England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]

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Nach dem Sit-in in Croydon besuchte Malcolm im Herbst 1968 die Goldsmith’s School, um Film und Fotografie zu studieren. Die erste Person, die er dort traf, war Helen Mininberg (später Wallington-Lloyd). Als Kind reicher südafrikanischer Eltern war Helen um einer Ausbildung und des Vergnügens wegen nach London gekommen. Sie war eine Zwergin und als solche eine Außenseiterin. Fasziniert von dem extravaganten Benehmen und der Sprache der (damals noch) verborgenen Schwulen-und Lesbenwelt war sie eine sehr lebhafte, bezaubernde Begleiterin, Liebhaberin und bei einer Gelegenheit auch LSD-Partnerin für Malcolm.

»Es war kurz vor dem Sommersemester in Goldsmith’s«, sagt sie.

»Es waren die Tage von Flower Power, und Malcolm hatte eine Mütze auf und einen Army and Navy-Mantel an, der ihm viel zu groß war, unter dem Arm eine Zeitung zusammengerollt und rauchte Woodbines. Er fragte mich, was ich tun würde, wenn sie mich nicht aufnehmen würden. Ich sagte: ›Ich gehe nach San Francisco und schließe mich den Hippies an. Was würdest du tun?‹ Er sagte: ›Ich würde eine Revolution anzetteln.‹ Ich war so behütet in Südafrika aufgewachsen. Obwohl die Sache mit Mandela angefangen hatte, hörte man einfach nichts über Revolution. Als ich dann in Goldsmith’s anfing, sah ich Malcolm wieder. Wir blieben zusammen. Er war ein Agitator. Es gab Debatten in der Studentengewerkschaft und Malcolm konnte die Dinge in Begriffe fassen, mit denen die anderen etwas anfangen konnten, weil er kein Intellektueller war. Er liebte die Kunst, aber er wollte keine Bilder malen, damit die Leute sie kauften. Er wollte etwas in Gang setzen und ein Kobold sein. Das Jucken in anderer Leute Unterhose.«

Nach einer sechsjährigen Wanderschaft durch die Kunstschulen plagte sich Malcolm noch immer ab. Er und Vivienne trennten sich ständig aus den verschiedensten Gründen: Geldmangel, elterlicher Druck oder einfach aus einer Laune heraus. 1968 war Vivienne kurzfristig in das Haus ihrer Mutter in Harrow zurückgekehrt. Um 1969 herum hatten »Malcolm und Vivienne eine Beziehung, in der sie sich gegenseitig erzogen«, sagt Robin Scott, der für kurze Zeit bei ihnen wohnte. Zu jener Zeit trug Vivienne mit dem Geld, das sie mit den Verkauf ihres Schmucks auf der Portobello Road verdiente, zu Malcolms Stipendium bei: »Sie musste sich ihrer Sache sicher sein«, sagt Scott, »weil sie die ganze verdammte Arbeit zu Hause machte. Sie wusste, dass sie alles zusammenhielt und dass alles auseinanderfiele, wenn sie aussteigen würde. Außerdem kümmerte sie sich um die Kinder: sie hatte alles am Hals.«

»Die Künstler, die Punk geschaffen haben«, sagt der Drehbuchautor Johnny Gems, »waren Malcolm und Vivienne, und sie haben ihn auf diese 60er Jahre Kunstschul-Weise geschaffen. Die ganze Revolution, Anti-Materialismus, Yippie, Pro-Minoritäten.« »Vivienne wusste wenig darüber, dass sich Malcolm nicht für die Revolution engagierte«, meint Robin Scott, »er engagierte sich für sich selbst, und sie hat lange gebraucht, um das zu erkennen.«

Im Sommer 1969 hatte sich Malcolm in eine Position manövriert, in der er Ärger verursachen konnte. In der Woche vor dem riesigen Rolling Stones Konzert im Hyde Park redete Malcolm so lange von einem kostenlosen Festival in den Goldsmith-Gebäuden, bis es stattfand. Robin Scott, der zu jener Zeit mit einer Gruppe arbeitete, die Mighty Baby hieß, und Fred Vermorel, der einen Vortrag mit dem Titel »Alles an einem Arbeitstag« halten sollte, standen auf dem Programm. Am letzten Tag sollte eine Diskussion mit »R.D. Laing, William Burroughs, Alex Trocchi, Michael X, Jim Dine, Hausbesetzern, radikalen Studenten und Arbeitern stattfinden.« Andere, die noch nicht zugesagt hatten, waren »Pink Floyd, das Living Theatre, die Rolling Stones und John Lennon«.

