei verdächtigen Geräuschen auf den Boden zu schmeißen und das Gewehr oder die Gasmaske niemals mehr als eine Armlänge von sich entfernt abzulegen. Nachts hatten sie trotz der Kälte nur ein kleines Lagerfeuer in einer Grube, das man aus der Entfernung nicht sehen konnte. Tagsüber durfte das Feuer keinen Rauch verursachen. Morgens mussten sie auf ihre Körperhygiene achten; dafür bekamen sie ein paar Eimer mit kaltem Wasser oder mussten sich mit Schnee einreiben. Der Feldwebel ließ sie nach dem Waschen in voller Montur Gymnastik machen, um ihnen zu zeigen, wie sie ihre Körpertemperatur regulieren konnten.

 

Eine der Unterrichtseinheiten ging über das Fernmeldewesen. Sie hatten schon im Schulungszimmer eine theoretische Einweisung in das Kommunikations- und Navigationsmodul KNM erhalten. Hier nutzten sie es zum ersten Mal im Feld. Das KNM war das Smartphone der Bundeswehr. Statt in modernem Design war es im schlichten NATO-Olivgrün gehalten. Man konnte sich nicht mit dem Internet verbinden. Dieses olivgrüne Smartphone hatte zwei Apps: Kommunikation und Navigation. Über die Kommunikations-App konnte man mit jedem telefonieren, der einen Bundeswehranschluss hatte. Außerdem war es möglich, Dokumente wie Fahraufträge oder Passierscheine in digitaler Form zu erhalten. Mit der Navigations-App konnte man seinen Standort bestimmen, sich Satellitenfotos und Landkarten anschauen oder die eingebaute Kamera als Nachtsichtgerät verwenden. Zu mehr taugte das KNM nicht. Dafür war es wasserdicht, quasi unverwüstlich, und der Akku war sowohl über ein Ladegerät als auch über Solarzellen und durch eine kleine Handkurbel aufladbar. Die Idee des KNM war es, dass jeder Soldat jederzeit erreichbar war. Deshalb erhielt auch jeder Soldat nach der Grundausbildung ein KNM, sogar die Wehrpflichtigen.

Nach der Unterrichtseinheit lag Johann wieder mit Anton im Alarmposten und fror. Plötzlich waren schräg hinter ihnen näherkommende Schritte zu hören. Den Geräuschen nach stammten sie von zwei Personen. Die eine bemühte sich tölpelhaft, zu schleichen und nicht zu trampeln, die zweite versuchte das gar nicht erst. Johann tippte auf Stefan und Dennis.

„Super, die Ablösung“, sagte er zu Anton, der sicher mehr als heilfroh war, das sein Leiden im Alarmposten jetzt ein Ende hätte. Johann drehte sich demonstrativ in Richtung Ablösung und gab sich mit dem ersten Teil der Tagesparole zu erkennen: „Charly.“

Dennis antwortete mit dem zweiten Teil: „Juliet“, und fuhr fort: „Lageunterbrechung. Sammeln in fünf Minuten vor dem Zuggefechtsstand.“

„Warum? Was ist jetzt los?“

„Keine Ahnung, aber Befehl ist Befehl.“

Als sie den Zuggefechtsstand erreichten, war bereits der ganze Zug versammelt. Anton salutierte vor Feldwebel Müller und stammelte nervös: „Herr Feldwebel Müller, Schütze Meier meldet sich mit drei Kameraden verspätet.“

Feldwebel Müller antwortete diabolisch in leicht gereizter, aber paradoxerweise gleichzeitig entspannter Art: „Schütze Meier, Sie sind noch nicht zu spät, aber völlig scheißegal, ob Sie es sind oder nicht – wenn Sie noch mal direkt hinter der Front so vor mir salutieren, dass jeder feindliche Scharfschütze auf über einen Kilometer Entfernung erkennen kann, dass ich Ihr Vorgesetzter bin, dann trete ich Ihnen in den Arsch. Im Gelände wird nicht salutiert! Einreihen!“

