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Befreit durch den Urschrei

Im Grunde verdanke ich Beate meine erste Psychotherapie, denn sie schwärmte von der Primärtherapie nach Arthur Janov. Anfang der 1970er Jahre erschien sein Buch ‚Der Urschrei’, weshalb die von ihm entwickelte Therapie auch Urschreitherapie genannt wurde. Janov ist überzeugt, dass seelischer Schmerz aus frühester Kindheit die Ursache für psychische und physische Erkrankungen ist. Solange dieser Schmerz verdrängt und ins Unterbewusste abgespalten bleibt, ist nach seiner Auffassung eine seelische Gesundung unmöglich. Patienten, die an den Folgen traumatischer Kindheitserlebnisse leiden, müssen den uralten Schmerz in sich aufsteigen lassen und nochmals durchleben, diesmal jedoch bewusst. Dieser Prozess kann immens schmerzhaft sein, daher arbeitet die Primärtherapie mit vergleichsweise radikalen Methoden, um die Verdrängungsmechanismen der Patienten auszuschalten und sie für die qualvolle Wahrnehmung verschütteter Kindheitserlebnisse zu öffnen.

Angeregt durch Beate las ich verschiedene Bücher über Psychotherapie, darunter auch mehrere von Arthur Janov. Begeistert vom Versprechen Janovs, seine Methode würde den Menschen befreien und die Verstrickungen der Vergangenheit auflösen, entschied ich mich für die Primärtherapie. Weil gesetzliche Krankenkassen damals die Kosten nicht übernahmen, woran sich bis heute leider wenig geändert hat, musste ich die Therapie selbst bezahlen. Deshalb saß ich fast täglich hinter dem Steuer eines Taxis und sparte eisern. Im Juni 1980 fuhr ich erstmals nach Seibranz, um mich in der dort angesiedelten Poliklinik untersuchen und klären zu lassen, ob die Primärtherapie für mich in Frage käme. Die Ergebnisse waren positiv und am ersten August desselben Jahres begann meine Intensivphase in einem zur Therapiestätte umgebauten Landgasthof.

Seibranz ist ein Weiler mitten im Allgäu und gehört zur Gemeinde Bad Wurzach. Eine Kirche, ein Bäcker, die Käserei, ein Gasthaus mit angeschlossener Metzgerei und die Raiffeisen-Genossenschaft – viel mehr hatte das Dorf nicht zu bieten. Fette Wiesen, saftiges Gras und würzige Kräuter, und über allem der Klang zahlloser Kuhglocken. Uralte Bauernhöfe am Rand dunkler Wälder und mitten im Dorf ein Haus, wo jeden Tag geweint und geschrien wurde. Wer konnte und wollte, arbeitete mit amerikanischen Therapeuten, die direkt vom Primal Institute aus Kalifornien kamen. Es gab jedoch auch Therapeuten aus Deutschland oder Österreich, die von Arthur Janov oder seinen Schülern ausgebildet worden waren. Während der dreiwöchigen Intensivphase wohnten die Patienten im Haus und hatten tägliche Einzelsitzungen, danach konnten sie an offenen Gruppensitzungen teilnehmen. Je nach Bedarf, Leidensdruck und Geldbeutelgröße reisten die Leute nach Seibranz, meist am Wochenende.

Für die Intensivphase galten besondere Vorschriften. Sie erleichtern das Einlassen auf die Welt der Gefühle und hemmen die üblichen Verdrängungsmechanismen. Verboten waren Nikotin, Alkohol und Drogen jeder Art, Kaffee und Tee, Süßigkeiten, Fernsehen, Radio und Bücher (Internet und Handys gab es damals noch nicht). Gespräche aller Art waren tabu, ebenso jede Art von Ablenkung oder Zerstreuung. Man durfte malen, zeichnen und spazieren gehen, aber nur allein. Als ich begann, stundenlang Gedanken ins Tagebuch zu notieren, wurde mir auch das untersagt und ich durfte nur noch zwei Seiten pro Tag schreiben. Auch sollte ich nicht mehr als acht Stunden schlafen, statt halbe Tage zu verdösen. Ich war auf mich zurückgeworfen, musste mich wirklich auseinandersetzen, konnte nicht ausweichen. Keinerlei Ablenkung, nur Gefühle und Gedanken, keine Chance zur Flucht. Dabei entstand immenser Druck, der sich täglich in den etwa zweistündigen Einzelsitzungen entlud.