Keiner von ihnen kam, auch nicht die weniger bekannten Leute auf dem Programm. Fred Vermorel erinnert sich an das Festival als ein legendäres Desaster: »Kaum eine der Bands, die angekündigt waren, erschien, und in dem daraus entstehenden Chaos wurde die Polizei gerufen und ein Mini-Aufstand entwickelte sich.« Malcolm jedoch erinnert sich daran wie an einen großen Erfolg, sein Vorgeschmack auf das Showbiz. Er lernte einen altmodischen karnevalartigen Hype zu schätzen: Welche Rolle spielt schon die Wirklichkeit, wenn man Eindruck schinden kann? Die darauffolgenden Ereignisse machten deutlich, dass eine Katastrophe ebenso interessant sein konnte wie Erfolg.

Malcolms wichtigstes Projekt in Goldsmith war der »Oxford Street Film«, an dem er mit Helen Mininberg und Patrick Casey arbeitete. Er hatte sich gerade mal wieder von Vivienne getrennt, heiratete 1969 eine türkisch-französische Jüdin, Jocelyn Hakim: »Sie brauchte eine Aufenthaltsgenehmigung«, sagte er, »wir heirateten im Standesamt von Lewisham. Wir hatten keine Ringe, also musste ich rausrennen und welche aus einem Kaugummiautomaten besorgen.« Mit den 50 Pfund für die Hochzeit wurde der Oxford Street Film begonnen, zog sich dann aber wegen Geldmangels und dem Fehlen einer klaren Idee über achtzehn Monate ziellos dahin, bevor er unabgeschlossen liegenblieb. Außer ein paar Negativrollen ist vom Film nichts mehr erhalten, dennoch wird anhand der Liste der Einstellungen und des Drehbuchs eines deutlich: Wenn es eine Arbeit aus Malcolms sprunghafter Kunstschullaufbahn gibt, die man als Vorläufer der Sex Pistols bezeichnen könnte, dann wäre es dieser Film. In einer der vielen Synopsen für den Film bemerkt ein alter Mann: »Ich würde heute nicht geboren werden wollen, alles ist so teuer, alles so trist. Die Kinder haben keine Zukunft.«

Der Film über die Oxford Street begann als ein Stück pro-situationistischer Psychogeographie auf der Hauptverkehrsstraße des Konsums, die noch immer als lebendiges Beispiel für alles, was an der Zivilisation falsch ist, betrachtet werden kann. Konsum und seine neuen Tempel, die Kaufhäuser, waren damals faszinierende Objekte einer chiliastischen Linken. Beispielsweise begrüßte die deutsche Kommune 1 auf einem Flugblatt in sarkastischer Weise den Brand im Brüsseler Kaufhaus »A L’innovation« am 22. Mai 1967, Black Mask und King Mob veranstalteten verschiedene Aufruhraktionen, und 1968 legten Baader und Ensslin Brandbomben in zwei Frankfurter Warenhäusern.

Die Fotos, die Malcolm und Helen als Leitfaden für die 16mm Gesamtlänge aufnahmen, stellten eine Art Manifest dar: eine unmenschliche Landschaft, voller geheimer Zeichen. Hier überreden die Kaufhausangestellten die Kunden, wie Mannequins auszusehen; der leere öffentliche Raum wird beherrscht von zerstörerischem Verkehr; Passanten werden von einer vergrößerten Pistole auf einem Kinoplakat bedroht; bestrumpfte Mannequinbeine repräsentieren eine sterile Sexualität; überall stehen monolithische Bürohochhäuser.

Die Filmemacher interessierten sich auch für die Flüchtigkeit der Oxford Street: die Taschenspielertricks, mit denen Kunden geblendet werden. Ein Treatment vom Mai 1970, an dem Malcolm und Jamie Reid arbeiteten, konzentriert sich auf die Entfremdung durch die Mode: Der Film beginnt in den Innenräumen von Mr Freedom, mit einem TV-Bildschirm, auf dem die Bedeutung weiblicher Mode in der Gesellschaft und als Geschäft herausposaunt werden. Frustration und Klaustrophobie bauen sich auf, in den Geschäften und in der U-Bahn. Vor einem Fenster mit der Aufschrift HOLIDAYS wird ein junger Mann bis zur Bewusstlosigkeit zusammengetreten. Der Film endet mit einer großartigen Parade der Londoner Kaufhäuser. Mitten in diesem Spektakel ist eine Szene aus der situationistischen Dämonologie zu sehen: »Man sieht Rauch aus einem Gebäude aufsteigen, ein Restaurant brennt. Die Prozession hält an.«

