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Der Arzt in mir

Vom Kopf her ist natürlich klar, dass dieses aberwitzige Konstrukt kaum Wahrheitsgehalt hat und mich keine Schuld trifft, aber das Wirken seelischer Kräfte richtet sich nicht nach Logik und Vernunft. Immer wieder fiel ich in tiefe Löcher, versank in Depressionen, verlor jeden Lebensmut und hatte an nichts mehr Freude. Die vorläufige Wende kam im Sommer 1993. Ich war nach einigen Jahren in Hamburg wieder zurück nach Bremen gezogen und hatte mir dort einen Psychotherapeuten gesucht. Sein Name ist mir entfallen, hier soll er Doktor Berger heißen, denn er war niedergelassener Arzt.

Unsere Sitzungen begannen stets nach dem gleichen Muster. Doktor Berger öffnete die Tür zum Flur, wo ich auf den Beginn der Sitzung wartete. Mit einem Nicken bat mich er ins Besprechungszimmer, setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch und ordnete Papiere. Ich nahm ihm gegenüber Platz und harrte, bis er sich mir zuwandte. Das geschah immer mit derselben Geste und denselben Worten. Er stützte die Ellenbogen auf, legte die Fingerspitzen aneinander, schaute mich prüfend an und sagte meinen Namen. Herr Enkogia, das war alles. Keine Aussage, keine Frage, nur wortloses Abwarten. Ich berichtete dann, wie es mir seit dem letzten Termin ergangen war, fühlte mich dabei aber selten wirklich gut aufgehoben. Das offenbar aus gutem Grund, denn schon in der vierten oder fünften Sitzung kippte das Setting, also das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Doktor Berger hörte mir eine Weile zu, griff dann ein Stichwort auf und begann plötzlich von seinen Problemen zu erzählen. Er war verheiratet, hatte aber eine Beziehung mit einer Kollegin angefangen. Sie war erheblich jünger und außerdem schwanger. Von ihm. Seine Frau bekam Wind von der Affäre und drohte mit der Scheidung. Mein Arzt und Psychotherapeut schüttete mir sein Herz aus und fand dabei kein Ende. Irgendwann waren die 50 Minuten jedoch um und ich ging heim, verwirrt und verärgert.

Weil mich das stereotype Begrüßungsritual von Anfang an störte, beantwortete ich das „Herr Enkogia“ bald ebenso einsilbig mit einem „Herr Doktor Berger“. Ihn schien dies nicht zu stören, er ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Als Dr. Berger jedoch die Sitzung in der Woche nach seinem überraschenden und unprofessionellen Geständnis versehentlich mit „Herr Doktor Enkogia“ eröffnete, wurde mir klar, dass die Basis für sinnvolle und hilfreiche therapeutische Gespräche fehlte. Ich sprach ihn offen auf diesen Konflikt an und er stimmte mir zögerlich zu. Statt nun aber die Therapie abzubrechen und mich einfach fortzuschicken, schlug er einen stationären Aufenthalt vor. Es gäbe gute psychosomatische Kliniken, wo seelische und körperliche Beschwerden (ich litt seit einigen Jahren unter chronischen Rückenschmerzen und Schuppenflechte) auf ganzheitliche Art behandelt würden. So blieb es mir erspart, mühsam nach einem alternativen Therapieplatz zu suchen. Fähige Therapeuten haben oftmals lange Wartelisten, drei bis sechs Monate Wartezeit sind ebenso entmutigend wie normal. Dr. Berger bot mir nun die Chance, Selbsterfahrung und seelische Gesundung für eine Weile ganz vornan zu stellen. Dankbar verließ ich seine Praxis mit der nötigen Verordnung für die Krankenkasse.