Da mein Englisch recht gut war, arbeitete ich in der Intensivphase mit einer sehr erfahrenen amerikanischen Therapeutin. Sie betreute mich liebevoll und verhalf mir immer wieder zu tiefer Selbsterkenntnis. Das war sehr bereichernd, auch wenn der Weg dahin durch viel Schmerz, Wut und Trauer führte. Die Therapieräume waren schummrig beleuchtet und nahezu schalldicht. Wände und Böden hatte man weich gepolstert, damit sich niemand verletzt, und die Raumtemperatur lag über 25 Grad. Es wurde uns empfohlen, nackt oder in Unterwäsche zur Therapie zu erscheinen, weil der Mensch sich auch durch seine Kleidung wappnet, nach außen abgrenzt und versteckt. Bei der Primärtherapie sollen frühkindliche Erfahrungen in einem sicheren Umfeld erneut durchlebt und durchlitten werden, ohne dass Patienten sich schützen oder abgrenzen müssen. Daher wird ein Raum geschaffen, der ein bisschen an das Innere des Mutterleibes erinnert – warm, weich und dunkel. Im Therapieraum ist fast alles erlaubt. Man darf toben, weinen, schreien und vor Wut auf dicke Kissen einprügeln. Es wird gejammert und geflucht, und manchmal klingt es, als würden Kleinkinder plärren. Egal ob Einzel- oder Gruppensitzung, stets wird man von hochsensiblen und sehr erfahrenen Therapeuten unterstützt, die ihre Patienten beim erneuten Durchleben extrem schmerzhafter Kindheitserfahrungen begleiten und sie jederzeit emotional auffangen.

Diese Schilderung und besonders die Vorstellung, nackt in einer Gruppe seinen Schmerz hinauszuschreien, klingt sicherlich seltsam, aber mir hat die Primärtherapie sehr geholfen. Ich konnte mich gut auf die ungewöhnliche Methode einlassen und hatte damals einen immensen Leidensdruck. Innerhalb der ersten drei Wochen, die ich in der Poliklinik wohnte, aber auch in den Monaten danach fanden wichtige Veränderungen statt, äußerlich wie innerlich. Ich war nach kurzer Zeit drei Zentimeter größer, aber nicht, weil ich mit fast 22 Jahren noch gewachsen wäre. Chronische Muskelverspannungen lösten sich und sorgten dafür, dass ich nicht länger gramgebeugt durch die Welt schlich, sondern mich aufrichtete. Eine Mitpatientin, die mich bei meiner Anreise erlebt hatte, machte mir nach zwei Monaten ein sehr schönes Kompliment. „Anfänglich sahst du aus wie ein KZ-Häftling, aber nun blitzen deine Augen und du hast ein schönes Lächeln. Du bist ein ganz anderer Mensch!“ Sie hatte wohl recht, denn auch anderen Menschen fiel meine Veränderung auf.