Aus den Augenwinkeln konnte Johann erkennen, wie zwei Soldaten in Handschellen von mehreren Unteroffizieren aus dem Nachbarzug auf die Ladefläche eines LKWs verfrachtet wurden. Schütze Bitangaro konnte er als einzigen schwarzen Soldaten der Kompanie recht gut erkennen, bei dem zweiten war er sich aufgrund der Tarnschminke und des schwachen Lichts nicht ganz sicher, aber er vermutete, dass der zweite Soldat Schütze Kneißel war. Der Körperhaltung von Bitangaro nach war dieser beschämt, hatte aber auch irgendeine Verletzung. Keine Ahnung, was die wieder ausgefressen hatten, aber es passte zu den beiden, dachte sich Johann. Auch wenn sich keiner traute, den Blick offen von Feldwebel Müller wegzudrehen, um das Ereignis besser beobachten zu können, schielte dennoch jeder krampfhaft zu den beiden rüber.

„Hey, zweiter Zug, hier spielt die Musik!“, brüllte der Feldwebel, entspannte seine Mundwinkel dann aber sofort wieder und fuhr fort: „Auch wenn es Sie nichts angeht, aber vielleicht hat es ja eine pädagogische Wirkung auf Sie. Schauen Sie sich die Kameraden Bitangaro und Kneißel an, dann wissen Sie, was mit Ihnen passiert, wenn Sie auf die bescheuerte Idee kommen, sich beim Biwak einen Joint reinzuziehen. Und wenn Sie sich die Ruine von Bitangaros Nase anschauen, dann wissen Sie auch, was mit Ihnen passiert, wenn Sie einem Vorgesetzten gegenüber handgreiflich werden.“

Versetzung

„Rührt euch!“, hallte es durch den Gang des Kompaniegebäudes, als Feldwebel Müller sie aus dem Stillgestanden erließ. Er erklärte: „Männer, wie Sie wissen, haben Sie in zwei Tagen Ihre Grundausbildung beendet. Ich bin stolz, aus Ihnen, die vor Kurzem noch Bund mit ‚t‘ schrieben, richtige Soldaten gemacht zu haben …“

Es folgte ein längerer Monolog des Zugführers über Ehre, Pflichtgefühl und Vaterlandstreue, aber dann kam er zu dem eigentlich spannenden Teil. Erst beförderte er alle Soldaten außer Bitangaro und Kneißel vom Schützen zum Gefreiten. Dies bedeutete für jeden Beförderten fünf Mark mehr Tagessold. Dann kam der zweite interessante Teil. Er verlas die Liste mit den zukünftigen Stammeinheiten. Es gab vier Kompanien, auf die sie willkürlich verteilt wurden. Johann wurde in das 3. Strategische Waffenbataillon nach Neuburg an der Donau beordert und gehörte somit der Truppe „Strategische Waffen Altmühltal“ an. Ein Viertel seiner Kameraden wurde ebenfalls dieser Stammeinheit zugeteilt. Darunter war auch Anita Mansdotter, was ihn sehr freute. Das etwas flippige und doch geheimnisvolle Pippi-Langstrumpf-Mädchen hatte in ihm etwas ausgelöst, das er noch nicht ganz zuordnen konnte. Sie war für ihn wie ein Buch, das mal offen und mal zugeklappt war. Er hatte angefangen, ihre persönliche Geschichte in ihr zu lesen. Aber je spannender die Geschichte wurde, umso öfter klappte sich das Buch zu, und er wollte wissen, wie die Geschichte ausging. Dieses Mysterium namens Anita, das so durchschaubar wirkte und dann von einer Sekunde auf die andere durch einen einzelnen Blick zu verstehen gab, dass man nicht einmal die Spitze des Eisbergs ganz gesehen hatte. Das machte ihn rasend und weckte gleichzeitig einen tieferen Ehrgeiz in ihm, ihre Seele zu knacken. Er wollte wissen, wer das Mädchen war, das sich hinter diesem unschuldigen und lebenslustigen Gesicht versteckte.