Durch Gespräche im Freundeskreis – dabei dämmerte mir langsam, wie viele Menschen unter Ängsten, Depressionen und anderen seelischen Erkrankungen litten – wurde ich auf die Hardtwaldklinik II im hessischen Bad Zwesten aufmerksam. Die Fachklinik für Psychotherapie und Psychosomatik hat einen guten Ruf, das Haus selbst liegt idyllisch auf einem Hügel am Waldrand, und die Wartezeit war damals erträglich. Nachdem Dr. Berger sein Gutachten geschrieben und die Krankenkasse meinen Aufenthalt bewilligt hatte, fuhr ich nach Bad Zwesten und bezog dort im Oktober ein Zimmer mit Balkon im fünften Stockwerk. Ursprünglich sollte ich nur vier Wochen dort bleiben. Aber wegen der Schwere meiner Erkrankung und der guten Fortschritte, die ich in der Therapie machte, wurde der Aufenthalt mehrfach verlängert und letztlich auf zwölf Wochen ausgedehnt. Heutzutage ist die Kostenübernahme für eine derartig lange Reha nur schwer zu bekommen, denn Krankenkassen und Rentenversicherungsträger achten sehr aufs Geld und rechnen mit spitzem Bleistift. Das ist der Kostenexplosion im Gesundheitswesen geschuldet und teilweise nachvollziehbar, doch selten gut für die Patienten. Sogar Kliniken und Krankenhäuser müssen heute Profite machen, leider bleibt der hilfsbedürftige Mensch dabei oftmals auf der Strecke.

Wie auch immer, 1993 durfte ich zwölf Wochen lang in der Hardtwaldklinik II mit motivierten und kompetenten Therapeuten an meiner Genesung arbeiten. Dieses Vierteljahr war eine sehr wichtige Zeit und bescherte mir wertvolle Einsichten und Erkenntnisse, für die ich dankbar bin. Es waren zwar oftmals schmerzhafte Erfahrungen, aber das kannte ich ja bereits aus der Primärtherapie. Mein Opa war Landarzt in einem kleinen Dorf an der Nordseeküste. Er starb leider schon vor meiner Geburt, aber ein überlieferter Satz ist mir im Gedächtnis geblieben: ‚Medizin muss bitter sein, sonst hilft sie nicht.’ Das stimmt natürlich nicht immer und unbedingt, aber etwas Wahres ist schon daran. Während meiner ersten Reha habe ich in der Hardtwaldklinik II Rotz und Wasser geheult, bin aber mit gestärktem Lebenswillen und wichtigen Einsichten heimgefahren. An erster Stelle stand die Erkenntnis, dass die kindliche Logik, derzufolge meine Mutter noch leben würde, wäre ich nicht geboren worden, zu einem mächtigen Schuldkomplex geführt hatte.

Jener Teil meines Bewusstseins, der abwägt und wertet, fällte nämlich irgendwann ein folgenschweres Urteil. In einem Satz ausgedrückt, lautet es: ‚Weil du deine Mutter auf dem Gewissen hast, darfst du nicht glücklich sein, du musst büßen und leiden.’ Ich hatte meine tote Mutter im doppelten Wortsinn auf dem Gewissen, fühlte mich schuldig und büßte daher fleißig. Auge um Auge, Zahn um Zahn – ähnlich unnachsichtig urteilte der Richter in meinem Inneren. Du hast den Tod jener Frau verschuldet, die dir dein Leben schenkte, und bist deshalb auf ewig verdammt. Der Todesstrafe, auszuführen durch eigene Hand, bin ich zwar bisher entgangen, habe aber kein Recht auf Glück und Erfüllung. Die Lüge meines Vaters war die Grundlage für den Richterspruch, sie überdauerte 23 lange Jahre. Doch auch nachdem er die Wahrheit über den Tod meiner Mutter gestanden hatte, gab es vor dem Gericht meines Unterbewusstseins keine Begnadigung. Warum kämpfte ich weiter gegen das Gute an? Wer warf mir ständig Knüppel zwischen die Beine und wollte verhindern, dass mein Leben glückte? Wieso lag ich ständig im Streit mit mir selbst und wer war mein heimlicher Gegenspieler?