Ein neuer Mensch und doch der alte

Wichtigste Erfolge der Therapie: Ich konnte wieder weinen und nahm meine Gefühle sehr intensiv wahr. Viele Jungen werden mit Sprüchen wie ‚Indianer kennen keine Tränen’ zu Härte erzogen. Wer Tränen zulässt, wird als Memme und Heulsuse verspottet. Das Resultat sind Männer, die Härte mit Überlegenheit verwechseln und emotional verkümmern. Ich bekam als Neunjähriger von meinem Vater eine Ohrfeige, weil ich ihm nicht erklären konnte, weshalb ich weinte. Schlimmer als der brennende Schmerz in meinem Gesicht war sein Satz „Jetzt hast du einen Grund zum Heulen!“ Mein Vater musste im letzten Kriegsjahr als jugendlicher Flakhelfer Todesängste ertragen. Es verwundert daher kaum, dass er wenig mitfühlend ist, mich oft schlug und zur Härte erzog. Gut getan haben mir seine Methoden nicht.

In der Primärtherapie fand ich glücklicherweise Zugang zu meiner weichen und verletzlichen Seite und lernte auch das Weinen wieder. Mein Lebensmut kehrte zurück und der unerklärliche Selbsthass schwand. Die Sehnsucht nach meiner toten Mutter und das Gefühl, von meiner Mama-Tante verlassen worden zu sein, waren sehr schmerzhaft und anfänglich nur schwer auszuhalten. Als ich erstmals die Worte ‚Ich will geliebt werden’ aussprach, hätte es mich innerlich fast zerrissen. In den neun Monaten, die ich im Allgäu lebte und mich mit Primärtherapie befasste, erlebte ich viel Wut und Trauer. Es war keine leichte Zeit, aber ich erkannte erstmals, dass ich liebenswert bin. Allein diese Erfahrung ist jede Mark wert, die ich damals in seelische Gesundung und Selbsterfahrung investierte.

Mitten im Winter veranstaltete die Poliklinik einen Massage-Workshop. Zusammen mit zwei Dutzend Menschen fand ich mich im großen Saal ein, der gemütlich eingeheizt war. Wolldecken lagen auf dem Boden, Kerzen flackerten und Duftlampen verströmten die angenehmen Aromen von Rose, Lavendel und Sandelholz. Eine junge Frau war engagiert worden, um uns die Grundlagen einfacher Massagetechniken zu erklärte. Die Physiotherapeutin zeigte Griffe und Bewegungen, erläuterte die Grundlagen und forderte uns schließlich auf, selbst aktiv zu werden. Wir fanden uns jeweils paarweise zusammen und zuerst massierte ich einen Mann. Dann, nach etwa einer halben Stunde, wechselten wir und ich legte mich auf die Wolldecke. Etwas unsicher, aber mit behutsamen Bewegungen lockerte er meine Muskeln, knetete und massierte Schultern und Rücken. Es dauerte keine zehn Minuten, bis mich ein Schluchzen schüttelte und die Tränen nur so strömten. Nein, er hatte keine verborgenen Energiezentren oder Akupunktur-Meridiane gereizt, und mir auch nicht weh getan. Im Gegenteil. Zu erleben, dass ein Mensch mich liebevoll berührt und mir nur gut tun will, war einerseits wunderschön, andererseits kaum auszuhalten. Auch durch dieses Erlebnis wurde mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich Nähe, Zärtlichkeit und Geborgenheit im bisherigen Leben vermisst hatte. Mein Vater – nach Mutters Tod schließlich der Mensch, der mir am nächsten stand – tut sich leider bis heute schwer mit Nähe und Weichheit, und auch meine Stiefmutter schmuste kaum mit mir.