Ein letztes Drehbuch vom Mai 1971 verfolgt einen anderen Kurs. Dieses Mal gibt es einen Star – eine echte Attraktion, die aus dem Film keine Revolte, sondern eine Hommage macht. Zur alten Struktur kommt überall Pop hinzu: Die Vorsitzende des Billy-Fury-Fanclubs spricht über ihr Idol, während ein Kiosk auf der Oxford Street »den Glanz der Reklametafeln zur Schau stellt.« Der Kommentar wird von einem Neunjährigen mit quietschender Stimme gesprochen. Im Delphinarium auf der Oxford Street »vollführen Delphine dumme Kunststücke«. Presseausschnitte stellen kommerzielle Reklame willkürlicher Gewalt gegenüber.

In einem letzten verzweifelten Brief an seinen Tutor hofft Malcolm auf die Finanzierung durch Larry Parnes, den Manager von Billy Fury. Irgendwann im Juni 1971 war die Sache ad acta gelegt. Es war Zeit für ein Leben außerhalb des Elfenbeinturms. Innerhalb von sechs Monaten wechselte Malcolm Identität und Betätigungsfeld: Er nahm den Namen seines verschwundenen Vaters an und war nun Malcolm McLaren, Rock’n’Roll-Couturier, Modeschöpfer und Händler. Die Warnungen der Angry Brigade ignorierend, die in ihrem Communique zum Anschlag auf Biba 1971 erklärte, dass »die Mode im Kapitalismus nur ein rückwärtsgewandtes Element sein kann«, begann McLaren »authentische« 50er-Jahre-Mode an eine kleine, aber wählerische Kundschaft zu verkaufen. Warum dieser Wandel?

Spätestens im Sommer 1971 war aktive situationistische Politik gefährlich geworden: Der Mitgliedschaft in der Angry Brigade verdächtigte Personen wurden von Detective Inspector Roy Habershon verhaftet, der eine zerfledderte Ausgabe von Die Gesellschaft des Spektakels als Handbuch benutzte. Der Prozess war eine langwierige Angelegenheit. Von der Verhaftung bis zur Verurteilung im Dezember 1972 vergingen mehr als 18 Monate. Während dieser Zeit wurde die Boulevardpresse ständig mit Berichten und eindrucksvollen Fotos eines inneren Feindes versorgt, der ausgemerzt werden musste.

Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg war im Juli 1966, als eine sechsmonatige Lohnsperre erlassen und das Pfund abgewertet wurde, zum Stillstand gekommen. Es begann der lange Niedergang: 1972 lag die Inflation bei 13 Prozent, und im Januar diesen Jahres überstiegen die Arbeitslosenzahlen zum ersten Mal seit den 30er Jahren die Millionengrenze. Die politische Stimmung spiegelte dies wieder. Im Juni 1970 wurde zum ersten Mal seit sechs Jahren eine konservative Regierung unter Ted Heath gewählt: Sein Markenzeichen war ein neuer, harter »Realismus«, was sich schon auf dem Parteitag der Tories im Januar 1970 im Selsdon Park Hotel angedeutet hatte. Wie Hugo Young in seiner Biographie über Margaret Thatcher bemerkt: »Der Selsdon-Mann wurde durch die Labour-Rhetorik lebendig: ein haariges, urzeitliches Tier, das damit droht, alle Errungenschaften, die der Sozialismus in der britischen Gesellschaft nach dem Krieg hervorgebracht hatte, bei lebendigem Leibe zu verschlingen.«

 

Die ersten Risse im Nachkriegskonsens wurden sichtbar, der sowohl von Labour als auch den Konservativen kräftig gefördert worden war. Das Pendel entfernte sich von der sozialen Liberalisierung, die seit den frühen 60er Jahren den Ton angegeben hatte. Nirgends wurde das deutlicher als im Begriff der »tabufreien Gesellschaft«, den Mrs Whitehouse für die 60er Jahre geprägt hatte.

Von 1970 an gab es eine Flucht aus der Untergrundgemeinde. Viele neue Ideen, die dort entstanden waren, wurden institutionalisiert. Hausbesetzer wurden Hausbesitzer; lokale Aktivisten wurden Leiter von Abenteuerspielplätzen; Utopisten traten in die Labour Party ein. Viele schlossen sich autoritären, östlich-religiösen Bewegungen an, was merkwürdigerweise mit dem Aufschwung des christlichen Fundamentalismus korrelierte.