Sabotage

Die zwölf Wochen in der Hardtwaldklinik II vergingen erstaunlich schnell. Obwohl die drei Fragen am Schluss des letzten Kapitels auch dort unbeantwortet blieben, lernte ich dennoch eine unbeugsame Kraft kennen, die in mir wirkte. Sie hatte – soviel begriff ich in einer Gruppensitzung – dafür gesorgt, dass ich trotz der vermeintlichen Schuld und des gegen mich gefällten Urteils am Leben geblieben war. Und dieses Leben galt es zu genießen. Ich verliebte mich in eine Mitpatientin und gemeinsam brachen wir ein paar der dusseligen Klinikregeln. Wir tranken Wein und rauchten in unseren Zimmern, und mieteten uns sogar in einer Pension ein, um ungestört miteinander ins Bett gehen zu können. Ähnlich wie dreizehn Jahre zuvor im Allgäu kam der Punkt, an dem Psychotherapie nervte. Ständig diese Nabelschau, immer das Kreisen um vergangenes Leid. Wie öde! Täglich saß man in Gruppen, wo nur gejammert, geklagt und geweint wurde. Einzeltherapie gab es – in meinen Augen ein eklatanter Mangel in vielen Reha-Kliniken – nur einmal pro Woche und auch dann nur dreißig Minuten. Sogar in den Gruppensitzungen musste man sich energisch durchsetzen, um eigene Themen bearbeiten zu können. Ständig breitete jemand ein Problem aus – vollkommen zu recht natürlich – und wer zuerst, kommt mahlt zuerst. In einer zehnköpfigen Gruppe vergehen 90 Minuten jedoch rasend schnell, und wer nicht drängelt kommt zu kurz.

Nach meiner ersten Reha kehrte der Lebensmut zurück, ich war ausgeglichener und zog einige Zeit später nach Oberbayern. Durch Zufall fand ich Arbeit im Meisterbetrieb eines Freundes und wurde später sogar sein Vorarbeiter im Garten- und Landschaftsbau. Doch trotz der idyllischen Alpenkulisse und meiner neuen Aufgabe fand ich keine Ruhe. Die langen Winter setzten mir zu und ich war wieder Single, denn die Liebe zu der ehemaligen Mitpatienten scheiterte. Bisher endeten meine Beziehungen immer tragisch und ich hatte mittlerweile Angst, mich erneut auf eine Frau einzulassen. Es schien ein verborgenes Muster zu geben, aber es ließ sich weder benennen noch durchbrechen.

Der Job war gut, ich bewohnte ein kleines Reihenhaus in Seenähe, fand aber als hanseatischer Fischkopp im erzkonservativen Landkreis Miesbach nur schwer Anschluss. Weil mich auch die Münchener Schickimicki-Gesellschaft abstieß, die noch heute jedes Wochenende ins Tegernseer Tal strömt und mit ihren Nobelkarossen die Bundesstraßen verstopft, zog ich schließlich wieder nach Norden. Bei einem Besuch in Dortmund hatten mich die Ruhrgebietsmenschen mit ihrer direkten und offenen Art angenehm überrascht. Außerdem gab es gute Gründe, nicht wieder in Bremen zu siedeln. Garantiert wäre ich dort umgehend meiner großen Liebe wiederbegegnet, wahrscheinlich sogar mit dickem Bauch oder bereits den Kinderwagen schiebend. Fast sieben Jahre hatte unsere Beziehung gedauert, die Schuld am Scheitern trug vor allem ich. Die Trennung lag zwar schon ebenso lange zurück, aber der Schmerz saß tief. Wie tief und warum ich anscheinend kein Glück in der Liebe hatte, sollte ich erst nach und nach verstehen lernen.

 

Jedenfalls zog ich nach Dortmund und fand neue Freunde. Beruflich hangelte ich mich mehr schlecht als recht durch, war wiederholt arbeitslos und oft ohne Perspektive. Dies änderte sich erst, nachdem ich 1998 für vier Monate nach Nepal ging, um als Freiwilliger in einer Leprastation zu arbeiten. Die Erfahrungen aus jener Zeit könnten kaum gegensätzlicher sein. Einerseits bittere Armut gepaart mit mitreißender Lebensfreude und überwältigender Gastfreundschaft seitens der liebenswerten Nepalesen. Andererseits massiver Spendenbetrug und sogar illegale Medikamentenversuche an Leprösen, bei diesen Experimenten starben mindestens vier Menschen. Schockiert musste ich erkennen, dass humanitäre Hilfe längst zum lukrativen Geschäft geworden war, bei dem weltweit Milliarden umgesetzt werden. Die abstoßende Doppelmoral der vermeintlichen Gutmenschen in Deutschland, aber auch die heitere Herzlichkeit der Bewohner eines der weltärmsten Länder, gaben Anstoß und brachten 1999 die Wende. Zusammen mit Freunden gründete ich einen gemeinnützigen Verein, der unter meiner Leitung bis 2012 in Nepal aktiv war. Während dieser Zeit bauten wir dort gut ein Dutzend Schulen, drei Gesundheitsstationen, Trinkwassersysteme für fünf Dorfgemeinden mit 600 Haushalten, eine Brücke und 50 dörfliche Biogasanlagen. Außerdem förderten wir eine Vielzahl von Menschen durch Trainings, Berufsausbildungen und Patenschaften. Ein Buch über diese Phase meines Leben ist in Arbeit und wird hoffentlich 2014 erscheinen.