Nach Abschluss der dreiwöchigen Intensivphase verließ ich den umgebauten Landgasthof und zog in eine Landkommune nahe Isny. Eine Mitpatientin lebte dort zusammen mit Freunden und lud mich ein. Acht Monate wohnte ich auf dem kleinen Bauerhof, versorgte das Vieh, hackte Holz und schaufelte Schnee, viel Schnee. Nachts schlief ich auf dem Dachboden in einer zugigen Knechtskammer. Später, als die klirrenden Nachtfröste unerträglich wurden, stattete ich sie mit einem Kanonenofen aus. Zwei oder dreimal pro Woche fuhr ich nach Seibranz und nahm dort abends an Gruppensitzungen teil. Allerdings war ich nicht so konsequent, wie es mir gut getan hätte. Der nachlassende Leidensdruck und meine seelische Genesung ließen mich übermütig werden. So trank ich gelegentlich mehr Alkohol als mir gut tat, und begann auch wieder mit dem Kiffen. Der Konsum von Haschisch und Marihuana kann sehr angenehme Zustände erzeugen, Menschen aber auch seelisch destabilisieren und sogar schwere Psychosen auslösen. Bei mir sorgten Joints und Pfeifchen zwar nur für Entspannung und gute Laune, ließen mich jedoch auch die Therapie vernachlässigen. Heute bin ich sicher, dass ich zu früh aus der Primärtherapie ausgestiegen bin, aber damals kam ein Punkt, an dem ich das ewige Jammern, Klagen, Wüten und Weinen satt hatte. Ich wollte endlich unbeschwert leben, voller Lust und Freude, wollte zuversichtlich nach vorn schauen, statt ständig Leidvolles aus der Vergangenheit zu durchleben.

 

Im Mai 1981 verließ ich das Allgäu und radelte mit Zelt und Luftmatratze quer durch die Alpen nach Banyoles in Spanien. Dort nahm ich an einem Pantomime-Workshop teil und verliebte mich in eine junge und sehr schöne Frau. Ironischerweise war sie die einzige von über sechzig Teilnehmerinnen, die aus Bremen stammte, von wo ich ein Jahr zuvor gen Süden aufgebrochen war. Judith hatte sich bereits an einer Bremer Theaterschule beworben und ich folgte ihrem Beispiel, nachdem wir im August aus Katalonien zurückkehrten. Das Resultat der zweitägigen Auswahlprüfungen fiel jedoch anders als erhofft aus. Judith wurde abgewiesen, mich hingegen nahm die Schule auf. Es war wie verhext, denn schon in Banyoles hatte Judith großes Pech. Am ersten Tag des dreiwöchigen Workshops brach sie sich den Fuß und konnte viele Übungen nicht mitmachen, weil ihr Bein bis zum Knie in Gips steckte. Unsere Beziehung währte nicht lange, denn bald nachdem sie vom Theater abgelehnt worden war, ging Judith nach Berlin. Auch sie war übrigens als junges Mädchen sexuell missbraucht worden und hatte daher große Schwierigkeiten, Zärtlichkeiten und intime körperliche Nähe zu ertragen. Das war besonders tragisch, weil wir beide große Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit hatten. Wir verloren uns aus den Augen und ich weiß nicht, ob sie je professionelle Hilfe fand. Damals war sie entschlossen, ihr Leben ohne Psychotherapie zu meistern. Hoffentlich ist es ihr gelungen.

Bis zum Beginn der zweijährigen Theaterausbildung wohnte ich wieder zuhause, denn ich hatte meine erste eigene Wohnung vor Beginn der Primärtherapie gekündigt. Die zweite Ehe meines Vaters lag bereits in Scherben und das Klima im Haus war meist sehr angespannt. Meine Schwester ging auf ein Internat und ich bekam ihr Zimmer, das direkt über dem Elternschlafzimmer lag. Die Trennung von Judith, schwer erträgliche häusliche Spannungen, Müßiggang in den Wochen vor dem Ausbildungsstart und täglicher Cannabiskonsum sorgten dafür, dass ich mein mühsam erreichtes seelisches Gleichgewicht schnell wieder verlor. Wie eine dunkle Wolke schob sich die Depression heran und verdüsterte alles. Ich verbrachte fast jeden Tag allein auf meinem Zimmer, kiffte, sah fern und grübelte. Schließlich kam der Tag der Wahrheit. Ich hatte alles total satt und war meines Lebens wieder so überdrüssig, dass ich am liebsten tot sein wollte. In einem Anfall von Wut und Verzweiflung warf ich meine Stereoanlage gegen die Wand, tobte, schrie und weinte. Mein Vater kam herauf und fragte, was los sei. Ich brüllte ihn an, er solle rausgehen, mich in Ruhe lassen, es hätte sowieso alles keinen Sinn.