Am nächsten Montagmorgen meldete er sich in seiner neuen Stammeinheit. Die Begrüßung des diensthabenden Unteroffiziers war kurz und knackig, dann ging’s zum Kompanieantreten. Der Kompaniechef, Major Hahnsiedler, stellte sich vor und hielt eine kurze Ansprache, mit der er alle Neuzugänge in seiner Kompanie begrüßte. Zwar herrschte auch hier in Neuburg militärische Ordnung und Disziplin, jedoch war der Umgangston im Vergleich zur Grundausbildung extrem leger. Nachdem sie ihre Stuben bezogen und man ihnen eine großzügige Raucher- und Kaffeepause gegönnt hatte, wurden sie in das Schulungszimmer befohlen.

Der Schulungsraum war wie ein Klassenzimmer eingerichtet. Vorn an der Tafel stand ein sichtlich nervöser Soldat namens Fähnrich Tauber. An der rechten Seite des Raumes saßen der Kompaniechef und ein Hauptfeldwebel. Es war offensichtlich, dass es hier nicht nur um die Schulung selbst, sondern vor allem um eine Beurteilung des Referenten, verkörpert durch Fähnrich Tauber, ging. Nach dem obligatorischen Salutieren gab der Hauptmann ihm mit den Worten „Dann zeigen Sie mal Ihre Offiziersqualitäten“ das Startzeichen.

Von der Rhetorik her war der Vortrag eine Katastrophe, inhaltlich aber dafür hochinteressant. Fähnrich Tauber referierte über das Konzept der Truppe „Strategische Waffen“. Oberleutnant Bergmann hatte ihnen die wichtigsten Fakten schon in der Grundausbildung erklärt, aber hier wurde das gesamte Konzept noch mal detailliert erläutert.

Die Waffengattung Strategische Waffen bestand momentan aus einem Bataillon, das vor weniger als einem Jahr heimlich gegründet worden war, um die Bundeswehr auf nukleare Bewaffnung vorzubereiten. Das Bataillon hieß Bataillon Süd, weil es ausschließlich in Süddeutschland eingesetzt wurde. Allerdings gab es schon Pläne für ein zweites Bataillon im Norden. Das Bataillon Süd bestand aus vier Kampfkompanien und einer Ausbildungskompanie. Die Ausbildungskompanie war die Kompanie im Bayerischen Wald, in der sie die letzten vier Monate zur Grundausbildung verbracht hatten. Die anderen Kompanien waren in Donaueschingen, Sigmaringen, Sonthofen und Neuburg stationiert.

Jede Kompanie bestand aus drei Teileinheiten.

Die erste war die strategische Artillerie. Sie war das Herzstück der Kompanie. Zu ihr gehörten die Soldaten, die auf dem LKW mit der Arminius-Rakete mitfuhren. Sie waren ausschließlich dafür zuständig, die Rakete zu warten und im Ernstfall abzuschießen.

Die zweite Teileinheit war für die Versorgung und die Administration verantwortlich. Im Klartext waren das der Spieß, der Kompanietruppenführer, der Materialwart, zwei Sanitäter und ein Koch.

Johann gehörte zur dritten Teileinheit, der Schutzinfanterie. Ihre Aufgabe war es, die Rakete zu bewachen, sie bei Bedarf zu verteidigen und ihr freies Geleit zu verschaffen. Als hauptsächliche Bedrohungen wurden feindliche Fallschirmjäger, Saboteure und linksradikale Aktivisten angesehen.

Im Spannungsfall würden alle vier Kampfkompanien die Kasernen verlassen und irgendwo in ihrem zugewiesenen Operationsgebiet Stellung beziehen. Die Kompanien würden mehrmals am Tag ihre Stellungen wechseln, allerdings nie alle gleichzeitig. Mindestens eine Kompanie würde mit ihren Raketen in Abschussbereitschaft auf der Lauer liegen. Die Idee hinter diesem Konzept war, dass es für den Feind unmöglich sein sollte, mit einem Erstschlag alle deutschen Atomwaffen gleichzeitig auszuschalten. Würde jemand Deutschland angreifen, dann müsste er in jedem Fall mit einem nuklearen Gegenschlag rechnen.

Allerdings war für den Nicht-Spannungsfall nur eine Art Light-Version der ständigen nuklearen Gefechtsbereitschaft vorgesehen. Es sollten immer jeweils zwei Kompanien in ihrem Operationsraum unterwegs sein, während die anderen beiden Kompanien in den Kasernen einsatzbereit warteten. Nachdem Fähnrich Tauber dieses Konzept erläutert hatte, übernahm der Hauptmann wieder das Wort.