Im Umkreis McLarens gingen die Gefährten ihre eigenen Wege: Fred Vermorel setzte seine Ausbildung fort, und Robin Scott komponierte Radiojingles für BBC2. Helen Mininberg heiratete einen schwulen Mann. Jamie Reid, der von den Ereignissen 1968 vielleicht am meisten beeinflusst war, kehrte nach Thornton Heath zurück. Zusammen mit Nigel Edwards und Jeremy Brook gründete er 1970 eine Druckerei, die Suburban Press.

Malcolm orientierte sich an Larry Parnes, dem außergewöhnlichsten und extravagantesten aller Rock’n’Roll-Agenten. Und obwohl er es nicht wusste, gelangte McLaren mit seinen Recherchen für den gescheiterten Film über die Oxford Street in den Besitz der Blaupause für sein ideales Produkt. Auf der Oxford Street befanden sich die ersten Büros der Sex Pistols, in einer vergessenen, inzwischen abgerissenen Mietskaserne. Für den Film nahm er auch das Gebäude von EMI Records im Frühjahr 1970 auf. Und nicht minder prophetisch war das Manifest, das er für den Film geschrieben hatte: »Sei kindisch. Sei unverantwortlich. Sei respektlos. Sei alles, was diese Gesellschaft hasst.«


Malcolm McLaren vor der Nummer 430, März 1972 (© Dailey Mirror)

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Im November 1971 übernahmen McLaren, Westwood und Patrick Casey Nummer 430. Auf Fotos in dieser Zeit trägt McLaren orthodoxe Ted-Kleidung: ein taubenblaues Jackett mit schwarzem Samtbesatz, eine goldene Weste und eine Slim-Jim-Krawatte, schwarzes Hemd, schwarze Röhrenhosen, schwarze Schuhe mit Kreppgummisohlen, schwarz-blau gestreifte Nylonsocken. Passend zu ihren gebleichten kurzgeschorenen Haaren trug Vivienne einen grellen kanarienfarbenen Mohair-Pullover, schwarze Stretchhosen und Stiefeletten mit hohen Absätzen.

McLaren, stets ein Chamäleon, probierte viele Posen aus, die zu seiner neuen Situation passten. Auf einigen Fotos spielt er den stolzen jüdischen Kaufmann – führt das rosa Futter seines blauen Tuchjacketts und besonders extravagante Cowboy-Stiefel vor. Auf anderen ist er der Kultbegeisterte, umklammert die LP »Buddy Holly Story« oder steht vor einem Schrein für die Rock’n’Roll-Helden der Gegenwart und Vergangenheit. Er hat bereits das Gebaren der wütenden, proletarischen Nervensäge entwickelt, das sein berüchtigter späterer Schützling verkörperte. »Der sieht genauso aus wie ich!« platzt John Lydon heraus, als er 1988 die Bilder sieht.

Es waren kaum Renovierungsarbeiten nötig. Die Wellblechfassade der Paradise Garage wurde schwarz gesprüht und die Worte »Let It Rock« mit rosafarbenem fluoreszierenden Papier hervorgehoben und wie Musiknoten gestaltet. An auffälliger Stelle hing ein Reklamezettel für Screaming Lord Sutch, ein früher Schutzpatron. Als einer der ersten britischen Rock’n’Roll-Sänger war Sutch, bevor er im Wahlkampf aktiv wurde, ein außergewöhnlicher, spektakulärer Showkünstler, völlig unbekümmert, was seinen Mangel an jeglichem herkömmlichen musikalischen Talent betraf.