Menschliche Kontakte sind ein wirksames Heilmittel gegen Depressionen. Es tut gut, für Andere da zu sein, sich zu engagieren, eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen. Gerade das Leben in der Dritten Welt – oftmals dominiert durch eine erstaunliche Kombination aus erschreckender Armut, Bescheidenheit und gewinnender Liebenswürdigkeit – half mir, neue Maßstäbe für mein Leben zu finden. Insgesamt verbrachte ich rund zweieinhalb Jahre in Nepal und das oft unter Menschen, die mit weniger als zwei Dollar pro Tag überleben müssen. Ihre Gastfreundschaft, die Herzlichkeit und ihr unbeugsamer Lebensmut haben mich immens beeindruckt. Viele Dinge, die der Durchschnittsdeutsche für unverzichtbar hält, sind in meinen Augen überflüssig oder sogar schädlich. Wozu Statussymbole, wenn Markenkleidung, teure Uhren und Designerartikel oft als billige Fälschungen im Urlaub gekauft werden? Was bedeutet Wertschätzung, die auf Äußerlichkeiten basiert? Die Leute geben Geld aus, das sie nicht haben, um Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, damit sie Menschen beeindrucken können, die sie nicht mögen. Weshalb andauernd konsumieren, wo doch längst klar ist, dass der Zwang zu ständigem Wirtschaftswachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen und nur begrenzt belastbarer Umwelt in eine globale Katastrophe münden muss?

Dreizehn Jahre dauerte mein humanitäres Engagement in Nepal. Hindus und Buddhisten leben dort friedlich mit Moslems und Christen zusammen, doch der Buddhismus faszinierte mich von Anfang an. Die Lehre eines Fürstensohns namens Siddhartha Gautama ist keine Religion, denn sie kennt keinen Gott. Der ursprüngliche Buddhismus ist, recht verstanden, Philosophie und Anleitung für ein gelingendes Leben. Buddha lehrte den mittleren Weg, das Meiden der Extreme, maßvollen Genuss und das Kultivieren von heilsamen Gedanken. Gier, Hass und Unwissenheit sind die negativen Gegenkräfte, sie hindern uns Menschen daran, glücklich und zufrieden zu sein. Ich habe fleißig meditiert, in buddhistischen Klöstern gelebt, den Unterweisungen nahezu erleuchteter Lehrer gelauscht und sogar mehrmals für den Dalai Lama gearbeitet. Sieben Jahre gab der Buddhismus mir Halt und dennoch wendete ich mich schließlich ab. Selbstverständlich könnte ich gute Gründe für meine Entscheidung anführen. Die Konkurrenzkämpfe der verschiedenen buddhistischen Schulen untereinander, obwohl Buddha schon zu Lebzeiten vor einer Spaltung der Gemeinschaft warnte; den Aberglauben an Geister, eine Hölle der Verdammnis und andere obskure Ideen speziell im tibetischen Buddhismus; dazu Machtmissbrauch und menschliche Schwächen, wie sie uns aus der katholischen Kirche nur allzu vertraut sind – aber das wären Ausflüchte.

Für die Abkehr vom Buddhismus sorgte im Grunde mein Saboteur. Erst vor wenigen Jahren – eine depressive Episode ließ mich erneut therapeutische Hilfe suchen – erkannte und benannte ich diesen Teil meines Ichs. Er existiert in mir wie ein Geschwür oder ein Bandwurm, zehrt von meiner Lebenskraft und tritt immer dann auf den Plan, wenn es mir zu gut geht. Zu gut im dem Sinne, dass mir ja aufgrund des vor Jahrzehnten gefällten Urteils und der Schuld, die seit dem Tod meiner Mutter auf mir liegt, kein Lebensglück zusteht. Das Bild vom Engelchen und Teufelchen, die auf den Schultern jedes Menschen sitzen, ist sicherlich bekannt. Die beiden liegen meist im Streit miteinander, mischen sich ständig ein, reden zu oder raten ab. Ich glaube nicht an Götter, Engel oder Teufel. Doch in mir existiert ein Saboteur, der wie ein boshafter Steuermann immer wieder das Ruder herumreißt, sobald mein Lebensschiffchen in ruhiges Gewässer oder gar in die Nähe einer idyllischen Insel gerät.