„Unser Nuklearkonvoi ist heute Nacht um null Uhr zur Patrouille aufgebrochen. Nächste Woche wird er sich in der Kaserne aufhalten und in der darauffolgenden Woche wieder auf Patrouille fahren. Sie werden diesen Konvoi allerdings frühestens beim übernächsten Mal begleiten. Solange werden wir Sie auf Ihrer Grundausbildung aufbauend auf den Dienst im Konvoi vorbereiten.“

Das klang irgendwie nach Grundausbildung Teil 2, worauf keiner der jungen Soldaten Bock hatte. Mit den körperlichen Strapazen war Johann klargekommen, aber die ständigen dummen, unangebrachten Sprüche der Ausbilder waren ihm gehörig auf die Nerven gegangen. „Dummfick“ hatten Sie es genannt, wenn die Ausbilder sie schikanierten. Allerdings stellte es sich sehr schnell heraus, dass man in Neuburg seine Ruhe hatte, solange man ein gewisses Grundmaß an Ordnung und militärischem Schneid an den Tag legte.

Die einmonatige Ausbildung in der Stammeinheit sollte sie speziell auf den Dienst im Konvoi vorbereiten. Sie hatten keine Übungen mehr, bei denen sie in Zelten schlafen oder stundenlang in Stellung frieren mussten. Es ging einzig und allein um die Bewachung des Konvois. Die Regierung war nicht zimperlich gewesen und hatte den Status „mobiler militärischer Sicherheitsbereich“ eingeführt. Das gab den Soldaten massive Befugnisse. Es galt eine Null-Toleranz-Politik für jeden, der es versuchte, den Konvoi mit Atomwaffen zu stören.

Die Schutzinfanterie war bei den Konvois in zwei Teams unterteilt. Ein 50-Mann-Team war mit Schlagstöcken und Plexiglasschilden ausgerüstet. Das andere Team war wie normale Infanteristen mit Sturmgewehren bewaffnet. Der Befehl war klar. Sollten irgendwelche linksradikalen Demonstranten den Konvoi behindern, galt das Kommando „Knüppel frei“. Für den Fall, dass der Schlagstocktrupp nicht ausreichte, um den Konvoi zu schützen, oder jemand einen wirklichen Sabotageüberfall versuchte, hatten sie einen sofortigen Schießbefehl.

Das übten sie täglich in verschiedenen Szenariotrainings. Die Schlagstocktrainings arteten allerdings immer ziemlich schnell in eine wilde Rauferei aus. Zwar gab es die Anweisung, beherzt, aber dennoch mit der nötigen Vorsicht und kameradschaftlichen Rücksicht an die Übung heranzugehen, aber sie wurde immer ziemlich schnell vergessen. Bei vielen Beteiligten war ein so hoher sportlicher Ehrgeiz am Werk, dass die Übung immer eine ganz spezielle Eigendynamik entwickelte. Allen voran war hier Anita zu nennen. Das 1,70 m große Mädchen mit den Sommersprossen hatte endgültig seinen Pippi-Langstrumpf-Ruf weg, als es den breitschultrigen, hünenhaften Stabsunteroffizier Weber im Eifer des Gefechts k. o. schlug. Sie hatte sich mit der linken Hand an seinem Plexiglasschild hochgezogen und ihn mit dem rechten Ellenbogen versehentlich ausgeknockt. Von solchen Aktionen ließ sie sich auch nicht durch ein paar Veilchen oder eine blutige Nase abhalten.

 

Allerdings gab es auch Kameraden wie Anton. Der war gänzlich mit der Übung überfordert und hatte einfach nur Angst. Er rannte wie ein scheues Rehkitz umher und versuchte möglichst wenig einzustecken. Johann hingegen genoss die Übung. Da er seit seiner Einberufung keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, seinen Boxverein zu besuchen, war dies ein willkommener Ausgleich. Allerdings nahm er sich vor, beim ersten Wochenendurlaub den Zahnschutz aus seiner Boxausrüstung in die Kaserne mitzubringen.

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