Der hintere Bereich im Laden wurde schwarz gestrichen. Die von Vivienne angefertigten Hosen und Jacken von einem Schneider aus dem East-End namens Sid Green hingen auf einem antiken Ständer: eine Mischung aus gebrauchten Stücken und Imitationen. Die vordere Hälfte des Ladens war der Bereich zum Rumhängen. Dieser wurde von einer Odeon-Tapete beherrscht und einem merkwürdigen Trompe-L’oeil-Fenster, unter dem eine mit rosa Taft verkleidete original 50er-Jahre-Vitrine stand, in der Plastik-Ohrringe, Pomade und Anhänger ausgestellt waren. Obendrauf stand ein Bild von Sutch, sein Haar wie durch einen Elektroschock wild zerzaust. Von der Wand grinste Billy Fury aus einem grellen Glasrahmen. Zwischen den Einrichtungsgegenständen – »genau wie ein Wohnzimmer in Brixton in den 50er Jahren« – lagen Stapel von Zeitschriften, und man konnte sich setzen und lesen: Mad-Kopien wie Sick, Kinomagazine wie Photoplay oder die aufdringlichen Spick, Span und Carnival. McLarens Vorstellung (die Vivienne nicht ganz teilte) war, aus dem Laden mehr als nur eine Verkaufsstelle zu machen. »An guten Tagen«, stand im ersten Artikel über Let It Rock, »kauft Malcolm, wie er sagt, manchmal Kuchen und Cola, die er seinen Kunden schenkt. Da er glaubt, dass ›Kapitalismus stinkt‹, hat er Zweifel, ob er überhaupt einen Laden führen sollte.«

McLaren und Westwood befanden sich rasch in einer widersprüchlichen, aber angenehmen Situation: Noch immer auf der Suche nach einer revolutionären Metapher oder Subkultur, fanden sie sich plötzlich in der Mode wieder. Nach zwei Monaten erschienen ausführliche Artikel über den Laden im Evening Standard, im Daily Mirror und im Rolling Stone. »Es gab keinen Zweifel«, schrieb Bevis Hiller in Austerity Binge, »dass 1972 ein Revival der fünfziger Jahre ansteht.«

Rock’n’Roll war auf den britischen Inseln gelandet wie ein Raumschiff vom Mars. Die afro-amerikanische Musik oder Subkultur hatte niemanden auf die Brutalität und die reine, sexuelle Explosivkraft der Platten vorbereiten können, die zwischen 1954 und 1959 importiert wurden. Diese Platten veränderten alles, so dass niemand in der Lage war, eine Sprache zu ihrer Erklärung zu finden, außer mit den Songzeilen selbst: »A Wop Bop a Loo Bop«, »Be Bop a Lula«. Aus diesen außerirdischen Gesängen erwuchs die Leidenschaft, mit der die Briten bis heute Pop verherrlichen.

1948 wollten 60 Prozent der Engländer unter 30 auswandern. Mitte der 50er Jahre transportierte der Rock’n’Roll, verschlüsselt in einer geheimnisvollen Sprache, das Versprechen einer neuen Welt: eine Welt, in der kein Militärdienst absolviert werden und man keine Geschichten über den Krieg anhören musste, Sex frei konsumierbar war, man sich herumtreiben und ein wildes Leben führen konnte. Vor allem aber wollten Teenager so viel wie möglich, so bald wie möglich, und diese Intensität des ersten Mals – verkörpert im Rock’n’Roll – ist das Kennzeichen des Teenager-Traums.

»Die Amerikaner hatten Rock’n’Roll direkt vor der Nase und sie sahen das als selbstverständlich an«, sagt Ted Carroll, ein massiger Dubliner mit schütterem Haar, der als einer der ersten in England die Pop-Geschichte verkaufte, »wohingegen es für uns hier sehr schwierig war, diese Musik zu hören – 1957, 1958 wurde bei der BBC überhaupt kein Rock’n’Roll gespielt. Man musste Luxembourg oder den amerikanischen Militärsender (American Forces Network) einstellen, um Rock’n’Roll zu hören. Es war beinahe so, als gäbe es eine Verschwörung, um einen davon fernzuhalten, und das trug zu seinem Mystizismus bei.«

Die Wirkung von Rock’n’Roll beim ersten Hören war so stark, dass viele Briten von der Idee besessen waren, den damit verbundenen Ausbruch immer wieder erneut zu erleben oder wenigstens zu simulieren. Da sie keine einheimische Tradition hatten, mussten die Gläubigen ihre Religion aus vorgefundenen Formen fertigen, aus Kultobjekten wie dem »brothel creeper«-Kreppsohlenschuh oder Stars wie Little Richard oder Buddy Holly.

»Hier ist er nie gestorben«, sagt Ted Carroll. »Als der britische Beat-Boom verweichlicht wurde, hat das eine Menge Leute abgeschreckt, und sie haben sich während der 60er Jahre einfach weiter an den Rock’n’Roll gehalten.« Als die große Welle der Jugendkultur den Bach runterging, blieben den Teds Rituale: Bestimmte Objekte – eine Single auf dem schwarz/silbernen London-Label, oder ein samtbesetztes Jackett – erhielten überdimensionale Bedeutung. Konsum war die Art und Weise, wie sich die Briten der Jugendkultur näherten, die sich ursprünglich außerhalb ihres Horizonts abgespielt hatte. Und mit dieser Vergötterung des Gegenstands wurde der Laden zum Tempel.