Das Wort Saboteur stammt vom französischen sabot, dem Holzschuh. Angeblich warfen empörte Arbeiter während der industriellen Revolution ihre Holzschuhe in Mäh- und Dreschmaschinen, und brachten sie so zum Stillstand. So protestierten sie gegen die zunehmende Mechanisierung der Arbeit. Wo vorher viele Menschen von Hand mit Sense und Dreschflegel arbeiteten, ratterten nun Maschinen. Zu ihrer Bedienung waren nur noch wenige Arbeiter nötig und Armut breitete sich aus, daher die Empörung.

Mein Saboteur hat die Aufgabe, mir das Leben zur Hölle zu machen und mich der gerechten Strafe zuzuführen, denn dazu habe ich ihn vor langer Zeit bestimmt. Nicht bewusst und wissentlich, sondern durch den Urteilsspruch meines inneren Richters. Den Saboteur gibt es nur, damit ich für meine Schuld büße. Ja, das klingt sicherlich ziemlich verrückt. Zum Glück bin ich an diesem Widerspruch noch nicht irre geworden. Und erfreulicherweise hatte ich bisher genug Kraft, um mich gegen den Saboteur zu wehren, denn er arbeitet sehr gewissenhaft. Seine Aufgabe ist erst erfüllt, wenn ich tot bin. Bis dahin muss er Glück und Liebe verhindern, muss Kummer und Einsamkeit herbeiführen. Auch wenn es ihm gelingt, mich in den Freitod zu treiben, hätte er sein Ziel erreicht, hätte mich und seinen Auftrag erledigt. In den letzten Jahren fehlte manchmal nicht viel daran.

Ich bin ein Wiederholungstäter

Schallplatten aus Vinyl sind kaum noch gebräuchlich, aber wer noch einen Plattenspieler besitzt, kennt den Effekt, wenn die Platte einen tiefen Kratzer hat: Die Nadel des Tonabnehmers bleibt hängen und es erklingt immer wieder dieselbe kurze Sequenz, abgespielt während einer Umdrehung des Plattentellers. Man könnte auch den CD- oder MP3-Player auf Repeat schalten und hört dasselbe Lied immer wieder von neuem. So ähnlich verlief mein Leben bisher, eine stete Folge von Wiederholungen. Nicht ganz so stereotyp wie in dem populären Film ‚Und täglich grüßt das Murmeltier’, aber nach einem festen Schema. Dass ich dieses Muster schließlich erkennen konnte, verdanke ich guten und geduldigen Psychotherapeuten, die mich verständnisvoll unterstützt und immer wieder ermutigt haben. Doch Verstehen heißt noch nicht Überwinden. Bisher wirkt der Wiederholungszwang weiter.

2002 und 2003 befasste ich mich intensiv mit Coaching und begann sogar eine kostspielige Ausbildung an einer privaten Akademie. Mich faszinierten die Techniken, mit denen ein Coach seine Klienten bei der Lösung ihrer Probleme unterstützt und sie zu veränderter Selbstwahrnehmung führt. Coaching erschien mir als optimale Alternative zur Psychotherapie. Dies vor allem, weil Coaching schnell wirkt, während Therapie meist viele Jahre dauert. In der Coachingausbildung wurde stets betont, dass alle Menschen jederzeit die freie Wahl haben und auch ihre Lebensumstände wählen. Kummer und Leid, Glück und Erfüllung – alles eine Folge von Entscheidungen, die wir unbewusst treffen, uns aber bewusst machen können. Akzeptiere die Macht deines freien Willens und werde zum Herrscher über das eigene Schicksal – so etwa könnte man die Philosophie zusammenfassen, die an jener Privatschule gelehrt wurde.