Offenbar erlitt ich erneut einen Nervenzusammenbruch, auch wenn ich es damals nicht so genannt hätte. Jedenfalls war mein Vater nach diesem Vorfall derart besorgt, ich könne mir etwas antun, dass er am nächsten Tag die Wahrheit über den Tod meiner Mutter gestand. Viel erzählte er nicht, aber trotzdem war ich wie vor den Kopf geschlagen. Schon so viele Jahre glaubte ich, Mutter sei bei meiner Geburt an Komplikationen gestorben. Daraus hatte ich in kruder Logik einen Vorwurf konstruiert, der mich schwer mit Schuld belastete: Wenn ich nicht zur Welt gekommen wäre, würde sie noch leben. Im Grunde hatte ich sie also auf dem Gewissen und es konsequenterweise nicht verdient, glücklich zu sein und ein erfülltes Leben zu haben. Sicherlich stammen meine Depressionen zum Teil aus dieser Quelle. Sie wurden ausgelöst von der irrationalen Schuldzuweisung eines Kindes, das sich für den Tod seiner Mutter verantwortlich fühlt. Mancher wird jetzt vielleicht sagen, das solche Gedanken blödsinnig sind, aber leider empfand ich trotzdem diese Schuld.

Einerseits war ich dankbar, dass mein Vater endlich die Wahrheit gesagt hatte, andererseits wütend und fassungslos. Wieso hatte er so lange geschwiegen und warum die sinnlose Lüge sogar dann noch aufrecht erhalten, als klar wurde, dass ich seelisch krank war und bereits therapeutische Hilfe in Anspruch nahm? Hätte er nicht spätestens zu Beginn meiner ersten Psychotherapie eingestehen müssen, dass seine Frau sich vergiftet hatte? Nicht alle Lügen haben kurze Beine, manche halten erstaunlich lange durch, werden hartnäckig am Leben erhalten. Bis zum Alter von 23 Jahren glaubte ich, dass meine Mutter noch leben würde, wäre ich bloß nicht geboren worden. Die Lüge hatte sich zum Fluch entwickelt und lag auf mir wie eine unsinnige und erdrückende Bürde, raubte mir die Kraft zum Leben.

Meine Welt schien völlig aus den Angeln gehoben, als wäre eine Bombe geplatzt. Wenige Tage nach dieser Enthüllung fand ich eine kleine Wohnung, nicht weit von der Theaterschule entfernt, und verließ mein Elternhaus mit Sack und Pack. Ein Jahr später wurde der Bungalow samt großem Garten verkauft. Danach gab es kein Zuhause mehr, keinen Ort, an dem wir Geschwister zusammen unter einem Dach gelebt hatten. Die Illusion, Teil einer halbwegs intakten Familie zu sein, war endgültig zerstört. Mein Bruder wohnte nun bei seiner Mutter, unsere Schwester lebte in Bayern, der Vater in Oldenburg – die Familie war zerrissen und im halben Land verstreut.

Schuld ohne Sühne

Von da an verlief mein Leben ziemlich unstet. Ein Jahr verbrachte ich als Schauspielschüler an einem Theater der alternativen Bremer Kunstszene. Vormittags Körperarbeit, Improvisation und Tanz, nachmittags Dramaturgie, Maskenbildnerei, Rhythmik und andere Fächer. Die Ausbildung wurde von einer alten Schwedin geleitet, die selbst in Paris bei Marcel Marceau gelernt hatte: Anfänglich war ich sehr begeistert, tauchte ein in die aufregende Theaterwelt und erkannte meine Vielseitigkeit und Ausdruckskraft. Es tat gut, Anerkennung und Applaus zu bekommen, denn von Zuhause war ich derlei nicht gewohnt. Perfektion war dort das Maß, nach dem gemessen wurde. Es galt das Motto ‚Nicht gemeckert ist genug gelobt’.