Wie McLaren und Westwood hatte auch Carroll eine Lücke in der kommerziellen Infrastruktur entdeckt. »Als ich 1970 nach Amerika fuhr«, erzählt er, »entdeckte ich Oldies-Shops, die sich auf 50er und 60er Jahre-Platten spezialisiert hatten, und viele dieser Platten wurden noch gepresst. Viele der Majors hatten tatsächlich eine Menge Hits in den Katalogen gelassen. Es war außerdem die Zeit der Trödelläden, wo man für ungefähr zehn Schilling eine Langspielplatte und für einen Schilling eine Single bekommen konnte. 1972 hatte ich einen Bestand zusammengetragen und begann, Platten aus Amerika einzuführen. Ich suchte nach einem Standort für den Einzelverkauf. Weil ich mir die laufenden Ladenkosten nicht leisten konnte, suchte und fand ich die ideale Lösung auf einem Wochenmarkt.«

Rock On in der Goldborne Road 93 zog rasch eine eingeschworene Anhängerschaft an. Dort hinzugehen, war an sich schon ein religiöser Akt. Die Golborne Road lag am falschen Ende der Portobello Road, zehn Jahre vor der urbanen Erneuerung; Rock On befand sich ganz am Ende einer langen, tiefen Ladenfläche, abgeschirmt von mehreren obskuren Trödelständen und einem stinkenden Café. Drinnen konnte man nicht nur kaufen, sondern auch eine Ausbildung absolvieren, indem man die Platten anhörte, die man unmöglich irgendwo anders hätte finden können: Doo Wop Singles, Deep Southern Rockabilly, New Orleans. Wie Charlie Gillett, dessen Honky Tonk Radioprogramm im März 1972 gestartet wurde, hatte Carroll nicht nur Dienstleistung, sondern auch Geschmack zu bieten. »Statt in einen Secondhandladen zu gehen und tausende von Singles durchzuwühlen, um vielleicht zwei oder drei zu finden, mochten viele Leute die Idee, alles gesammelt und in Sparten sortiert vorgesetzt zu bekommen.«

Carrolls und McLarens Wege kreuzten sich zwangsläufig, da Carroll dem Laden in der Nummer 430 Platten zur Verfügung stellte. Wegen der dominierenden Stellung zog Let It Rock echte Arbeiterklasse-Teds an, die fanatisch ihren Lebensstil verfolgten, und ein paar blasierte Chelsea-Typen und verdrossene Teenager. Es gab einige Katastrophen, aber der Laden brachte Geld. Ermutigt beschlossen McLaren und Westwood zu expandieren: Im August 1972 stand ein großes Rock’n’Roll-Festival im Wembley Stadion bevor, und Malcolm ließ Hunderte von T-Shirts nach eigenem Entwurf drucken – Little Richard mit dem Slogan »Vive le Rock«.

Zu diesem Festival kamen 50.000 Leute, um Chuck Berry, Bill Haley, Screaming Lord Sutch und Billy Fury zu hören. Gekleidet in eine Leopardenfellmütze und einen Drape Suit mietete McLaren dort einen Stand, aber der Verkauf entsprach nicht seinen Erwartungen:

»Das einzige, was sich bei solchen Veranstaltungen verkauft, sind Hotdogs«, sagt Ted Carroll, der von McLaren 20 Pfund bekam, um auf den Stand aufzupassen. »Er hatte gerade so seine Kosten gedeckt und stand mit 500 oder mehr T-Shirts da.«

Abgesehen von der persönlichen Enttäuschung für McLaren, verschärften die Ereignisse auf dem Festival die Widersprüche des Rock’n’Roll-Revivals. Während einige, die sich von der ursprünglichen Energie des Rock’n’Roll angezogen fühlten, an der libertären Kultur der 60er teilgenommen hatten, bewahrten andere einen unerschütterlichen Konservatismus. Als ein stark geschminkter Little Richard eine Bemerkungen über Black Power machte und begann, sich auf äußerst tuntenhafte Weise auszuziehen, buhten ihn die Teds aus. Den einzigen neuen Acts auf dem Programm, Gary Glitter und MC5, wurde kaum der Luxus gestattet, eine eigene Haltung an den Tag zu legen.