Ist es wirklich so einfach, ein glückliches und erfolgreiches Leben zu führen? Wie frei sind wir tatsächlich in unseren Entscheidungen? Berufs- und Partnerwahl, Gesundheit und Lebensglück – lässt sich das alles vom Kopf her steuern? Wohl kaum, wie wissenschaftliche Erkenntnisse belegen. Wir verlieben uns in eine Person, deren Ausdünstung von kaum wahrnehmbaren Botenstoffen signalisiert, dass ihr Immunsystem robust ist und sich von unserem eigenen deutlich unterscheidet. Letzteres ist genetisch vorteilhaft und erhöht die Überlebenschancen von gemeinsamem Nachwuchs. Elementare Entscheidungen und Weichenstellungen für das ganze Leben werden also nicht vom Verstand getroffen, sondern vom limbischen System, einem Teil des Gehirns, der nicht zum Bewusstsein gehört. In manchen Situationen, zum Beispiel unter Stress oder bei Gefahr, entscheidet sogar jener uralte Bereich unseres Nervenzentrums, der als Reptiliengehirn bezeichnet wird. Kampf oder Flucht – da kann nicht lange überlegt und abgewogen werden, also nutzen wir uralte Instinkte.

Der viel gepriesene freie Wille ist offenbar gar nicht so frei, wenn unbemerkt eingeatmete Duftstoffe und in der Steinzeit eingeübte Verhaltensmuster derartige Macht über uns haben. Die Bielefelder Akademie schloss mich übrigens nach einem Dreivierteljahr von der Coachingausbildung aus, und dieses Los traf nicht nur mich. Wer zu oft kritische Fragen stellte oder bezweifelte, dass jeder Mensch zum Millionär werden kann und man sich sogar schwerste Schicksalsschläge bereitwillig aussucht, bewies Unreife. Wer so dachte, wollte offenbar nicht den maximalen Nutzen aus der Lehrmethode ziehen oder hatte nicht begriffen, dass jeder Mensch immer die freie Wahl hat.

War wieder der Saboteur am Werk, als ich aus der Coachingausbildung flog? Ich hatte viel Zeit und eine Menge Geld investiert, wollte mich beruflich neu orientieren und als selbständiger Coach meinen Lebensunterhalt verdienen. Nun stand ich abermals vor einem Scherbenhaufen. Zeitgleich scheiterte meine bisher vorletzte Beziehung zu einer Frau. Sie war 39 und ich 44 Jahre alt, wir wünschten uns Kinder und dafür wurde es höchste Zeit. Über eine Kontaktanzeige lernten wir uns kennen und sie verliebte sich schon beim ersten Treffen heftig in mich. Mich traf Amors Pfeil nicht sofort ins Herz, aber ich fand sie sehr sympathisch und attraktiv. Außerdem war ich entschlossen, Kompromisse zu machen. Dabei hatte ich ein chinesisches Sprichwort im Kopf. Es lautet: ‚Derjenige, der alles haben will, steht am Ende mit leeren Händen da.’ Also gewöhnte ich mich an ihre schrille Stimme und ein paar Eigenheiten und war froh, dass ich wieder lieben konnte und geliebt wurde.

Nach einer Weile stellten wir einander bei unseren Eltern und Geschwistern vor, denn wir wollten heiraten. Deshalb suchten wir auch ein passendes Haus, um dort eine Familie zu gründen. Endlich schien der Zug meines Lebens in geregelten, wenn auch recht bürgerlichen Bahnen zu rollen, da entgleiste er auch schon wieder. Binnen weniger Wochen und ohne erkennbaren Grund veränderte sich meine Lebensgefährtin im Wesen radikal. Aus der liebevollen und fröhlichen Frau wurde eine zänkische Person, die ständig nörgelte und mich sehr respektlos behandelte. Unsere gemeinsamen Pläne waren ihr nichts mehr wert und ich nicht länger ihr Traummann. Eines Tages, ich arbeitete damals in einer Kölner Unternehmensberatung, kam ich am Feierabend in ihre Wohnung. Im Flur standen zwei Umzugskartons, die meine Habseligkeiten enthielten. Kein Brief, kein Wort der Erklärung, nur ein Zettel mit der Aufforderung ‚Schlüssel in den Briefkasten werfen’. Sogar meine Geschenke an sie waren in den Kartons. Ich wartete drei triste Stunden, doch sie ließ sich nicht blicken. Schließlich karrte ich traurig mein Zeug nachhause. Anrufe wurden nicht beantwortet und als ich zwei Tage später an ihrer Haustür klingelte, fertigte sie mich durch die Wechselsprechanlage ab. Sie hätte nachgedacht, wir passten nicht zueinander, daher würde sie sich von mir trennen. Punkt und Ende.