Mit der Zeit entdeckte ich den musischen Menschen in mir. Kein Wunder, dass die Monate im Reisebüro voll steifer Zwänge – ewig lächelnd, denn der Kunde ist König, dazu verkleidet mit Schlips und Kragen – mir als Folter erschienen war. In mir steckte offenbar ein halbwegs begabter Schauspieler und außerdem ein Musiker. Parallel zur Theaterarbeit erlernte ich nämlich das Trommeln, und wurde schließlich Sänger und Percussionist einer aufstrebenden Band. Leider litt die Qualität der Theaterausbildung wiederholt unter organisatorischen Mängeln. So kündigte die Dramaturgin nach einigen Monaten ihren Vertrag und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Die Lehrerin für Maskenbildnerei erkannte, dass sie den Herausforderungen ihres Jobs und der quirligen Gruppe nicht gewachsen war, auch sie verließ uns. Nicht zuletzt deshalb beschloss ich, auf das zweite Jahr zu verzichten und die Ausbildung abzubrechen. Die Theaterwelt schien entzaubert, dort tummelten sich vor allem selbstverliebte Menschen mit übergroßen Egos. Neid, Missgunst und Intrigenspiel waren alltäglich, die Chancen auf Erfolg gering. Die Gruppe brach am Schluss des ersten Ausbildungsjahres auseinander und wir beendeten es mit der Aufführung eines Stückes, das wir selbst schrieben und inszenierten. Darin verarbeiteten wir unsere frustrierenden Erfahrungen als verunglückte Busreise, bei der sich der Reiseleiter verdrückt und die gestrandeten Touristen gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen.

Von den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten, wechselte ich in einen muffigen Probenkeller. Die Band Rescue Party bestand aus sechs Musikern, davon drei erfahrene Profis. Als letzter dazugekommen gehörte ich zu den naiv-idealistischen Neulingen, schieb alle Texte, trommelte und sang. Der erste öffentliche Auftritt nach sechs Wochen war nicht berauschend, aber bald standen wir im Rampenlicht von kleinen und größeren Clubs. Wir hatten erstaunlich schnell Erfolg und bekamen schon nach wenigen Monaten das Angebot einer renommierten Plattenfirma, die mit uns eine Maxi-Single aufnehmen wollte. Doch soweit kam es nie, denn die Band zerbrach. Genauer gesagt, ich stieg aus. Hintergrund war ein Streit, bei dem es um Kommerz ging. Wir hatten bereits einige gute Gigs absolviert und dabei sogar vor fünfhundert begeisterten Leuten gespielt, als Karstadt uns ein Angebot machte. 1000 Mark für einen kurzen Auftritt zur Eröffnung der neuen Jugend-Etage, sie trug den Namen Follow-Me. Die Marketingleute hatten sich mächtig ins Zeug gelegt und trieben großen Aufwand. So sollten beispielsweise ferngesteuerte Roboter in der Fußgängerzone herumfahren und mit elektronischer Stimme „Follow me“ krächzen, um die Kids in die neue Etage zu locken. Dort würde dann Rescue Party spielen, eine Stunde für tausend Mark.