 

Aufgrund dieser Konstellation stand McLaren den Post-Hippies MC5 näher als dem verbissenen Traditionalismus der Teds. In Wembley machte sich die Wirklichkeit hinter der revolutionären Metapher bemerkbar. Weit davon entfernt, die proletarische Vorhut zu sein, offenbarten sich ihm seine Kunden im Gespräch als langweilig und engstirnig. Das Rock’n’Roll-Revival war eine nützliche Auseinandersetzung gewesen, um den Schutt der Hippiekultur beiseite zu räumen, aber sowohl Malcolm als auch Vivienne mussten einsehen, dass der Rock’n’Roll-Kult noch verknöcherter war als die dekadente King’s Road-Kultur, die sie stören wollten.

Innerhalb der Religion, die Pop darstellt, waren die Teds die Fundamentalisten. Viele der Kunden von 430 waren Apologeten genau jener Gesellschaft, die McLaren und Westwood verabscheuten. Sie waren keine Randfiguren, sondern gemäßigt und extravagante Beispiele eines tief verankerten englischen Konservatismus. Von ihrem Aufzug einmal abgesehen erwiesen sich die Teds als normale Angehörige der Arbeiterklasse: Durch Gruppenzwang zu einer gewaltsamen Abneigung gegenüber allen getrieben, die anders waren. Im Gegensatz dazu lag McLaren und Westwood an der Idee von Minderheiten. Die Teds waren so englisch wie Fleischpastete und Rassismus: McLaren und Westwood ernährten sich vegetarisch und boykottierten südafrikanische Orangen.

»Malcolm war sehr enttäuscht«, sagt Ted Carroll, »aber durch den Umgang mit ihnen kam er auf Ideen. Weil es in Zusammenhang mit dem Teddy Boy-Ding viel Presse über den Laden gab, entwickelte er selber Vorstellungen darüber, wie die Presse und die Gesellschaft so etwas betrachten sollten. Er war ein heller Junge: Er lernte schnell. Zu jener Zeit erwähnte ich beiläufig, dass ich Thin Lizzy managte, und er fand das sehr spannend. Es war kein großes Ding für mich, weil die Band damals noch keinen Hit hatte, aber er wollte alles wissen.«

Jede Veränderung in 430 war ein allmählicher, ungeplanter Prozess. Im Spätsommer 1972 erhielt Let It Rock den Auftrag, die Ausstattungen für Ray Connollys »That’ll be the Day« bereitzustellen, dem ersten größeren britischen Film, der auf die 50er Jahre zurückblickte. David Essex und Ringo Starr trugen öffentlich Drapes und Leopardenfelljacken von Let It Rock. Als der Film in die Kinos kam, konkurrierte er mit anderen nostalgischen Rock’n’Roll-Stücken wie »Let the Good Times Roll«, der Bühnenversion von Grease, und dem Einflussreichen Film »American Graffiti«.

Langsam entwickelte sich die Kleidung weg von dem starren Ted-Konzept. Im Herbst schlich sich ein starkes Biker-Element ein. Seit den späten 50er Jahren war die schwarze Lederjacke des Motorradfahrers zum Erkennungszeichen für den jugendlichen Straftäter geworden: angsteinflößend, aber faszinierend. Biker – oder »ton-up boys« – waren in den späten 50er Jahren in Großbritannien Kult geworden: Sie waren die ersten, die nicht nur eine neue Mobilität feierten, sondern auch den Reiz reiner, zerstörerischer Geschwindigkeit, die mit dem Tod von James Dean Eingang in die Jugendkultur gefunden hatte. Bei Rennen rund um die North Circular Road bekämpfte man nicht nur den anderen Fahrer, sondern sich selbst. Wie es sich für existentialistische Gladiatoren gehörte, war ihre Kleidung sehr aufregend, teilweise sogar fetischistisch. Wie in dem Film »The Leather Boys« von 1964 deutlich wurde, diente sie auch als Maske für sexuelle Ambiguität.

Seit 1972 wurde der gepflegte Look der frühen Biker mit dem verwahrlosten Stil der Hell’s Angels gekreuzt. Biker, die jetzt Rocker hießen, wurden zum Inbegriff des schlechten Stils, seit sie sich mit den Mods in allen möglichen Seebadeorten offene Schlachten geliefert hatten. Dieser verfemte Stil wirkte auf McLaren und Westwood mit ihrer feinen Wahrnehmung subkultureller Veränderungen sehr attraktiv. Mehr als bei den Teds besaßen diese Klamotten selbst ein dramatisches Potential, das sich steigern ließ. Die Biker-Ausstattung verbindet Sexualität mit Gewalt und Tod zu einem Urbild des 20. Jahrhunderts.