Die meisten LeserInnen werden jetzt wohl vermuten, dass ich meine Partnerin verletzt, betrogen oder sonstwie gegen mich aufgebracht hatte, aber das stimmt nicht. Bis heute rätsele ich, was ihren Sinneswandel bewirkt haben könnte. Sie schien plötzlich ein völlig anderer Mensch zu sein, wie in dem Film ‚Doktor Jekyll und Mister Hyde’. Damals war ich wütend und verletzt, aber diese Gefühle sind der Dankbarkeit gewichen. Heute bin ich froh, nicht mit einer Frau verheiratet zu sein, in deren Persönlichkeit sich solch abgrundtiefe Gegensätze verbergen. Und vor allem dankbar, denn erst diese Erfahrung enthüllte, wie sich mein Lebensdrama immer wieder von neuem inszeniert. Dabei half mir eine erfahrene und sehr einfühlsame Psychotherapeutin, bei der ich vier Jahre lang eine ambulante Gesprächstherapie machte und die mich auch heute bei Bedarf unterstützt.

 

Doch zurück zum limbischen System. Unser Verhalten wird durch eine Vielzahl von Botenstoffen beeinflusst, die durch den Blutkreislauf zirkulieren. Sexuallockstoffe, die Pheromone, bestimmen unsere Partnerwahl. Glücksbotenstoffe, die in speziellen Situationen ausgeschüttet werden, motivieren uns zum Handeln. Sie lassen uns Sport treiben, zu viel Schokolade futtern, Zigaretten rauchen oder sex- oder heroinsüchtig werden. Andere Hormone greifen tief in unsere Sozialleben ein, vor allem das Oxytocin. Es ist auch als Bindungshormon bekannt und wird besonders während des Geburtsvorganges und beim Stillen ausgeschüttet. Mutter Natur sorgt auf diese Weise geschickt und zuverlässig dafür, dass Mütter gar nicht anders können, als ihre Babies zu lieben und sich um sie zu sorgen. Umgekehrt entsteht in dem Neugeborenen eine tiefe Bindung zur Mutter, das sogenannte Urvertrauen. Auch beim Sex produziert unser Gehirn verstärkt Oxytocin. Wenn zwei Menschen miteinander schlafen und dabei zum Orgasmus kommen, stärkt das den Zusammenhalt und ihre seelische Verbindung. Nicht ohne Grund spricht man auch von ‚Liebe machen’.

Eine Wochenbettdepression, auch postpartale oder postnatale Depression genannt, wird durch verschiedene Faktoren ausgelöst, die teils noch nicht ausreichend erforscht sind. Einerseits finden im Körper der Frau während und nach der Geburt starke Veränderungen statt. Der während der Schwangerschaft stark erhöhte Östrogen- und Progesteronspiegel fällt ab, Prolaktin und Oxytocin werden ausgeschüttet. Östrogen beeinflusst vermutlich die Hirnfunktion und hat einen stimmungsstabilisierenden Effekt, dieser fällt nach der Geburt weg. Die leichte Form der Wochenbettdepression ist als Babyblues bekannt. Etwa zwei Drittel aller Mütter leiden in den ersten Wochen nach der Geburt unter Verstimmungen, die jedoch zum Glück meist innerhalb von Stunden oder Tagen wieder abklingen. Bis zu 20% aller Gebärenden entwickeln jedoch schwere Wochenbettdepressionen oder sogar eine Psychose. Sie müssen unbedingt ärztlich behandelt werden, um sich oder dem Kind keinen Schaden zuzufügen.