Wir drei Newcomer waren gegen den Auftritt. Keinesfalls würden wir uns vor den Karren einer blöden Kaufhauskette spannen lassen, die arglosen Teenagern ans Taschengeld wollte. Die drei altgedienten Profimusiker hatten aber lange genug von der Hand in den Mund gelebt und wollten mit unserer Mucke endlich Geld verdienen. Es kam zum Streit und ich verließ die Band im festen Glauben, man würde mich bald zerknirscht um Rückkehr bitten. Schließlich war ich mittlerweile, neben unserer Sängerin Kim, der Frontmann. Alle Stücke lebten durch meine Texte, ich hielt mich für unersetzbar. Das stellte sich bald als Irrtum heraus. Niemand kroch zu Kreuze, alle blieben stur. Leider auch ich. Und so trat Rescue Party einige Wochen später vor über 1500 Zuhörern in der Bremer Uni-Mensa auf und spielte meine Songs. Man hatte mich durch eine Sängerin und einen Percussionisten ersetzt. Die Band funktionierte zwar, aber die Chemie stimmte nicht mehr, das Feuer fehlte. Wir sechs waren unverwechselbar und das machte den Reiz der Band aus. Ich hatte es gespürt, wusste es genau. Aber was hilft dieses Wissen, wenn man im Publikum statt auf der Bühne steht? Es war kein Trost, dass Rescue Party schon bald vor leeren Hallen auftrat. Zu siebt. Nach einem Jahr löste sich die Band auf, ich hatte Freunde und Illusionen verloren.

Was das alles mit Depressionen und meiner Vorgeschichte zu tun hat? Oberflächlich betrachtet wenig, aber tatsächlich wirkte ein Mechanismus, dessen Ursprung und Macht ich erst viel später erkennen sollte. Es war wie verhext, aber egal was ich anfing – ob beruflich oder privat – es scheiterte schon nach kurzer Zeit. Maximal ein Jahr lang gingen die Dinge gut, aber dann kam zwangsläufig die Wende ins Drama. Vielversprechende Jobs oder neue Liebesbeziehungen, die unter einem glücklichen Stern zu stehen schienen – immer endeten sie mit Enttäuschungen und Tränen.

Meine Bühnenkarriere scheiterte 1983. In den folgenden zehn Jahren schlug ich mich mehr schlecht als recht durch, jobbte und reiste, verbrachte dabei insgesamt zwei Jahre in Neuseeland, Australien und den USA. Manchmal genoss ich das Dasein, es gab aber immer wieder Phasen, in denen ich nicht weiterleben wollte. Meine Gewehre waren ja zum Glück schon verkauft, sonst hätte ich mich vielleicht in einer dunklen und völlig verzweifelten Stunde erschossen. Von Zeit zu Zeit ging ich zu niedergelassenen Psychologen, machte dort ambulante Therapie. Aber ein Gespräch von 50 Minuten pro Woche bringt wenig Erleichterung, wenn die Seele krank ist. Man klebt Pflaster auf eitrige Wunden, ohne sie zu desinfizieren und Splitter rauszuziehen, die tief im Fleisch stecken. Wöchentliche oder sogar nur 14-tägige Sitzungen sind gut, aber sie bieten wenig Halt, wenn man eigentlich sterben will. Letzteres sollten Patienten übrigens besser nicht zu deutlich sagen, sonst werden sie wegen Suizidgefahr in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Eine Zwickmühle, denn wer seinen Zustand beschönigt, findet nur schwer wirkliche Hilfe.

Für meine Liebesbeziehungen wählte ich meist Frauen, die selbst labil waren oder traumatische Erfahrungen durchgemacht hatten. Wir suchten beieinander Halt, fanden aber keinen. Ich wollte mich binden und hatte gleichzeitig eine Heidenangst vor Nähe und Bindung. Mein Leben geriet zur unendlichen Tragödie, denn etwas in mir schien systematisch zu verhindern, dass ich glücklich und erfüllt leben konnte. Unbewusst sabotierte ich mich selbst, wieder und wieder. Das Schlimmste war, dass ich dieses ständige Scheitern offenbar verdient hatte. Jeder Flop, jede Kündigung, jede menschliche Enttäuschung schien schicksalhaft. Alles war Teil der gerechten Strafe als Konsequenz jener Schuld, die ich mit der Geburt auf mich geladen hatte. Schließlich würde meine Mutter – eine herzensgute junge Frau voller Hoffnung und Liebe – noch leben, wäre ich bloß nicht geboren worden.