McLaren und Westwood versahen zunächst Lederjacken auf dem Rücken mit Nieten. Dann beschäftigten sie sich mit Kleidungstechnologie und fanden eine Methode, um Glitzer auf Stoff zu drucken. Wenn man einen bestimmten Kleber benutzte, konnte man Slogans auf T-Shirts brennen: Sie nahmen das Logo vom Schlagzeug von Gene Vincents Blue Caps und übertrugen es auf enge, ärmellose T-Shirts. T-Shirts funkelten in blauem Glitzer, Namen wie Elvis, Eddie und Chuck Berry wurden hervorgehoben. »Dann hatten wir die Idee, Nieten auf T-Shirts zu befestigen«, sagt McLaren. »Wir wurden einfallsreicher und begannen, Namen bestimmter Marken von 50er Jahre-Motorrädern mit Nieten zu schreiben, Namen, die wie ›Triumph‹ und ›Dominator‹ auch sexuelle Konnotationen hatten.«

»Wir bekamen es mit einem Haufen Rocker zu tun: Einige davon waren wirklich gut darin, selbst Sachen für Kunden herzustellen. Ein Junge, den wir anstellten war brillant: er malte einen Slogan, der lautete: ›Too Fast to live, too Young to Die‹. Ein außergewöhnlicher Satz. Er sagte, es sei ein Slogan, den amerikanische Gangs nach dem Tod von James Dean als Hymne aufgegriffen hatten. Im Frühjahr 1973 entschieden wir uns, den Namen des Laden zu ändern. Für die Fassade ließen wir eine schwarze Reklametafel anfertigen, auf der ein weißer Totenschädel und die Worte ›Too fast to live‹ und ›Too young to die‹ aufgemalt waren.«

McLaren und Westwood gingen weiter rückwärts in die Zukunft. So weit sie bei den Musikern, die in den Laden kamen – Jimmy Page, Marianne Faithfull, den Kinks – sehen konnten, gab es wenig wirklich originär Neues in der Popkultur, das in derselben nostalgischen Mine schürfte wie sie. Wenn es Vorboten eines neuen Zeitalters gab, oder sogar Musiker, die auf die ursprüngliche Intensität zurückgriffen, dann haben weder McLaren noch die Kultur im weiteren Sinne dies bemerkt. Als Iggy Pop und James Williamson mitten während der Aufnahmen von »Raw Power« 430 besuchten, verachtete McLaren sie als schmuddelige Hippies.

Die Kleidung ging bis in die 40er Jahre zurück und landete allmählich bei der Zoot-Suit-Mode, die das Paar für die Wurzel des Rock’n’Roll-Stils hielt. »Die Oberfläche des Teddy Boys steckte voller Rassismus, deshalb sind wir bis zu den schwarzen Wurzeln zurückgegangen. Wir schneiderten großzügig geschnittene Hosen, gepolsterte Schultern und zweireihige Jacketts, aber wir taten es mit Gespür. Es war beinahe authentischer als authentisch«, erklärt Vivienne.

In den frühen 40er Jahren war der Zoot Suit als Markenzeichen einer Minderheit zu Berühmtheit gelangt.


Kleidung aus Too Fast To Live,Too Young, To Die, in »Mahlers«, 1974 (mit freundlicher Genehmigung des Cinema Bookshops)

Er gehörte zu den wunderbar übertriebenen Insignien von Schwarzen und ganz besonders der rasch wachsenden Anzahl von mexikanischen Einwanderern, die es wegen der expandierenden Kriegswirtschaft nach Südkalifornien verschlug. Wie Stuart Cosgrove in Zoot Suits and Style Warfare erklärt, bezeichnet der Zoot Suit die widersprüchlichen Erfahrungen der Einwanderer: ein Stil der Unterklasse, der bis zur Absurdität getrieben wurde.

Zooters waren eine Erweiterung von Rhett Butlers Western-Anzug: an den Schultern, in der Taille, besonders unten am Saum. Dasselbe galt für die Hosen, die sich wie ein Segel an den Knien aufbauschten und unten am Aufschlag auf fast nichts verengten. Diese Anzüge gab es meist in wilden Eiskremfarben wie Gelb und Limonengrün und wurden ergänzt durch Accessoires wie lange Ketten, spitze Schuhe und langes »entkraustes« Haar.