Meine Mutter hat die starken Schwankungen ihres Hormonhaushalts offenbar nur schlecht verkraftet, außerdem litt sie schon als junges Mädchen unter depressiven Verstimmungen. Hinzu kommt, dass sie im Krankenhaus schlecht versorgt und lange allein gelassen wurde. Außerdem wurden wir sofort nach der Geburt getrennt und man brachte ihr Baby auf die Säuglingsstation, wie es damals leider noch üblich war. Verhaltensforscher belegen, dass Babyblues und Wochenbettdepressionen bei vielen Naturvölkern nicht vorkommen. Sie vermuten, dass postpartale Depressionen in der modernen Industriegesellschaft durch Gerätemedizin und die vielen Interventionen rund um die Geburt ausgelöst werden. Ein ungestörtes Kennenlernen von Mutter und Kind ist oftmals nicht möglich, der Geburtsvorgang vielfach traumatisierend für Mutter und Kind. Dazu fällt mir ein, dass meine Mutter fast die ganze Nacht allein und frierend auf dem Krankenhausflur verbrachte. Außerdem wurden die Wehen künstlich eingeleitet. Dabei werden synthetische Hormone eingesetzt und die Wehen sind dann besonders schmerzhaft. Ob das überhaupt notwendig und der natürliche Zeitpunkt für meine Geburt tatsächlich überschritten war, bleibt ungewiss. Sicher ist nur, dass sie den Arzt, der sie ins Krankenhaus einwies, kaum kannte und vorher nur einmal gesehen hatte. Eine tragische Verkettung unglücklicher Umstände.

Wie stark die Bindung zwischen meiner Mama und mir war, als sie sich das Leben nahm, kann man nicht ermessen. Vermutlich habe ich nicht nur vor Hunger geschrien, als mein Vater an jenem Novembernachmittag heimkam und seine Frau tot vorfand. Leider verlor ich zweieinhalb Jahre später nochmals eine Mutter, auch wenn es sich tatsächlich um meine Tante handelte. Aber diese Frau, die ich Mama nannte, hatte mich zweieinhalb Jahre liebevoll versorgt, mich gefüttert und gewickelt, mir Sprechen und Laufen beigebracht. Sie war meine Mutter in den ersten drei Lebensjahren, der wichtigsten Phase der Persönlichkeitsentwicklung. Kein Wunder also, dass man mir später in der Psychotherapie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. Ich habe kein Urvertrauen und große Schwierigkeiten, beständige und liebevolle Beziehungen aufzubauen. Obwohl ich große Sehnsucht nach Liebe und Zusammengehörigkeit habe, will ein Teil von mir keine Bindung eingehen. Dieser Teil erinnert den Schmerz genau, der mit Verlust und Trennung einhergeht. Das Gefühl, geliebt zu werden, ist in meinem Unterbewusstsein unauflösbar mit der qualvollen Erfahrung von Verlust verbunden.

Heute weiß ich, warum meine Liebesbeziehungen in der Vergangenheit immer nach demselben Schema verliefen. Kinder wollen verstehen, was mit ihnen geschieht, besonders bei traumatischen Erfahrungen. Sie fragen immer wieder nach dem Warum. Wenn sie keine glaubhafte Erklärung bekommen, erschaffen sie eine, reimen sich die Dinge irgendwie zurecht. Warum ließ meine Mutter mich zurück? Wie konnte meine Mama-Tante zulassen, dass ich von ihr getrennt und einer fremden Frau gegeben wurde? Weil ich schlecht bin. Weil ich es nicht verdient habe, geliebt zu werden – so lautet die selbst fabrizierte Begründung für das Unerklärliche. Mittlerweile kann ich meine innere Programmierung – denn darum handelt es sich bei solch wirkmächtigen Glaubenssätzen, die im Unterbewusstsein wurzeln – in drei Sätzen zusammenfassen. Die Regeln, nach denen mein Lebensdrama sich immergleich abspielt, passen in drei kurze Paragrafen.

§ 1 Niemand liebt mich.

§ 2 Wenn mich doch mal jemand lieben sollte, werde ich verlassen.

§ 3 Falls ich geliebt und nicht verlassen werde, muss ich selbst die Trennung herbeiführen.

Ein wichtiger Job des Saboteurs ist, immer wieder für die falsche Partnerwahl zu sorgen. Echtes Glück will geteilt werden, ist allein unmöglich. Wenn ich mich stets zu Frauen hingezogen fühle, auf deren Liebe kein Verlass ist, hat der Saboteur seine Aufgabe fast erfüllt. Und bei denen, die verlässlich lieben, muss er mich nach Paragraf 3 eben dazu bringen, dass ich mich unausstehlich benehme. Irgendwann gibt auch die Frau mit dem größten Herzen auf. Dann ist die Unwiderlegbarkeit von Paragraf 1 erneut bewiesen.

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